Hermann Giesecke

Didaktik der politischen Bildung

München: Juventa-Verlag, 10. erw. Aufl. 1976

 NACHTRAG zur 10. Aufl. 1976 © Hermann Giesecke

 
Inhaltsverzeichnis



Zu dieser Edition:
Meine Didaktik der politischen Bildung erschien 1965. In der 3. Aufl. 1968 wurden sieben kritische Stellungnahmen zu diesem Buch ausführlich abgedruckt. Auf diese und andere Einwände habe ich am Schluß des Buches mit einer  "Kritik der Kritik" geantwortet. Der Text der Originalfassung wurde mit der 7. Aufl. 1972 grundlegend verändert. Die auf dieser "Neuausgabe"  basierende 10. Aufl. 1976 erhielt einen Nachtrag, der in wesentlichen Punkten die Diskussion seit 1972 aufgreift. Dieser Nachtrag ist hier wiedergegeben.
Über den damaligen politisch-pädagogischen Hintergrund finden sich nähere Angaben in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen.
Im Unterschied zum Original, wo sich die Quellennachweise auf das Literaturverzeichnis beziehen, wurden sie hier in den Text eingearbeitet.
Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurde das Original jedoch nicht verändert.  Um die Zitierfähigkeit zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.
© Hermann Giesecke

Nachtrag:
Probleme der politischen Bildung seit 1972: Politischer Konsens, Legitimation und Curriculum-Konstruktion

Dieser Nachtrag soll die wichtigsten Entwicklungen der politisch-didaktischen Diskussion seit Erscheinen der neuen Ausgabe dieses Buches (1972) nachzeichnen. Sinngemäß wäre dieser Nachtrag in den ersten Teil (im Anschluß an Seite 113) einzuschieben. Wichtige neue Impulse gingen von den Richtlinien für den politischen Unterricht in Hessen und Nordrhein-Westfalen aus, die nicht nur didaktisch und fachwissenschaftlich, sondern vor allem auch politisch-ideologisch mit zum Teil großer Leidenschaft diskutiert wurden. Zum erstenmal in der Geschichte der Bundesrepublik sind überhaupt Richtlinien für ein Unterrichtsfach in einem solchen Maße Gegenstand der öffentlichen Diskussion gewesen. Sieht man ab von den bei solchen Diskussionen nur schwer vermeidbaren Emotionalisierungen, Mißverständnissen und Polemiken, so wurden durch sie vor allem folgende Probleme teils neu, teils in verschärfter Form in den Mittelpunkt gerückt: das Problem des politischen Konsensus, das Problem der Legitimation und das Problem der Curriculum-Konstruktion.

1. Das Problem des politischen Konsensus

Wie kann man eine Konzeption für den politischen Unterricht finden, die von einer großen Mehrheit der Bevölkerung - z. B. von den großen politischen Parteien - akzeptiert wird? Wie ist dies insbesondere möglich angesichts der Tatsache, daß der politische Unterricht immer in irgendeiner Weise "parteilich" sein muß und daß es andererseits neben Mehrheiten immer auch Minderheiten gibt, die grundsätzlich - d. h. sofern sie sich im Rahmen des Grundgesetzes bewegen - das gleiche Recht wie die Mehrheit haben, das Recht, daß auch ihre politischen Interessen und Zukunftsperspektiven ernstgenommen werden? Wenn man davon ausgeht, daß ein solcher Konsens nötig ist, weil schon aus Verfassungsgründen nicht einfach die jeweils an der Macht befindliche politische Gruppe kraft ihrer Mehrheit über den politischen Unterricht befinden kann, dann stellt sich die Frage so: Gibt es eine Möglichkeit, so weit von den Interessenunterschieden und den Ungleichheiten und den damit verbun-

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denen unterschiedlichen Zukunftsperspektiven der Bevölkerung zu abstrahieren, daß der politische Unterricht demgegenüber "neutral" und damit konsensfähig sein kann? Oder ist das Problem nur durch eine solche didaktische Konstruktion zu lösen, die auf einer gemeinsamen Basis, wie sie etwa das Grundgesetz abgibt, Parteilichkeiten nicht vorweg ausschließt, sondern gerade ihre Bearbeitung und Kenntnisnahme möglich macht?

Die Diskussion hat für die erste Möglichkeit keine Lösungen anbieten können, in dieser Form ist das Problem nicht lösbar. Lösbar ist es nur in der zweiten Version, also dadurch, daß die Parteilichkeiten selbst zum didaktisch-methodischen Problem des Unterrichts werden und auch schon bei der Formulierung von Richtlinien mit bedacht werden. Insofern kann ich die in diesem Buch vertretenen Vorschläge zur Lösung des Parteilichkeits-Problems nach wie vor aufrechterhalten (vgl. dazu meine Kontroverse mit Bernhard Sutor, in: Materialien zur politischen Bildung, Heft 4/1974).

