Hermann Giesecke

Didaktik der Politischen Bildung

München: Juventa-Verlag 1965

Einleitung

© Hermann Giesecke

Inhaltsverzeichnis

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Zu dieser Edition:
Dieses Buch geht auf einen Teil meiner (ungedruckten) Kieler Dissertation "Die Tagung als Stätte politischer Jugendbildung" zurück, der für den Druck seinerzeit erheblich überarbeitet wurde. Es basiert auf praktischen Erfahrungen in der außerschulischen politischen Jugendbildungsarbeit, die ich unter dem Titel "Politische Bildung in der Jugendarbeit" 1966 veröffentlicht habe.
Weggelassen wurden zwei vorangestellte Motti und das Vorwort. Über den damaligen politisch-pädagogischen Hintergrund finden sich nähere Angaben in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen.
Das  Literaturverzeichnis befindet sich auf dem Stand des Erscheinungsjahres 1965.
Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurde das Original jedoch nicht verändert.  Um die Zitierfähigkeit zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.
Die hier wiedergegebene Erstfassung wurde in der 3. Aufl. 1968 durch  den Abdruck  kritischer Einwände und eine Replik darauf erweitert. Mit der 7. Aufl. 1972 ("Neue Ausgabe")  wurde der Text grundlegend umgearbeitet; diese Neufassung wurde  mit der 10. Auflage 1976 um einen Nachtrag ergänzt, der die Diskussion des Themas seit 1972 aufzugreifen versucht.

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© Hermann Giesecke

EINLEITUNG

Immer noch ist die nach dem Kriegsende begonnene und nun schon fast 20 Jahre anhaltende Diskussion um die politische Bildung und Erziehung nicht zur Ruhe gekommen. Auf den ersten Blick scheint es zwar so, als ob die theoretischen Grundlagen geklärt seien, die Stoffpläne der Kultusministerien allgemeinen Beifall fänden und zahllose Lehrer aller Schularten mit zahllosen veröffentlichten Unterrichtsbeispielen nur noch nach der rechten Methode suchten. Aber dieser Eindruck trügt. Sobald eine wichtige Entscheidung gefällt wird, wie im Falle der "Saarbrücker Rahmenvereinbarung" der Kultusminister von 1960, ist die Diskussion wieder in vollem Gange, und alle grundsätzlichen und praktischen Kontroversen melden sich wieder zu Wort, als ob das Thema nicht schon 20, sondern erst drei oder fünf Jahre alt sei. In der Tat kann man nicht sagen, daß die Probleme der politischen Bildung bereits geklärt sind, sondern nur, daß der pädagogische Betrieb eben weitergegangen ist.

Die Diskussion ist nach 1945 in sehr interessanten Wellen verlaufen. In den ersten Jahren war man gelähmt von den furchtbaren Informationen über die Untaten des Dritten Reiches. Die moralische Selbstbesinnung ließ noch keinen Raum für große theoretische Entwürfe über die künftige politische Bildung und Erziehung. Diese Jahre der Besinnung schlugen sich zu einem ersten Entwurf nieder in dem "Partnerschaftsbuch" von Friedrich Oetinger (104), das erstmals 1951 erschienen ist. Es lieferte eine radikale Abrechnung mit der überlieferten deutschen Bil-

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dungsideologie, die nicht zuletzt für die Fehler der Vergangenheit verantwortlich gemacht wurde. Es rief von Anfang an die Vertreter der traditionellen Pädagogik in Deutschland auf den Plan. Dabei erregte es weniger Ärgernis durch seine positiven, um den Begriff der "Partnerschaft" gerankten Vorschläge, als wegen der unumwundenen Feststellung, innerhalb der deutschen Bildungstradition könne aus der politischen Erziehung nichts werden. Den Angriff eröffnete damals Erich Weniger (143). Oetingers Position wurde in den folgenden Jahren dann dadurch entschärft, daß sie sehr bald innerhalb der traditionellen pädagogischen Kategorien eingeordnet wurde, und die Jahre der westdeutschen Restauration sorgten dafür, daß sich mit den überlieferten Schulverhältnissen auch die überlieferten Ideologien wieder festigten. Es ist bis heute ein Kennzeichen des politischen wie des pädagogischen Konservativismus geblieben, die Diskussion um die "unbewältigte Vergangenheit" möglichst auf die Zeit von 1933 bis 1945 zu beschränken. So müssen wir heute in der Pädagogik wie in der Kulturpolitik eine Diskussion beginnen, die eigentlich vor 15 Jahren hätte weitergeführt werden müssen.

Etwa um 1957 - auf dem Höhepunkt der westdeutschen Restauration - begann die zweite Welle der Diskussion um die politische Bildung. Sie wurde äußerlich ausgelöst und fortgetragen durch die "Begegnungsoffensive" der DDR zwischen 1955 und 1957. Fast überall unterlagen westdeutsche Jugendliche in politischen Diskussionen den gut geschulten und sorgfältig ausgewählten jugendlichen Begegnungstrupps der DDR. Auch die Hakenkreuzschmierereien von 1958 hielten die Debatte weiter in Gang. Damals versuchte die "Bundeszentrale für Heimatdienst" in Bonn (später umbenannt in "Bundeszentrale für politische Bildung") in ihren berühmt gewordenen Fachtagungen über die politische Bildung in den einzelnen Schularten, die Diskussion zu einem produktiven Abschluß zu bringen. Etwa zur gleichen Zeit erschienen die grundsätzlichen Stellungnahmen von Theodor Litt, Eduard Spran-

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ger und Erich Weniger. Man tut diesen imponierenden Bemühungen kein Unrecht, wenn man sie als konservativ klassifiziert: Ihre deutliche Tendenz war, die Aufgaben der politischen Bildung sinnvoll in die überlieferte Bildungsvorstellung und in das wieder fest installierte, aber weitgehend unveränderte Schulwesen einzubauen. Diesmal kam die Kritik vor allem von der politologischen und sozialwissenschaftlichen Seite. Autoren wie Adorno, Bergstraesser, Hennis, Landshut, Habermas und Sontheimer meldeten - bei aller Verschiedenheit in der Argumentation - Bedenken gegen die Politikvorstellung in diesen Konzeptionen an. Seitdem ist die Diskussion wieder so offen, wie sie es 1951 auch war. Auch die schon genannte "Saarbrücker Rahmenvereinbarung" brachte keine Beruhigung, sondern wühlte die Gegensätze nur wieder neu auf.

