Hermann Giesecke

Mein Leben ist lernen

Erlebnisse, Erfahrungen und Interpretationen


München: Juventa-Verlag 2000

2. erweiterte Aufl. Taschenbuch Göttingen 2017, Kindle-Edition Göttingen 2017 (Independently published)

Mein Leben ist lernen: Erlebnisse, Erfahrungen und Interpretationen


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Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur 2. Auflage

Einleitung

1. Kindheit im Krieg

Geborgenheit
Bombennächte
Reisen durch den Krieg
Heimkehr
Notjahre

2. Jugend im Frieden

Musik
Sport
Schule
Fahrten

3. Studium in Münster

Industriearbeit
Lehrerstudium
Studentenleben
Das erste "Auto"
Im Vlothoer "Bildungskonzern"

4. Der erste Beruf: Jugendhof Steinkimmen

5. Assistent in Kiel

6. Pädagogische Hochschule Göttingen

Der "Eigengeist" der Hochschule und die Universität
Anpassungsschwierigkeiten
Forschung
Integration in die Universität
Vielfächerstudium
Studentenbewegung
Niedergang der Hochschule
"Praxisorientierung"
Schließung der Fakultät

7. Lust und Frust der Lehrtätigkeit

Überfüllung
Prüfungen
Schreiben als Identitätssuche
Ansätze einer Aneignung
Erneut "Politische Bildung"
Familiäres
Fazit: Vom Nutzen des Studiums für die pädagogische Praxis

8. Auf dem Weg in die Emeritierung

NS-Pädagogik
Schul- und Bildungskritik
Ausblick

9. Nachtrag 2017

Vorwort zur 2. Auflage

Die erste Auflage dieser autobiografischen Skizzen habe ich kurz nach meiner Emeritierung 1997 verfasst. Damals konnte ich nicht voraussehen, dass ich danach noch zahlreiche Jahre für weitere Tätigkeiten und Publikationen zur Verfügung haben würde. Von dieser Zeit soll in einem "Nachtrag 2017" ergänzend die Rede sein.

Der Text der ersten Auflage wurde grundsätzlich beibehalten, lediglich sachliche Korrekturen wurden vorgenommen und an manchen Stellen Behauptungen oder Argumentationen ausführlicher erklärt. Dabei musste unter anderem berücksichtigt werden, dass die autobiographische Deutung von Erfahrungen sehr von dem Zeitpunkt abhängt, an dem sie erfolgt. Das gilt insbesondere für die Sicht der eigenen Rolle in konflikthaften Situationen.

Bedeutsam für die Neuauflage ist ferner, dass meine im Text erwähnten Veröffentlichungen inzwischen als Volltext oder zumindest mit ausführlichen Hinweisen auf meiner Homepage zur Verfügung stehen.
 http://giesecke.uni-goettingen.de 
Auf den genauen Ort innerhalb der Homepage wird in den Fußnoten jeweils verwiesen.

Die in der 1.  Auflage enthaltene "Liste der Veröffentlichungen" kann entfallen, weil sie nun sinngemäß  - aufgeteilt auf verschiedene Rubriken - auf der Homepage zu finden ist und dort jeweils aktualisiert werden kann.

http://giesecke.uni-goettingen.de/gesverz.htm

Hermann Giesecke, Göttingen Sommer 2017


 
Einleitung

Lebenserinnerungen sind keine zuverlässige Quelle für das Herausfinden der Wahrheit; das lernt jeder Historiker schon im Proseminar. Sie sind selbst dann noch lückenhaft, parteilich und rechtfertigend, wenn ihr Verfasser sich die größte Mühe gibt, solche Mängel in Grenzen zu halten. Eine derartige Erfahrung kann jeder machen, der etwa mit Freunden nach längerer Zeit über eine gemeinsam erlebte Situation spricht. Was wirklich geschah, spiegelt sich wider in den je subjektiven Erinnerungen und Deutungen. Aber je mehr solcher Deutungen formuliert werden, um so genauer schälen sich die Fakten heraus, kommt man der Wahrheit näher. Insofern macht es Sinn, Erinnerungen aufzuschreiben. Wer sie liest, kann sie vergleichen mit eigenen einschlägigen Erfahrungen in ähnlichen Situationen - was wohl auch den eigentümlichen Reiz der Lektüre von Autobiographien ausmacht.

In diesem Sinne hat die Sozialforschung versucht, im Rahmen der "oral history" Menschen zum Sprechen zu bringen, um neben der offiziellen Geschichtsschreibung eine "Geschichte von unten" erzählen zu können, so wie sie sich in der täglichen Erfahrung der Menschen niedergeschlagen hat. Davon erhofft man sich eine Verlebendigung und möglicherweise auch eine Korrektur dessen, was man in den einschlägigen Geschichts- und Schulbüchern lesen kann, aber als Ersatz für die methodisch bewusste historische Forschung und Darstellung taugen sie nicht.

