Hermann Giesecke

Didaktik der Politischen Bildung

München: Juventa-Verlag 1965

VIERTER TEIL: POLITISCHE DIDAKTIK ALS PÄDAGOGISCHE THEORIE DES POLITISCHEN

© Hermann Giesecke

Inhaltsverzeichnis

Zu dieser Edition:
Dieses Buch geht auf einen Teil meiner (ungedruckten) Kieler Dissertation "Die Tagung als Stätte politischer Jugendbildung" zurück, der für den Druck seinerzeit erheblich überarbeitet wurde. Es basiert auf praktischen Erfahrungen in der außerschulischen politischen Jugendbildungsarbeit, die ich unter dem Titel "Politische Bildung in der Jugendarbeit" 1966 veröffentlicht habe.
Weggelassen wurden zwei vorangestellte Motti und das Vorwort. Über den damaligen politisch-pädagogischen Hintergrund finden sich nähere Angaben in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen.
Das  Literaturverzeichnis befindet sich auf dem Stand des Erscheinungsjahres 1965.
Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurde das Original jedoch nicht verändert.  Um die Zitierfähigkeit zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.
Die hier wiedergegebene Erstfassung wurde in der 3. Aufl. 1968 durch  den Abdruck  kritischer Einwände und eine Replik darauf erweitert. Mit der 7. Aufl. 1972 ("Neue Ausgabe")  wurde der Text grundlegend umgearbeitet; diese Neufassung wurde  mit der 10. Auflage 1976 um einen Nachtrag ergänzt, der die Diskussion des Themas seit 1972 aufzugreifen versucht.

Das Buch steht auch als PDF-Datei (483 KB) zur Verfügung.

Der Text darf zum persönlichen Gebrauch kopiert und unter Angabe der Quelle im Rahmen wissenschaftlicher und publizistischer Arbeiten wie seine gedruckte Fassung verwendet werden. Die Rechte verbleiben beim Autor.

© Hermann Giesecke

Inhalt

Vierter Teil: Politische Didaktik als pädagogische Theorie des Politischen

Die politische, wissenschaftliche und pädagogische Unbestimmbarkeit der Lehrinhalte
Die kritische Funktion der politischen Didaktik
Die konstruktive Funktion der politischen Didaktik
Auf der Suche nach einer "allgemeinen Didaktik"



VIERTER TEIL: POLITISCHE DIDAKTIK ALS PÄDAGOGISCHE THEORIE DES POLITISCHEN

 
 

Die politische, wissenschaftliche und pädagogische Unbestimmbarkeit der Lehrinhalte

Es ist kein Zufall, daß die Neubesinnung der Erziehungswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg eng mit dem Begriff der Didaktik verknüpft ist. Wie nie zuvor ist dieser Begriff zu einem Schlüsselbegriff geworden, von dem man sich die Lösung zahlreicher Schwierigkeiten der pädagogischen Theorie und Praxis verspricht. Es ist unmöglich, in einem knappen Schlußteil die Fülle der Anregungen und Überlegungen auch nur einigermaßen zuverlässig wiederzugeben oder sich gar in die zum Teil weit vorgetriebenen Einzelerörterungen zu diesem Thema einzulassen. Dazu müssen wir den Leser auf die im Literaturverzeichnis genannten Arbeiten von Heimann, Klafki und Scheuerl verweisen, die selbst wiederum zahlreiche Arbeiten zusammenfassen. Wir lassen diese Diskussion weitgehend unberücksichtigt und konzentrieren uns auf eine nähere Bestimmung des Begriffes "politische Didaktik" unter Berücksichtigung der allgemeinen didaktischen Problematik, wie sie sich aus unserem Blickwinkel stellt. Wenn wir weiterhin davon ausgehen, daß Didaktik sich mit den Lehr- und Lerninhalten beschäftige, so muß man zunächst fragen, weshalb diese Inhalte denn so problematisch geworden sind. Warum bleiben alle Versuche, diese Inhalte zu fixieren, fragwürdig?