2. Das Problem der Legitimation

Dieses Problem hängt mit dem des Konsensus unmittelbar zusammen: Wie und wodurch kann man eine Konzeption für den politischen Unterricht legitimieren, also unter Bezugnahme auf eine allgemein gebilligte Überzeugungsgrundlage rechtfertigen? Folgende Möglichkeiten sind denkbar:

a) Legitimation durch die Entscheidung parlamentarischer Mehrheiten, die ihrerseits wieder legitimiert wären durch das formale parlamentarische Verfahren, durch das sie zustandegekommen sind einerseits, und durch die Rücksicht auf die durch das Grundgesetz gesetzten Grenzen andererseits. Eine solche Legitimationsgrundlage würde jedoch nicht nur die schon erwähnte Frage nach dem Recht von überstimmten Minderheiten in einer staatlich monopolisierten Schule aufwerfen, sondern auch die weitere nach ihrer eigenen Rationalität, d. h. nach den Gründen, mit denen sie öffentliche Anerkennung erlangen kann. Welche Art von Gründen man jedoch immer angeben mag: sie müßten Maßstäbe haben - z. B. politische oder wissenschaftliche - , die außerhalb der politischen Entscheidung selbst liegen und ihrerseits wieder der Legitimationsdiskussion zu unterwerfen wären. Am einfachsten wäre die Sache, wenn man historisch-pragmatisch verfahren würde, d. h. so, daß man vorhandene Richtlinien aufgrund gewandelter Erkenntnisse und neuer politischer Überzeugungen und Machtverhältnisse korrigieren, also anpassen würde. Dies hatte schon Erich Weniger (Neue Wege im Geschichtsunterricht, 3. Aufl. 1965) in seiner Lehrplantheorie

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vorgeschlagen, daß nämlich auf die Dauer gesellschaftlich mächtige Gruppen die Berücksichtigung ihrer Interessen und politischen Perspektiven im Lehrplan erzwingen würden. Ein solches Verfahren wäre immer ein politischer Kompromiß, würde z. B. Grundsätze der an Emanzipation orientierten "Konflikt-Didaktik" verbinden mit eher "konservativen", z. B. an einer staatlichen Institutionenlehre orientierten. Ein solches Verfahren wird bei modernen Curriculum-Entwürfen jedoch dadurch erschwert, daß diese Entwürfe ja eine völlige Neukonstruktion aller mit dem politischen Unterricht zusammenhängender Probleme und Aspekte beabsichtigen - nach einem logischen Verfahren, bei dem politische Kompromisse der Sache nach eher Störfaktoren sind. Insofern kann man sagen, daß diese Curriculumentwürfe selbst erst das Konsens-Problem in voller Schärfe provoziert haben.

b) Legitimation durch Wissenschaft. Denkbar wäre, die Legitimationsfrage durch wissenschaftliche Analysen und Erkenntnisse zu lösen. Das ist jedoch nur in gewissen Grenzen möglich. Erstens versteht sich die gemeinsame Unterwerfung kontroverser Positionen unter wissenschaftliche Erkenntnisse und Ergebnisse nicht von selbst, sondern müßte auch erst einmal als Konsens angesehen werden. Zweitens setzt selbst dann noch die "Werturteilsproblematik" der Wissenschaft Grenzen. Ganz gleich, ob man - wie der Neo-Positivismus oder der kritische Rationalismus - Werturteile überhaupt aus wissenschaftlichen Aussagen heraushalten will oder ob man mit der "kritischen Theorie" Werturteile zumindest als "erkenntnisleitende Interessen" für unvermeidlich hält: in jedem Falle bleibt ein Spielraum für normative Entscheidungen und Setzungen übrig, der seinerseits wieder des Konsensus bedarf.

c) Legitimation durch Offenlegung des Verfahrens. Diese Überlegung spielte in den hessischen und nordrhein-westfälischen Richtlinien und in ihren Vorarbeiten eine zentrale Rolle. Die Überlegung war dabei, nicht auf Anhieb ein konsensfähiges Konzept zu produzieren, sondern seine Herstellung durch allgemeine öffentliche Diskussion im Sinne eines gemeinsamen Prozesses zu ermöglichen. Wenn es nämlich keine objektive Möglichkeit gibt, einen Konsens aus irgendwelchen politischen, wissenschaftlichen oder anderen Prämissen abzuleiten, dann - so ist die Überlegung - muß ein Konzept vorgelegt werden, das alle politischen, wissenschaftlichen, ideologischen, normativen, zielbestimmten usw. Absichten und Voraussetzungen offenlegt, um denen, die Änderung wünschen, einen Argumentationszusammenhang anzubieten, in dessen Rahmen sie ihre anderen Auffassungen