Diese Lage zwingt uns dazu, die wesentlichen Probleme noch einmal von vorne zu durchdenken. Dazu ist gerade die didaktische Fragestellung besonders geeignet. Nach jener Faustregel, wie sie Studenten der Pädagogik oft lernen, beschäftigt sich die Didaktik mit dem "Was", die Methodik mit dem "Wie" des Lernens. Gerade das "Was", also die politischen Lehr- und Lerninhalte, ist aber das was nach wie vor heftig umstritten ist und offensichtlich erst einmal geklärt werden muß, bevor man die übrigen pädagogischen Probleme der politischen Bildung befriedigend lösen kann. Natürlich ist unsere Faustregel als Definition noch sehr unbefriedigend. Aber wir wollen uns fürs erste noch nicht an eine der heute üblichen Definitionen von "Didaktik" binden. Vielleicht zwingen uns unsere Überlegungen, einige dieser Definitionen zu kritisieren. Zunächst genügt es durchaus, der Frage nach dem "Was" des politischen Lernens einfach weiter nachzugehen, wobei es nicht nur um eine inhaltliche Antwort geht, sondern mindestens ebenso sehr darum, den Weg zu dieser Antwort zu beschreiben und zu begründen.

Was muß man heute alles lernen, um sich erfolgreich und produktiv politisch beteiligen zu können? Diese Frage

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steht gleichsam als unsichtbare Überschrift über dem ersten Teil des Buches, in dem wir die Brennpunkte der Berührung zwischen Politik und Pädagogik aufsuchen, an denen die Mißverständnisse und Schwierigkeiten immer wieder entstehen. Hier versuchen wir uns gleichsam einen Überblick über die Probleme zu verschaffen, und wenn der Leser den Eindruck hat, in diesem Teil schreite der Gedankengang nicht geradlinig voran, sondern eher im Zickzackkurs und mit manchen Umwegen, so liegt das daran, daß es hier ja zunächst nur darum geht, ohne voreilige Systematik die wichtigsten Probleme aufzuspüren. Die Sache selbst verlangt hier statt eines "systematischen" einen "aporetischen" Denk- und Darstellungsstil.

Wie kann man sodann die Lehrgehalte, die sich bei dieser Prüfung als unabdingbar für die politische Beteiligung herausgestellt haben, derartig systematisieren, daß die Inhalte und Ziele nicht nur in einem gewissen Zusammenhang dargestellt, sondern auch in einem modellhaften Entwurf im Hinblick auf die konkrete Unterrichtspraxis verdichtet werden können? Diese Frage soll den zweiten Teil leiten, der "Didaktische Konstruktion" überschrieben wurde.

Wo, das heißt in welchem Erziehungsfeld kann der Heranwachsende das, was unabdingbar zum Erlernen der politischen Beteiligung gehört, optimal lernen? Welche Lehrinstitutionen und Lernsituationen stehen heute überhaupt für diese Aufgabe zur Verfügung, und wie sind sie im Hinblick auf unsere Fragestellung zu beurteilen? Der dritte Teil, der diesen Fragen nachgeht, bleibt skizzenhaft und fragmentarisch, weil die erziehungswissenschaftlichen Vorarbeiten noch zu dürftig sind, als daß wir hier bereits über begründete Vermutungen hinauskommen könnten. Die Absicht dieses Teiles ist es vor allem, die Möglichkeiten des schulischen Beitrages zur politischen Bildung und Erziehung zu relativieren, um den Blick dafür freizumachen, daß manches von anderen Erziehungsfeldern besser geleistet werden kann und zum Teil auch schon geleistet wird. Absicht ist ferner, der Unsitte entgegenzutreten, daß sich

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jede Schulart unter dem Schlagwort ihrer besonderen "Bildungsaufgabe" gleichsam aussucht, was sie im Hinblick auf die allgemeine Aufgabe der politischen Jugendbildung leisten will und was nicht. Das steht ihr zu einem guten Teil heute nicht mehr frei, wenn sie sich nicht über ihre objektive gesellschaftliche Position oder über die tatsächlichen Bedürfnisse ihrer jugendlichen Partner unentwegt tauschen will.

Erst im letzten Teil soll uns - gleichsam als eine Rückschau - beschäftigen, was man wohl unter einem wissenschaftlichen Begriff der Didaktik im allgemeinen und der politischen Didaktik im besonderen verstehen könnte. Damit mündet dieses Buch in die allgemeine Diskussion über den pädagogischen Begriff der Didaktik ein.

Aus sprachlichen Gründen benutzen wir im folgenden nicht den Begriff "Didaktik der politischen Bildung", sondern den Begriff "Politische Didaktik". Es wird sich aber zeigen, daß sich dieser Begriff auch sachlich rechtfertigen

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 URL des Dokuments: : http://www.hermann-giesecke.de/poldiein.htm

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