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1. Die Lehrinhalte sind politisch unbestimmbar geworden. Die Kritik an den Lehrplänen und Bildungszielen der Schulen ist in ihrem Kern eine politische Kritik. Sie bricht in dem Augenblick auf, wo die "Fundamentaldemokratisierung" der Gesellschaft zur Debatte steht. Bis 1918 waren Lehrplanentscheidungen in Deutschland solche des autoritären Staates, der sich dabei der Hilfe der Kirchen und anderer konservativer Gruppen bediente. Die Schule geriet damit in den Widerspruch zwischen gesellschaftlicher und politischer Demokratisierung. In dieser Zeit war die Kritik an der Schule in ihrem Kern auch immer politische Kritik - selbst dort, wo sie sich scheinbar nur pädagogischer Argumente bediente. Spätestens nach der Revolution von 1918 stellte sich das politische Problem der Erziehungs- und Bildungsinhalte in unüberhörbarer Weise. Nachdem das politische Entscheidungsmonopol der bis dahin bestimmenden konservativen Gruppen gebrochen war, mußte neu geklärt werden, wie in einer nun pluralistischen Gesellschafts- und Staatsverfassung Erziehungs- und Bildungsziele und damit auch Stoff- und Lehrplanentscheidungen trotz der widersprüchlichen gesellschaftlichen Kräfte einheitlich hergestellt werden könnten. Einerseits benötigt die großorganisierte Gesellschaft ein relativ einheitliches und klar gegliedertes Erziehungs- und Bildungssystem; andererseits werden die Ziele und Inhalte in dem Maße umstritten, wie nun alle gesellschaftlichen Gruppen grundsätzlich an ihrer Festsetzung beteiligt werden müssen. Aber in den Jahren von 1918 bis 1933 wurde die Gelegenheit verspielt, die notwendig gewordene Politisierung des Bildungswesens vernünftig, das heißt nach demokratischen, rational kontrollierbaren Spielregeln zu gestalten. Gerade die Erziehungswissenschaft wich mit ihrem Autonomiebegriff und mit reformpädagogischen Vorstellungen diesem Problem - teilweise ganz bewußt - aus. Insofern die herrschende Pädagogik der zwanziger Jahre den Zusammenhang zwischen der Fundamentaldemokratisierung und den Lehrinhalten nicht begriff, war sie Teil des damaligen antidemokratischen Denkens.

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2. Die Lehrinhalte sind wissenschaftlich unbestimmbar geworden. Mit dem Aufkommen der positiven Wissenschaften zerfällt die Einheit von Theorie und Praxis, und dieser Zerfall dringt nachdrücklich in das allgemeine Bewußtsein ein. Die "Lebensphilosophie" und die weltanschaulichen Theorien der Jahrhundertwende sind sich dieses Problems mehr oder weniger genau bewußt. Wissenschaftliche Erkenntnis der Welt einerseits und Anwendung der Erkenntnisse zur Verbesserung menschlicher Verhältnisse andererseits beruhen nicht mehr auf demselben Denkakt. Der Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnis gründet sich auf der wissenschaftlichen Arbeitsteilung und entwickelt sie weiter. Aber der spezialisierte Gesichtspunkt der einzelnen Wissenschaft verrät selbst nicht mehr den Zugang zum Ganzen einer politischen oder pädagogischen Handlungssituation, von dem er nur ein Teilaspekt ist. Die Folge ist, daß sich der Zusammenhang einer Vorstellungswelt nicht mehr von selbst aus dem Erkenntniszusammenhang der Wissenschaften ergibt - was noch die große Hoffnung der Aufklärer war - , sondern erst dann, wenn eine bestimmte Handlungssituation sie erfordert oder wenn sie wie in der Schule eigens geplant und veranstaltet wird. Das läßt sich am nachdrücklichsten für das politische Handeln zeigen. Ein Politiker, der Wissenschaftler zu Beratern hat, stiftet dadurch die Einheitlichkeit der Vorstellungen, daß er die Ergebnisse der Beratung in seinen politischen Willen integriert. Ähnliches gilt für den handelnden Pädagogen. Eine psychologische Untersuchung zum Beispiel über Reifungsprobleme von 17jährigen ist an sich nur potentiell pädagogisch. Sie wird pädagogisch manifest erst in dem Augenblick, wo der handelnde Pädagoge deren Einsichten - sagen wir im Lateinunterricht - berücksichtigt. Dann aber hat sie aufgehört, eine bloß psychologische Aussage zu sein, weil sie nun nämlich in einem ganz bestimmten Zusammenhang mit anderen Aussagen steht und als benutzte Aussage neu interpretiert wurde. In dem Maße also, wie Theorie und Praxis auseinanderfallen, werden eigentümliche wissenschaftliche Anstren-

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gungen erforderlich, beides wieder zusammenzubringen. Wissenschaftliche Ergebnisse ändern aber ihren Charakter, wenn sie zur Verbesserung einer Praxis benutzt werden.