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einbringen und diskutieren und damit das ganze Curriculum auch verändern können. Aus diesem Grunde sind die beiden Richtlinien auch verhältnismäßig umfangreich geworden. Die Richtlinienautoren haben also - um es in einem Beispiel zu sagen - von den Kritikern der CDU/CSU erwartet, daß sie ihre Einwände in das vorgelegte Konzept "einfädeln" und auf diese Weise sich an der Herstellung eines Konsensus beteiligen wurden.

Dies ist jedoch nicht oder nur ganz unzulänglich geschehen, obwohl es sich zumindest auf den ersten Blick hierbei um ein plausibles demokratisches Verfahren gehandelt hätte. Woran ist es gescheitert? Zunächst an der schon erwähnten leidenschaftlichen Emotionalisierung und an einem damit verbundenen tiefen Mißtrauen (die Aufforderung zur öffentlichen Diskussion und zur Mitwirkung an der Korrektur sei nicht ernstgemeint, die Sache sei vielmehr längst entschieden, usw.), wobei zu bedenken ist, daß ein solches Ansinnen zum erstenmal in dieser Weise an die Öffentlichkeit gerichtet wurde und diese in seiner Handhabung noch keine Übung besaß (vgl. Eugen Kogon (Hg.): Rahmenrichtlinen Gesellschaftslehre. Frankfurt 1974; Gerd Köhler (Hg): Wem soll die Schule nützen? Frankfurt 1974; Gerd Köhler/Ernst Reuter: Was sollen die Schüler lernen? Frankfurt 1973).

Wichtiger jedoch ist ein anderes Problem, das auch dann bleiben wird, wenn die Öffentlichkeit in solchen Verfahren mehr Übung erhält: Dieses Ansinnen nimmt dem politischen Gegner - vor allem der parlamentarischen Opposition - ihren politisch-taktischen Spielraum. Das ist nicht nur vordergründig gemeint, etwa in dem Sinne, daß die Opposition verständlicherweise daran interessiert ist, ihre andere Position auch zur parteipolitischen Agitation zu nutzen. Vielmehr ist darüber hinaus die Frage, ob es überhaupt Aufgabe der Opposition ist, sich von vornherein in ein von der Regierung entworfenes Verfahren einbeziehen zu lassen, oder ob die Regierung nicht allein die Verantwortung für ein von ihr vorgelegtes Reformkonzept übernehmen muß.

Unstreitig jedoch - und das ist ein dritter Einwand - legt ein vorformuliertes curriculares Verfahren wie das von Nordrhein-Westfalen die Gegenargumentation in einem erheblichen Maße bereits fest und beschneidet damit schon den Argumentationsspielraum; es ist selbst schon konsensbedürftig oder, mit anderen Worten: Die Konsens- und Legitimationsproblematik stellt sich nicht erst im Rahmen des vorgeschlagenen Verfahrens, sondern schon bei seiner Auswahl. Man könnte nämlich von vornherein ein ganz anderes Verfahren wünschen, nämlich z. B. das von mir favorisierte historisch-pragmatische, und dann würde es auch inhaltlich - und nicht nur technisch - um ganz andere Fragen gehen.

Und schließlich ein letzter Einwand: Das curriculare Verfahren ist notwendigerweise so kompliziert, verlangt so viele spezielle

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Kenntnisse und Erfahrungen, daß nur ein ganz kleiner Teil der Öffentlichkeit und auch der professionellen Politiker sich daran beteiligen kann.

d) Legitimation durch Entscheidungskompetenz der Basis. Da sich das Konsens- und Legitimationsproblem als so schwierig erweist, und zwar um so schwieriger, je mehr und präzisere Vorgaben durch Curricula und Richtlinien erfolgen, wäre es denkbar, die Entscheidungen darüber überhaupt ganz oder teilweise der pädagogischen Basis zu überlassen, also den Lehrern und Schülern im Rahmen des gemeinsamen Unterrichts. Der Staat würde sich dann in seinen Richtlinien beschränken auf allgemeine Grundsätze (Festlegung der wichtigsten Stoffe und Themen; der wichtigsten Kommunikationsprinzipien wie Toleranz usw.), während die konkreten Entscheidungen in der gemeinsamen Planung von Lehrern und Schülern erfolgen. Die Konsens- und Legitimationsproblematik würde also weitgehend an die Basis abgegeben. So ist in gewissem Umfange bei den alten Richtlinien der fünfziger und sechziger Jahre auch verfahren worden, und die neuen Richtlinien haben dieses Problem wieder aufgeworfen.