Andererseits besteht Geschichte insgesamt ja aus dem wechselseitigen Handeln der jeweils Lebenden, aus den leitenden Motiven und den Zielen, die sie dabei verfolgen, aus der Art und Weise, wie sie einander Probleme verschaffen beziehungsweise diese zu lösen versuchen, aus vielerlei Ängsten, Hoffnungen und Enttäuschungen. Manche Beteiligte haben größere Chancen, ihren Willen durchzusetzen, und erscheinen deswegen in den Geschichtsbüchern, andere vermögen kaum über ihren unmittelbaren Lebenskreis hinaus zu wirken. In jedem Fall aber verläuft das einzelne Leben im Rahmen allgemeiner historischer Entwicklungen, wie viel oder wenig diese von ihm auch beeinflusst sein mögen.

Ich wurde 1932 in einer Zeit des äußeren Friedens, aber der innenpolitischen Polarisierung, der Massenarbeitslosigkeit und des wirtschaftlichen Verfalls als Kind armer Leute geboren. Meine Kindheit habe ich im NS-Staat und im Krieg verbracht. Über diese Zeit habe ich eine Reihe autobiographischer Zeugnisse gelesen, aber sie stimmen nur teilweise mit meinen Erinnerungen überein. Obwohl Nazizeit und Krieg mit ihrer objektiven Wucht über alle Deutschen hereinbrachen, gab es offenbar erstaunlich viele Varianten der kollektiven wie individuellen Lebensgestaltung. Das galt erst recht für die Zeit nach dem Kriege, in der ich meine Jugend und Studienzeit erlebte. Heute erscheint diese Epoche des sich entfaltenden Adenauer-Staates nicht wenigen entweder als eine reaktionäre oder zumindest als restaurative, oder sie wird nostalgisch verklärt. Mit beiden Deutungen kann ich rückblickend wenig anfangen. Für mich war es eine vor allem wirtschaftlich schwierige Zeit, aber auch eine voller Hoffnungen und Perspektiven, mit weitgehend offenen Horizonten, in der nach den Zerstörungen des Krieges der Blick nach vorne gerichtet wurde und jeder seines Glückes Schmied zu sein schien. Trotz aller Armut gerade in unseren Kreisen war die Grundstimmung optimistisch. Der Krieg hatte die sozialen Klassen und Schichten sowie die Landsmannschaften durcheinander gewirbelt, deshalb boten sich danach für einen jungen Menschen berufliche Karrieren an, die in einer fest gefügten, statisch stabilen Gesellschaft kaum möglich gewesen wären. Paradoxerweise bot ausgerechnet der Krieg mir die Möglichkeit, ein Gymnasium zu besuchen, weil mein Vater Soldat war und deshalb für mich das Schulgeld entfiel, das meine Eltern nicht hätten aufbringen können. Dass die berufliche Karriere nach dem Krieg bis zum Professor reichen sollte, war in unseren Kreisen ungewöhnlich und nicht vorauszusehen. Sie war jedoch nicht das Resultat einer schon früh bewussten und gezielten Lebensplanung, sondern eher ein Ergebnis glücklicher Zufälle. Dieser Aufstieg erfolgte allerdings zu einer Zeit, als der Status des Professors seine Exklusivität verlor und einer quantitativen wie qualitativen Entwertung entgegenging. Daraus entstand für mich ein Widerspruch zwischen dem Ideal des Professors und des Studenten, wie ich beides in meinem Studium erfahren und verinnerlicht hatte, und der Wirklichkeit an der Hochschule, in der ich dann selbst als akademischer Lehrer tätig war; mannigfache Schwierigkeiten mit meinem Beruf waren die Folge.

Zu den Zufällen meiner beruflichen Karriere gehörte, dass ich bei der Pädagogik beziehungsweise Erziehungswissenschaft gelandet bin, obwohl ich dieses Fach bis zu meiner Promotion eher am Rande studiert und nicht besonders ernst genommen hatte. In diesem Metier standen die Sterne insofern günstig, als diese Wissenschaft erst mit meiner Generation jene moderne Grundlegung und Struktur erhielt, die sie bis heute hat. Insofern steckt in meinem Bericht über meine eigene wissenschaftliche Entwicklung zugleich ein Stück Geschichte dieser Disziplin selbst.