Die damit auftauchenden Probleme sind nicht dadurch gelöst, daß Naturwissenschaftler philosophieren oder Historiker sich Gedanken über Geschichtspädagogik machen. Es geht nicht darum, daß einzelne den begrenzten Gesichtspunkt ihres Faches überwinden, sondern darum, ein Strukturproblem aller gegenwärtigen Wissenschaft zu beschreiben: daß nämlich die Integration der fächerübergreifenden Wissenschaftserkenntnisse eigener methodischer Kontrollen bedarf, die nicht mehr selbstverständlich aus den Methoden des normalen Forschungszusammenhangs erwachsen.

Da nutzt auch wenig der Hinweis auf die Wissenschaftlichkeit der einzelnen Fächer und auf die wissenschaftliche Ausbildung der Lehrer. Gewiß ist jede Lehre, die wissenschaftlich unhaltbar ist, auch pädagogisch unsinnig. Aber damit lassen sich eben immer nur bestimmte Teilprobleme entscheiden. Der innerhalb eines Schulfaches oder gar durch die Kombination mehrerer Fächer gestiftete geistige Zusammenhang ist auch dann nicht unbedingt ein wissenschaftlicher, wenn in den einzelnen Fächern selbst mit wissenschaftlicher Redlichkeit unterrichtet wird. Der planend-systematische Gang des Unterrichts stellt selbst erst eine bestimmte Weltvorstellung her, die es ohne ihn gar nicht gäbe. Übersieht man diese Schwierigkeit - wie im Falle der von uns kritisierten "Fächerkombination" - , so können sich zahlreiche Lehrinhalte als fachwissenschaftlich begründet gebärden, die es ihrer Natur nach nicht sein können, und damit der Entstehung dem Anschein nach wissenschaftlich legitimierter Vorurteile Tür und Tor öffnen. Die bloße Meinung reicht dann weit in das hinein, was in Wahrheit wissenschaftlich nach "richtig" und "falsch" zu klären wäre, und der notwendige irrationale Spielraum wird unter wissenschaftlichen Vorwänden mit problematischen Eindeutigkeiten ausgestattet.

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3. Die Lehrinhalte sind pädagogisch unbestimmbar geworden. Dem widerspricht aber die überlieferte Autonomievorstellung der Pädagogik. Lehrplanentscheidungen und Fragen der Lehrinhalte der einzelnen Fächer gelten ihr im wesentlichen als pädagogische Fachfragen, für die insbesondere Lehrer und Erzieher zuständig zu sein haben. In Gegnerschaft gegen die Politisierung einerseits, aber auch gegen die wissenschaftliche Rationalität andererseits wurde vor allem seit 1918 mit Begriffen wie "Bildungsgehalt", "Bildungssinn", "Bildungsziel" oder "Bildungsaufgabe" der Anschein erweckt, als ob Lehrplan- und Stoffplanentscheidungen so getroffen werden könnten, daß man nur mit hinreichender pädagogischer Intuition die "bildenden" Teile aus den übrigen Stoffmassen heraussondern müsse. Wenn heute noch in einem ernstzunehmenden Sinne von "pädagogischer Autonomie" gesprochen wird, dann ist damit die einfache Wahrheit gemeint, daß alle kritische Reflexion einer gewissen Unabhängigkeit vom Kritisierten bedarf. Die pädagogische Autonomievorstellung verwandelte in Wahrheit politische Entscheidungen in pädagogische Fachfragen. Diese Denkweise wirkt noch heute nach, wenn es etwa bei Klafki heißt, daß das didaktische Feld von einem Punkte aus aufgeschlüsselt werden müsse: "von der pädagogischen Verantwortung vor dem jungen Menschen, der den Sinn seines Lebens als Kind und Jugendlicher erfüllen und zugleich schrittweise in seine Mündigkeit hineinwachsen soll. Hier, in der pädagogischen Verantwortung, liegt die 'Generalinstanz' didaktischer Entscheidungen ... " (70, S. 101).