Auch eine solche Regelung wäre nicht ohne Probleme. Der Lehrer nämlich erhielte in dieser Konstruktion eine sehr starke Entscheidungsposition, und es ist die Frage, wodurch sie sich rechtfertigen ließe (z. B. durch seine wissenschaftliche und unterrichtsmethodische Fachkenntnis?). Die Unterrichtsergebnisse würden ferner je nach Lehrer, nach Region und auch nach "politischer Landschaft" variieren, und es ist die Frage, ob dies - —auch im Hinblick auf andere Fächer - mit dem staatlichen Hoheitsanspruch auf die Schule und mit allen daraus resultierenden Konsequenzen noch vereinbar wäre.

Zweifellos wäre eine solche Regelung nicht denkbar ohne staatliche Richtlinien (vgl. die Gründe dafür auch auf Seite 132 ff.), aber die Frage wäre, was dann in solchen Richtlinien festgelegt sein müßte. Jedenfalls ist mit diesen Möglichkeiten das Problem der Legitimation und damit auch des Konsensus prinzipiell durchgespielt, und keine hat sich als hinreichend für eine Lösung erwiesen. Auf die Dauer wird man daher ohne pragmatische Kompromisse nicht auskommen können, was aber eben auch besagt, daß man auf in sich stimmige, perfekt durchgearbeitete didaktische Konstruktionen wird verzichten müssen; sinnvoll sind in jedem Falle nur solche didaktischen Konzepte, die "Pluralität" auch in ihrer eigenen theoretischen Struktur zulassen.

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3. Probleme lernzielorientierter Curricula

Die bisherigen Überlegungen und die praktische Erfahrung haben schon gezeigt, daß die neuen lernzielorientierten Curriculum-Konstruktionen die politischen Probleme von Konsens und Legitimation nicht gelöst, sondern in mancher Hinsicht eher verschärft haben. Dies mag Grund genug sein, auch ihren didaktischen Nutzen etwas näher zu untersuchen.

Die traditionellen didaktischen Konzepte gingen davon aus, daß bestimmte Stoffe aus der politischen Wirklichkeit aufgrund allgemeiner politisch-pädagogischer Ziele (z. B. Mündigkeit; Emanzipation) auszuwählen seien und in bestimmter Weise (z. B. durch "Kategorien") bearbeitet werden sollten. Wie unterschiedlich die einzelnen Konzeptionen auch sonst vorgingen, gemeinsam war ihnen die Vorstellung, daß "das Politische" dinglich-stofflich - wie elementar und reduziert immer - verstanden werden müsse zum Zweck der intellektuellen und praktischen Orientierung. Die curricularen Konzepte drehen diesen Zusammenhang praktisch um: Sie gehen aus von der Leitfrage: Welches Verhalten ist aus welchen Gründen (Legitimation) in welchen politisch relevanten Lebenssituationen wünschenswert, und wie kann man welche Stoffe und Themen im Unterricht so behandeln, daß dieses Verhalten auch tatsächlich erreicht wird?

Und damit hängt eine weitere Frage zusammen: Wie kann man das gewünschte Verhalten so operationalisieren, daß man sein Erreichen messen oder jedenfalls durch Beobachtung kontrollieren kann?

Von diesem Grundansatz her ergibt sich ein didaktisches Konzept, das sich von allen bisherigen fundamental unterscheidet: Ein bestimmtes Verhalten in bestimmten Situationen war von den traditionellen Konzepten nicht gefordert worden, diese beließen es vielmehr bei allgemeinen Zielsetzungen, die im konkreten Falle durchaus verschieden interpretiert werden konnten. In den Augen der Curriculum-Theoretiker war dies ein Mangel an Genauigkeit; es ist jedoch die Frage, ob das zutrifft; man könnte diese Zurückhaltung nämlich auch als einen Mangel an übergeordneten Vorschriften für den politischen Unterricht betrachten, durch den ein gewisser didaktischer und methodischer Freizügigkeitsspielraum an der Basis gewährleistet wurde.