Mein sozialer Aufstieg hat jedoch auch seinen Preis gehabt - Entfremdung von der Herkunftsfamilie und ihrem sozialen Milieu, innere Einsamkeit, psychosomatische Reaktionen und Fluchten, eine gescheiterte Ehe. Bewusst wurden mir solche Zusammenhänge allerdings erst später, gegen Ende meiner Berufstätigkeit, als ich die Muße fand, ohne den Stress der frühen und mittleren Jahre darüber nachzudenken.

Wer über sein Leben schreiben will, sucht wohl immer nach Kontinuitäten, nach Maximen, die den ständigen Wechselfällen Stabilität verliehen haben und deshalb das Vergangene nachträglich zu ordnen vermögen. Dafür bietet sich in erster Linie die äußere Karriere an, wie sie als Grundform in jedem Lebenslauf zu finden ist, der etwa für eine Bewerbung zu Papier gebracht wird. Einen solchen Text musste ich zum ersten Mal für die Zulassung zum Abitur verfassen. Ich sollte dabei vor allem Rechenschaft ablegen über meine geistigen Interessen, über meine Stellung zu wichtigen Fragen des Lebens und über meine Zukunftspläne. Ich weiß noch, dass ich diesem Ansinnen nur widerwillig entsprach, weil ich meinte, das alles ginge die Schule nichts an. Mit Lehrern meines Vertrauens hatte ich darüber ohnehin schon von mir aus mehr oder weniger intensiv gesprochen; denn wie es nach dem Abitur weitergehen sollte, war keineswegs abgemacht. Aber grundsätzlich ergibt es schon Sinn, die Geschichte eines Lebens nach den Stufen der Karriere zu ordnen - was dazu geführt hat und wie sie verlaufen ist. So verfahre ich auch, wobei ich die letzte Station - meine Professorentätigkeit - in zwei Kapitel aufgeteilt habe, einem institutionellen und einem praktischen, weil sonst die Darstellung zu komplex und kompliziert geworden wäre.

Mit der äußeren Gliederung korrespondiert ein durchgehendes inhaltliches Motiv, das im Stichwort "Lernen" zum Ausdruck kommt. Beides hängt miteinander zusammen, weil die Karriere nicht möglich gewesen wäre ohne einen beständigen und disziplinierten Lernwillen. Lernen ist bekanntlich eine der fundamentalen Chancen des Menschen im Unterschied zum Tier. Es ermöglicht die Emanzipation vom Herkunftsmilieu, befriedigt die Neugier auf Fremdes und Unbekanntes, fördert Selbständigkeit und Unabhängigkeit und klärt über die Welt und damit über das auf, was sich außerhalb des eigenen Selbst befindet. Nur durch Lernen kann der Mensch die Hilflosigkeit, in die ihn seine Geburt versetzt, das lebensnotwendige Angewiesensein auf die Fürsorge anderer, allmählich überwinden. Insofern ist es selbstverständlich und keineswegs außergewöhnlich, dass ein Mensch im Laufe seines Lebens immer wieder etwas lernt.

In meinem Fall spielte Lernen jedoch aus zwei Gründen eine besondere Rolle: Zum einen stamme ich als Arbeiterkind des Ruhrgebiets aus einer "bildungsfernen Schicht" - wie man später sagte; wollte ich diesen Herkunftsstatus überwinden, also testen, wozu ich geistig fähig sein könnte, musste ich mich stärker als 'die Kinder aus gutem Hause' anstrengen, denen beim schulischen oder akademischen Scheitern nicht so schnell der Fall ins Leere droht. In der Generationenfolge meiner Familie war ich nach meiner Kenntnis der erste, der ein Gymnasium besuchte und auch das Abitur ablegte. Da niemand aus der Familie über entsprechende Erfahrungen verfügte, war auch eine adäquate geistige Unterstützung nicht möglich, die andererseits, wie wir wissen, für den Schulerfolg der Kinder von großer Bedeutung ist. So war ich weitgehend darauf angewiesen, mich selbst von innen heraus zu motivieren, etwa im Sinne der "Innenlenkung", wie sie der Soziologe David Riesman beschrieben hat.  Dieser Persönlichkeitstypus, so Riesman, verlasse sich weniger auf die Zustimmung der anderen, sondern auf eine Art von "innerem Kompass". Allerdings hielt Riesman diesen Typus im Unterschied zur der Gegenwart verhafteten "Außenlenkung" für historisch überholt, er sei vorherrschend im 19. Jahrhundert bis zur ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts gewesen; daran gemessen war ich Zeit meines Lebens eher ein Fossil aus dem vorigen Jahrhundert; denn bis heute gebe ich diesem "inneren Kompass" im Zweifel den Vorrang vor den Reaktionen "der anderen".