Klafki setzt offenbar voraus, daß über "den (!) Sinn" des jugendlichen Daseins und über die "Mündigkeit" des Erwachsenen in unserer Gesellschaft hinreichende Einigkeit besteht oder wenigstens bestehen könnte. Nur dann hätte es Sinn, die "Verantwortung" des Erziehers derart in den Mittelpunkt einer allgemeinen Didaktik zu stellen. Gilt diese Voraussetzung aber nicht, dann täuscht der Terminus "Verantwortung" nur eine Aufklärung des pädagogischen Handelns vor, das er in Wahrheit nur weiter verdunkelt;

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denn selbstverständlich kann diese Voraussetzung gar nicht allgemein gelten. Wer "Mündigkeit" sagt, identifiziert sich - wenn damit überhaupt etwas gesagt sein soll - mit der aufklärerischen Tradition: also mit Kant, Marx, Nietzsche und Freud. Damit tritt er aber für etwas ein, was in unserer Gesellschaft erst noch politisch durchgesetzt werden muß, bevor es allgemeiner Konsensus in der Erziehung sein kann. Während alle gesellschaftlichen Teilgruppen sicherlich ihre Glieder politisch "mündig" machen wollen, weil sonst ihre politische Existenz auf dem Spiele steht, wird die Forderung nach Mündigkeit auf anderen, immer noch von den Bezugsgruppen kontrollierten Gebieten auf erbitterten Widerstand stoßen (zum Beispiel auf dem Felde der Sexualerziehung). Solche gewichtigen Unterschiede geraten aus dem Blick, wenn man den Begriff der Mündigkeit undifferenziert in grundsätzlichen Zusammenhängen benutzt.

Die Klafkis Argumentation zugrunde liegende Vorstellung von der Stellvertretung des Erziehers für den Zögling ist heute in dieser Form nicht mehr aufrechtzuerhalten. Entweder bezieht man sie auf den je einzelnen Erzieher, dann ist aber der subjektiven und willkürlichen Weltansicht Tür und Tor geöffnet. Oder man bezieht sie auf die pädagogische Theorie und Praxis im ganzen, dann aber ist sie an eine unzuständige Allgemeinheit gekoppelt; denn das, was jeweils damit konkret gemeint ist (Kindgemäßheit, Jugendgemäßheit, Schutz für das Ausreifen usw.), ist heute Bestandteil des allgemeinen Bewußtseins über die Bedürfnisse des Menschen. Seitdem der Erzieher als Erzieher angesichts der wirklichen gesellschaftlichen Verhältnisse gar nicht mehr die Möglichkeit hat, auch nur für einen einzigen Zögling diese Vorstellungen selbst zu realisieren, ist er auf den politischen Weg verwiesen, bestimmte Verhältnisse mit herzustellen und andere zu bekämpfen. Nicht mehr als Erzieher, sondern nur noch als Staatsbürger - also gerade unter Abstraktion von der Tatsache, daß er Erzieher ist - kann er das mit "Stellvertretung" Gemeinte zusammen mit anderen Bürgern realisieren. Bewegt man

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sich dennoch weiterhin im Raum traditionell begrenzter pädagogischer Fragestellungen, umgibt man also weiterhin etwa die Unterrichtsinhalte mit dem nicht zufälligen Pathos solcher Begriffe wie "Verantwortung", "Mündigkeit" und "Stellvertretung", dann wird die pädagogische Reflexion zu einem Alibi für möglicherweise jugendfeindliche gesellschaftliche Verhältnisse und zu einer unentwegten Täuschung für alle am Erziehungsprozeß Beteiligten.