Die prinzipiellen Probleme curricularer Lernzielkonstruktionen sind in der Curriculum-Diskussion inzwischen ausführlich behandelt worden, darauf kann hier nicht eingegangen werden. Vielmehr sollen nur einige Probleme erörtert werden, die insbesondere den politischen Unterricht betreffen. Zunächst ist es zweckmäßig, sich klarzumachen, aus welchen Gründen überhaupt curriculare, also an Lernzielen als Verhaltenszielen orien-

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tierte Entwürfe vorgelegt wurden und welche Erwartungen damit verbunden wurden. Verschiedene Gründe kommen hier zusammen:

a) Die Notwendigkeit, neue Richtlinien zu erlassen, schien - wie schon erwähnt - wegen der Legitimationsproblematik lernzielorientierte Konstrukte nahezulegen.

b) Ausgehend von den USA ist die Überzeugung von der Notwendigkeit curricularer Verfahren inzwischen auch bei uns zur "herrschenden Meinung" geworden, der sich zu entziehen selbst längst einer Rechtfertigung bedarf.

c) Auch bestimmte Wissenschaftsentwicklungen spielten eine Rolle: Während die traditionellen Richtlinien und Lehrpläne von geisteswissenschaftlich-hermeneutischen Grundlagen ausgehen, schlagen sich in den curricularen Konstruktionen die Vorstellungen der positivistisch-empirischen Wissenschaften nieder; das Verfahren der Operationalisierung von Lernzielen z. B. entspricht dem Verfahren der Operationalisierung von Forschungszielen; ähnliches gilt für das Prinzip des Messens: Zum Zwecke der empirischen Meßbarkeit muß menschliche Tätigkeit (also auch Lernen) als beobachtbare Verhaltensweise definiert werden.

d) Insofern kommen curriculare Verfahren auch dem Bedürfnis nach Verwissenschaftlichung pädagogischer Vollzüge, vor allem im Rahmen der Schule, entgegen. Dafür scheinen curriculare Strategien besonders geeignete Instrumente zu sein.

e) Dieses Bedürfnis wiederum entspricht bestimmten Interessenlagen, was insbesondere die öffentliche Wirkung solcher Strategien erklärt; denn man kann im allgemeinen davon ausgehen, daß neue wissenschaftliche Verfahren nicht von sich aus schon öffentlich interessant sind, sondern erst dann größere Aufmerksamkeit erlangen, wenn sie sich mit bestimmten Interessenlagen verbinden lassen. In diesem Zusammenhang sind die Spannungen und die damit verbundenen Statusprobleme zwischen Universität einerseits und pädagogischer Hochschule bzw. Fachhochschule andererseits, zwischen Fachwissenschaften und Fachdidaktik, zwischen "praxisorientierten" Gruppen (z. B. in der Lehrerbildung) einerseits und "theorieorientierten" Gruppen andererseits zu nennen. Curriculare Verfahren scheinen z. B. den bisher "praxisbezogenen" Ausbildungsstätten ein Feld eigenständiger Forschung gegenüber der Universität zu verschaffen.

f) Schließlich scheinen curriculare Konzepte im Unterschied zur traditionellen Didaktik eher eine Kontrolle des Unterrichts zu

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ermöglichen, insofern die als beobachtbares Verhalten definierten Lernziele eben durch solche Beobachtungen auch überprüft werden können.

g) Mit der Konstruktion von Curricula verband sich vielfach die Hoffnung, man könne auf diese Weise neben kognitiven auch soziale und emotionale Lernziele formulieren und realisieren. Zumindest bestimmte Gruppen verbanden damit die weitere Hoffnung, man könne so bestimmte politische Zielsetzungen, also in bestimmter Weise gerichtete Aktivitäten, erzeugen, z. B. anti-kapitalistisches, antikommunistisches, emanzipatorisches, kritisches usw. Verhalten.

Lernzielorientierte Curricula sind jedoch bisher nur in Ansätzen vorgelegt worden. Praktische Entwürfe, die den curriculumtheoretischen Ansprüchen voll genügen könnten, fehlen immer noch. Vielleicht ist dies schon ein Indiz dafür, daß sie gerade für das Fach Politik stringent auch gar nicht zu realisieren wären. Den bisher umfangreichsten und zugleich kompliziertesten Entwurf haben die Autoren der nordrhein-westfälischen Richtlinien in ihrem "Theorie-Band" (Rolf Schörken (Hg.):Curriculum "Politik". Von der Curriculumtheorie zur Unterrichtspraxis. Opladen  1974) vorgelegt. Sie haben dabei Ansätze der Hermeneutik, der kritischen Theorie, der Systemtheorie und der empirischen Wissenschaften zu integrieren versucht. Aber gerade dieser differenzierte Ansatz zeigt auch besonders gut die grundsätzlichen Probleme, die sich dabei stellen (vgl. Giesecke 1974). Einige davon seien kurz erwähnt:

1. Es ist die Frage, wieweit die Lernziele allgemeinverbindlich festgelegt werden sollen; denn man kommt so oder so nicht darum herum, auch die normativen Probleme dabei mit zu entscheiden, also gerade diejenigen, die legitimerweise in einer pluralistischen Gesellschaft umstritten und mehrdeutig sind. In welchem Umfange und mit welcher Genauigkeit sollen die Lernziele bereits in den staatlichen Richtlinien vorgegeben sein, und welche Kompetenz sollen die Lehrer haben? Im Extremfall sind die Lehrer nur noch die "Ausführungsorgane" der detailliert festgelegten Richtlinien. Soweit sind die neuen Richtlinien in Nordrhein-Westfalen nicht gegangen, sie haben einen Rahmen gespannt, den die Lehrer im Unterricht ausfüllen sollen. Dennoch bleibt das Problem: Je genauer Lernziele vorgegeben werden, um so weniger Alternativen sind möglich.

2. Wie das Buch von Schörken zeigt, sind curriculare Konzepte ungemein aufwendig und eigentlich nur Fachleuten mitteilbar. Lohnt sich dieser Aufwand, wenn ein mehr oder weniger großer Spielraum zur Lernzielbestimmung für den Lehrer erhalten

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bleibt und konsequent durchstrukturierte Curricula nicht machbar bzw. politisch nicht durchsetzbar sind? Liegt der Nutzen curricularer Verfahren dann nicht eher darin, daß die Lehrer sie handhaben können, um gemeinsam mit den Schülern die intellektuelle Arbeit rationaler organisieren zu können?

3. Wenn man von lernzielorientierten Curricula spricht, geht man immer davon aus, daß die Lernziele den politischen Sachverhalten bzw. den Aussagen über sie vorgegeben sein müssen. Dies ist aber nur eine Implikation des aus der empirischen Forschung abgeleiteten Denkmodells. Auch in der hermeneutischen Analysetechnik hat es nämlich immer schon Lernzielsequenzen gegeben, nur wurden sie nicht so genannt. Man kann z. B. die gedankliche Struktur eines Textes als eine Lernzielsequenz verstehen. Der Versuch, einen solchen Text zu "verstehen", ist weitgehend identisch mit dem Bemühen, diese seine Lernzielstruktur zu erkennen. Zu einem guten Teil lassen sich solche Lernziele auch als Verhaltensforderungen fassen, z.B.: "Den Zusammenhang des Gedanken X mit dem Gedanken Y erklären können". Insofern es sich bei dem Verständnis von Texten jedoch um Interpretation handelt, sind hier die Möglichkeiten eindeutiger ( = meßharer) Zuordnungen von Lernzielen und Verhaltensbeobachtungen begrenzt. Mit anderen Worten: Die Frage, ob ein Lernziel auch tatsächlich erreicht wurde, ist weitgehend selbst eine Interpretationsfrage (weshalb die Benotung von Texten, z. B. von Aufsätzen, auch besonders schwierig ist).

Man sieht also, daß nicht erst curriculare Verfahren "Lernziele" festgelegt haben, sie haben sie vielmehr nur den Texten, also den Mitteilungen über die politische Wirklichkeit, in einer bestimmten Systematik gegenübergestellt. Genau darin liegt aber das Problem: Indem man solche Konstruktionen vornimmt, konstruiert man damit auch eine eigentümliche politische Wirklichkeit, nämlich die Wirklichkeit eben solcher Lernzielsequenzen. Diese holen sich aus der politischen Wirklichkeit gleichsam das heraus, was in ihre Systematik paßt.

4. Solche Konstrukte verändern jedoch nicht nur die Wirklichkeitsstruktur, sondern auch die Art und Weise, über sie nachzudenken. In den üblichen, alltäglichen Diskussionen über politische Probleme orientieren sich die Menschen bewußt oder unbewußt an fundamentalen politischen Fragen, wie: Wem nützt eine Maßnahme? Welche Interessen stehen hier zur Debatte? Wer hat recht? Was kommt dabei heraus? Solche Fragen werden entweder durch vorgefaßte Muster beantwortet, sie können aber auch differenzierter, d. h. mit neuen Informationen oder mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und Theorien beantwortet wer-

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den. Aber in ihrem Kern bleiben diese Fragen die entscheidenden politischen Kategorien.