Selbstverständlich hat mein Leben nicht nur aus Lernen bestanden, wie der Titel des Buches nahe legen könnte. Zudem ist niemand, wenn er über sich spricht, frei von Selbststilisierungen, und möglicherweise ist das Lernmotiv ebenfalls von dieser Art. Ich glaube jedoch, dass es in meinem Fall eine besondere Bedeutung hatte und immer noch hat. Damit ist nicht gemeint, dass ich ein besonders guter Schüler oder fleißiger Student gewesen wäre, vielmehr handelt es sich eher um die allerdings nie recht bewusst gewordene Einstellung, allen Lebenssituationen, denen ich ausgesetzt war, dadurch etwas abzugewinnen, dass ich zusah, was ich daraus lernen konnte. In meiner Kindheit und Jugend war es teilweise ein Gebot der Not. Wollte ich die engen materiellen, aber auch geistigen Verhältnisse, in die ich hineingeboren worden war, überwinden, musste ich meine Fähigkeiten so weit wie möglich zu entfalten trachten. Später, in der Studienzeit, kam so etwas wie Genuss hinzu, den Dingen auf den Grund gehen zu können. Als ich Wissenschaftler geworden war, war ich schon von Berufs wegen darauf angewiesen, immer wieder Neues zu recherchieren, das gehört zum Selbstverständnis eines akademischen Lehrers. Dass ich Erziehungswissenschaftler geworden bin, war gewiss eher ein Zufall, aber im Hinblick auf mein Naturell auch ein Glücksfall, weil das Motiv des Lehrens und Lernens bei dieser Disziplin im Mittelpunkt steht. Ich habe einen Beruf ergriffen, dessen Leitmotiv das menschliche Lernen ist. Persönliche und berufliche Erfahrungen verschmolzen also über das Motiv des Lernens miteinander und ergänzten sich.
 
Wenn Lernen jedoch zur dominanten Lebensmaxime wird, droht eine problematische Kehrseite. Als ich einmal im Kreise von Freunden begeistert davon sprach, wie viel Freude es mir mache, immer wieder etwas Neues zu lernen, antwortete mir ein Psychologe: "Du bist so lernbegierig, weil du auf diese Weise dem Tod davonlaufen willst. Lernen ist für dich identisch mit Leben." Diese damals eher schmunzelnd hingeworfene Bemerkung erscheint mir heute durchaus bedenkenswert, insofern sie vielleicht darauf hinweist, dass ein erfülltes Leben aus mehr bestehen muss, als aus leistungsorientiertem, mühseligem, Kraft verzehrendem Lernen (und Arbeiten). Gelingendes Leben beruht zu einem guten Teil auch auf unreflektierten Selbstverständlichkeiten, die nicht in Frage gestellt werden dürfen, weil sonst die Menschen irritiert werden, die einem nahe stehen, und ein die Identität bedrohender Selbstzweifel um sich greift. Lernen bedeutet ja immer auch, Denken, Einstellungen und Verhalten zu ändern, und das kann man sich und anderen nur bis zu einem bestimmten Grade zumuten. Lernen beginnt immer mit Kritik an etwas, was andere für wichtig und bedeutsam halten, und möglicherweise habe ich gelegentlich durch Rigorosität auch Kränkung hinterlassen.
 
Wenn ich nun wesentliche Erlebnisse, Erfahrungen und Interpretationen meines Lebens zu beschreiben versuche, bin ich mir darüber im klaren, dass dies keine wissenschaftlich überprüfte, sondern lediglich eine subjektive Darstellung sein kann. Aber vielleicht liegt gerade darin ein Reiz - nicht nur für mich, sondern auch für den einen oder anderen Leser. Die Aufzeichnungen sind im wesentlichen nach den biographischen Stationen meines Lebens, also in zeitlicher Reihenfolge, geordnet: Kindheit, Jugend, Studium, erste Berufstätigkeit, wissenschaftliche Laufbahn vom Assistenten bis zum Professor. Dass bei der Betrachtung der letzten Stationen viel von meinen Publikationen die Rede ist, entspringt nicht der Eitelkeit, sondern ist der Versuch, mir den inneren Zusammenhang meines beruflichen Arbeitens bei dieser Gelegenheit selbst noch einmal klarzumachen, in diesem Sinne also etwas hinzuzufügen, was in den veröffentlichten Texten nicht enthalten ist und auch nicht sein kann.

Ich schulde vielen Menschen Dank für ihre Liebe, Freundschaft oder Kollegialität; bei weitem nicht alle habe ich namentlich erwähnt. Umgekehrt hoffe ich, dass, wer mich kennt und das folgende liest, sich nicht ungern an mich erinnert.