Auch der Versuch, mit den Begriffen des "Fundamentalen", "Elementaren" und "Exemplarischen" die Lehrinhalte zu bestimmen, kann nicht befriedigen. Dies sind in Wahrheit gar keine didaktischen Begriffe, weil sie nämlich voraussetzen, für was etwas "fundamental", "elementar" und "exemplarisch" sein soll. Keine Sache hat einen pädagogischen Gehalt, den man nicht vorher hineingelegt hätte. Die wissenschaftlich aufgeklärten Sachverhalte lassen sich nur dann verkürzen, wenn jemand diese Kürzung unter außerhalb der Sache selbst liegenden Gesichtspunkten - zum Beispiel solchen des Unterrichts - vornimmt. Wenn man nun nicht mehr genau unterscheidet, ob "das Elementare" dem Sein der Sache selbst entspricht oder nur eine Form ihrer Widerspiegelung im Bewußtsein ist, dann kann es auch keine rationalen Orientierungspunkte für die Diskussion über Lehr- und Lerninhalte mehr geben.

Die kritische Funktion der politischen Didaktik

Der erste Ausgangspunkt aller Didaktik muß also sein, daß die Lehrgehalte weder politisch noch wissenschaftlich oder pädagogisch eindeutig bestimmbar sind. Sie sind in politischer, in wissenschaftlicher und pädagogischer Hinsicht mehrdeutig. Gerade deshalb aber wird didaktische Reflexion notwendig. Denn nun stehen wir vor einer ganzen Reihe von Verlegenheiten, Problemen und Schwierig-

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keiten, die schon deshalb der wissenschaftlichen Aufklärung bedürfen, weil anders offenbar keine Verbesserung der pädagogischen Verhältnisse erreicht werden kann. Die Lehrinhalte müssen entschieden werden, aber was entschieden werden muß, muß zunächst einmal aufgeklärt werden. Für die Aufklärung dieser Zusammenhänge steht die wissenschaftliche Bemühung der Didaktik. Damit ist schon gesagt, daß Didaktik wohl in der herkömmlichen Spezialisierung der Wissenschaften begründet, aber keineswegs einfach als neue Spezialität aus ihr entlassen worden ist. Sie gehört vielmehr zu jener neuen Gruppe von Wissenschaften, die sich nicht in der Spezialisierung der Fachwissenschaften angesiedelt haben, sondern sich von vornherein der Aufklärung bestimmter kollektiver Daseinsfragen zugeordnet wissen. So wie es seit einiger Zeit in den USA eine "Wissenschaft vom Frieden" gibt, deren Aufgabe es ist, in fächerübergreifender Weise sorgfältig die Bedingungen und Möglichkeiten des Friedens zu untersuchen, genauso und aus ähnlichen Gründen muß es eine wissenschaftliche Beschäftigung mit den Fragen geben, die durch die Mehrdeutigkeit der Erziehungs- und Bildungsinhalte aufgeworfen sind. Klafki (70, S. 114) irrt, wenn er annimmt, wir benötigten auch dann eine Didaktik der politischen Bildung, wenn es keine politische Wissenschaft gäbe. Es sind vielmehr dieselben Gründe, die beide Formen der politischen Reflexion hervorgebracht haben.

Der Gegenstand

Damit ist der Gegenstand der politischen Didaktik im allgemeinen Sinne bereits bezeichnet. Die politische Didaktik geht davon aus, daß in unserer Gesellschaft allenthalben politische Bildung und Erziehung geschieht, daß das, was da geschieht, umstritten ist und nicht mehr auf selbstverständlicher Übereinstimmung beruht. Da aber andererseits eine solche Übereinstimmung, wenn auch nur als pragmatischer Kompromiß, hergestellt werden muß, weil

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anders kein durchrationalisiertes Erziehungssystem bestehen könnte, versucht sie alle dafür und dabei wesentlichen Zusammenhänge soweit wie möglich aufzuklären. Vereinfacht gesagt: sie kritisiert, was ist. Dabei wird ihr Gegenstand von zahlreichen anderen Wissenschaften, insbesondere den Sozialwissenschaften, ebenfalls erreicht, und ohne deren Ergebnisse kann sie selbst gar nicht arbeiten. Aber in zweierlei Weise ist sie dem Gegenstand der politischen Erziehungs- und Unterrichtsinhalte in besonderer Weise verbunden: Erstens beschäftigt sie sich gleichsam hauptberuflich mit ihnen, also in kontinuierlicher Reflexion. Zweitens versteht sie ihn als Totalität, als einen ungemein komplexen Zusammenhang von Theorie und Praxis. Wenn man will, kann man daraus weiterhin eine "Autonomie" der Didaktik ableiten.