In curricularen Konstruktionen verschieben sich die Fragestellungen entscheidend, sie werden nicht mehr vom politisch-praktischen Interesse bestimmt, sondern von der ihnen innewohnenden eigentümlichen wissenschaftslogischen Systematik, die nun wiederum die praktisch-politischen Fragestellungen bestimmt. Man kann sogar von einer Art von "Entfremdung" des praktisch-politischen Denkens sprechen.

Das läßt sich an der sogenannten "Matrix" zeigen, wie sie Gösta Thoma für politisch-didaktische Analysen entworfen hat (Gösta Thoma: Zur Entwicklung und Funktion eines "didaktischen Strukturgitters" für den politischen Unterricht, in: H. Blankertz: Curriculumforschung. Strategien, Strukturierung, Konstruktion, Essen 1971) und wie sie Dieter Menne "instrumentalisiert" hat (in: Schörken 1974, S. 153 ff.).


Gösta Thoma, Strukturgitter für den politischen Unterricht


Aus: Blankertz, Herwig, Curriculumforschung. Strukturierung, Konstruktion, Essen 1971, S. 94

 

Das Strukturgitter geht aus von den drei "Medien der Vergesellschaftung": "Arbeit", "Sprache", "Herrschaft". Diese drei Medien können wiederum auf drei Ebenen definiert werden: "technisch, wertfrei, zweckrational; praktisch, ideologisch; emanzipatorisch, kritisch". Ferner können die drei Medien noch einmal von drei weiteren Kategorien befragt werden, die aus der Systemtheorie stammen: "Problematisierung", "Intention", "Selektion". "Intention" bedeutet dabei "eine vorhandene Regelung, eine Institution, ein Gesetz, ein Prinzip auf den ihnen

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innewohnenden 'Sinn' im Kontext eines politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systems zu befragen. Die Kategorie 'Problematisierung' ergänzt die Kategorie 'Intention' insofern, als sie es ermöglicht, für jedes, was ist, einen Problembezug zu finden, von dem aus es auf andere Möglichkeiten hin befragt werden kann'; die Kategorie 'Selektion' tritt als Fragekategorie auf, um deutlich zu machen, daß mit der Erfassung eines Sinns oder einer Absicht (Intention) auf andere Möglichkeiten des Sinnverstehens oder der Realisierung von Alternativen verzichtet werden muss" (Menne, in Schörken 1974, S. 154).

Ausdrücklich weist Thoma darauf hin, daß sich mit diesem Strukturgitter keine Inhalte und Ziele für den Unterricht ableiten lassen. Vielmehr "ermöglicht (es) die Entwicklung von Fragen und Rückfragen an die einschlägigen Wissenschaften, nicht aber eigenständige Beantwortung" (Thoma, in: Schörken 1974, S. 152). Diesen Effekt haben aber auch jene von dem üblichen politisch-praktischen Denken ausgehenden Kategorien, wie sie in diesem Buch vorgeschlagen wurden, und es bleibt die Frage, wozu an deren Stelle (oder ihnen vorgelagert) derart komplizierte Schemata nützlich sind.

5. Und noch etwas wird an dieser Matrix deutlich: die problematischen Ergebnisse, die aus solchen Zuordnungen resultieren. Im Grunde genommen handelt es sich hier nämlich - wie übrigens auch bei der Matrix von Hilligen (Wolfgang Hilligen: Zur Didaktik des politischen Unterrichts I, Opladen  1975) - um relativ unverbindliche, nicht aus logischen Operationen resultierende "Zuordnungs-Spiele" mit einem großen Spielraum für beliebige und willkürliche Deutungen und Setzungen. Das zeigt sich etwa an einer Äußerung Thomas zur Erläuterung der ersten Zeile des Strukturgitters: "Wie die Unterwerfung unter den Sachzwang der Leistungserstellung Verzicht fordert - nicht nur in der technischen Bedeutung, daß mit dem Ergreifen einer wie immer hergerichteten Alternative unter anderen diese losgelassen werden müssen, sondern Lustverzicht - , so setzt sich dieser Zwang im Konsum fort, welcher, lustlos betrieben und auf Surrogatbefriedigung statt auf die Befriedigung von Bedürfnissen angelegt, den nur scheinbar dem Verzicht entgegengesetzten Mechanismus der Sucht in Gang hält. In Erinnerung an das mit Muße einmal Gemeinte könnten wir - allerdings als negative Kategorie! - den Maßstab der Kritik festhalten" (Thoma, in: Schörken 1974, S. 150).

Offensichtlich sind in diesen Sätzen, die zur Begründung des Strukturgitters dienen, einige schwerwiegende und nicht zureichend begründete Vorentscheidungen enthalten, die eigentlich selbst Gegenstand der Untersuchung sein müßten. Ein ähnlicher Eindruck ergibt sich bei den übrigen Korrelationen: sie könnten

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alle mit guten Gründen auch anders lauten, und der Nutzen dieser komplizierten Konstruktion bleibt uneinsichtig.

6. Es ist die Frage, ob und inwieweit "Verhalten" nicht nur "Lernverhalten", sondern auch praktisch-politisches Verhalten sein soll und sein darf. Wie schon erwähne, spielte bei manchen Gruppen der Wunsch, ein bestimmtes politisches Verhalten anzuerziehen, eine große Rolle. Wie die politisch-ideologischen Auseinandersetzungen gezeigt haben, ist jedoch fraglich, ob das Aufgabe der Schule sein kann, ob die Schule überhaupt über die kognitiven Aspekte hinausgehen kann. Diese Frage berührt das eingangs gestellte Problem des politischen Konsensus noch einmal: Indem die Curricula bei den Endprodukten des Unterrichts ansetzen, nämlich bei den am Ende zu erreichenden Fernzielen als Verhaltenszielen, und indem sie die Tendenz haben, diese Lernziele möglichst präzise (und damit unter Ausschluß von Interpretationsspielräumen und Alternativen) zu bestimmen, greifen sie vor allem dann in die Rechte der Person ein und drohen das Toleranzgebot zu verletzen, wenn es sich nicht nur um kognitive Lernziele, sondern auch um solche des politisch-praktischen Verhaltens handelt. Insofern stellt sich die Frage, ob curriculare Verfahren für ein Fach mit so hohem normativen Anteil wie Politik nicht von vornherein auf solche Unterrichtspartien beschränkt bleiben müssen, bei denen es sich ganz überwiegend um bloße Information handelt.

Abschließend kann man sagen, daß mit dem Entwurf curricularer Konzepte die denkbaren Möglichkeiten für die politische Didaktik im Prinzip durchgespielt sind; prinzipiell andere Ansätze sind nicht in Sicht.

1. Entweder man geht - wie in diesem Buch vertreten - von der Auffassung aus, daß politischer Unterricht eine Art von "reflexiver politischer Teilnahme" an der Politik selbst sein soll; dann geht es um grundlegende Informationen, systematisches Orientierungswissen und vor allem um die Fähigkeit, politische Auseinandersetzungen und Kontroversen verstehen und kritisch beurteilen zu können. "Lehrmittel" ist dann in erster Linie das, was die Politik selbst produziert, also die politische Publizistik im weitesten Sinne. Auch die analytischen "Anfragen" an das politische Originalmaterial ("politisch-didaktische Kategorien") werden dann dem politischen Leben selbst entnommen, wissenschaftliche Kategorien und Informationen werden hinzugezogen als Instrumente und Ordnungsprinzipien sowie als Kriterien der Kritik und Konerolle, haben per se aber keine konstitutive Bedeutung. Richtlinien und Lehrpläne sind

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in diesen Konzepten nur durch pragmatische Vereinbarungen möglich.

2. Oder es gibt eine Art von "eigenständiger" fachdidaktischer Zwischenkonstruktion wie bei den curricularen Konzepten oder auch in anderer Form bei Hilligen (1975). Dann wird der politischen Realität (und den Zeugnissen über sie) eine eigene systematische Konstruktion gegenübergestellt mit all den Konsens-, Legitimations- und Lernzielproblemen, die oben kurz skizziert wurden. Je nach Art der Konstruktion bleibt zudem die Frage, wieviel "Politisches" solche Fachdidaktiken - selbst wenn sie politisch umstritten sind - noch treffen.

3. Oder man plädiert für einen sozialwissenschaftlichen Unterricht, bei dem die Konstrukte, Theoreme, Problemstellungen usw. der Wissenschaften selbst das vorherrschende didaktische Prinzip sind. Einen solchen Vorschlag haben Elke Calliess und andere (Sozialwissenschaft für die Schule, Stuttgart1974) vorgelegt, der allerdings bisher wenig öffentliche Resonanz gefunden hat.

Meine Vermutung geht dahin, daß dieser dritte prinzipielle Ansatz - öglicherweise in Kombination mit dem ersten - in Zukunft eine größere Rolle spielen wird; gegenwärtig allerdings widerspricht er noch zu sehr der herrschenden "pädagogischen Ideologie" - vor allem auch an den Hochschulen selbst.
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 URL des Dokuments: : http://www.hermann-giesecke.de/poldinach.htm

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