Überall dort, wo Erziehungswissenschaft sich heute auf begrenzte Fragestellungen einstellt, gerät sie mit anderen hochspezialisierten Wissenschaften in eine hoffnungslose Konkurrenz. Der "pädagogische Bezug" zum Beispiel ist - für sich genommen - ein Gegenstand der Kommunikationsforschung, der ja auch normative Probleme nicht fremd sein müssen. Erst von einer bestimmten Reichweite an fällt dieser Gegenstand wieder aus dem Forschungsbereich der Kommunikationsforschung heraus, und erst dann, wenn er so umfangreich vorgestellt wird, daß Probleme der Synthese entstehen, wird eine erziehungswissenschaftliche Betrachtung notwendig. Oder anders: es kann schon deshalb keine positivistische Erziehungswissenschaft geben, weil deren mögliche Gegenstände immer in die kompetentere Zuständigkeit einer anderen positivistischen Disziplin fallen würden. Deshalb ist es auch erst dann sinnvoll, von einer politischen Didaktik zu sprechen, deren Gegenstand die politischen Lehr- und Lerngehalte seien, wenn das Problem der Inhalte als ein fächerübergreifender Zusammenhang bestimmt wird, der deshalb geklärt werden muß, weil er sich auch dem politischen und pädagogischen Handeln so und nicht etwa spezialistisch stellt.

Es ist nützlich, auch hier wieder zunächst mit einem opera-

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tiven Modell zu arbeiten. Wenn wir also im folgenden die Reichweite der politisch-didaktischen Fragestellung beschreiben, so muß man im Gedächtnis behalten, daß jede Frageebene für sich genommen in den Zuständigkeitsbereich bestimmter Fachwissenschaften fällt, daß also erst ihr Zusammenhang die didaktische Fragestellung ausmacht.

Kritik der politischen Entscheidung

Zunächst muß die politische Didaktik offensichtlich die politischen Verfahren von Lehr- und Stoffplanentscheidungen kritisch überprüfen. Für das Schulwesen entstehen solche Entscheidungen ja in Kultusministerien. Es gibt Menschen, die sie treffen und Begründungen, mit denen sie getroffen werden. Wenn es aber stimmt, daß solche Entscheidungen innerhalb bestimmter Grenzen politische, nämlich kulturpolitische Entscheidungen sind, dann taucht damit für die Didaktik der erste große Problemkreis auf. Insofern nämlich unsere Didaktik hic et nunc innerhalb einer demokratischen Gesellschaft ihre Reflexionen anstellt, muß sie zuallererst die Aufklärung solcher kulturpolitischer Entscheidungen zu ihrem Programm machen. Sie muß klären, was da festgesetzt wird, wer das festsetzt, mit welcher Legitimation das festgesetzt wird, wie so etwas festgesetzt wird, das heißt in welchem institutionellen und kommunikativen Rahmen. Insofern es sich um politische Entscheidungen handelt, müssen sie in einer demokratischen Gesellschaft als solche deklariert, öffentlich, mit der Möglichkeit der Kontrolle und in einer klar institutionalisierten Form getroffen werden. Vor allem gilt es auf dieser Problemebene auch zu kontrollieren, ob solche Entscheidungen nicht den Rahmen dessen überschreiten, was tatsächlich von der Wissenschaft nach "richtig" und "falsch" geklärt werden kann. Wir haben diesen Teil der Aufgabe in dieser Untersuchung nur zum Teil erfüllt, nämlich bei der Kritik der Rahmenvereinbarung.

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Es könnte eingewendet werden, daß die Hereinnahme kulturpolitischer Entscheidungen in die pädagogische Reflexion zu einer unheilvollen Verquickung politischer und pädagogischer Ebenen führen müsse. Mir scheint aber gerade, daß eine sorgfältige Kompetenzzuweisung dieser in der Tat unterschiedlichen Ebenen eher möglich ist, wenn man sich grundsätzlich zunächst auf ihren unlösbaren Zusammenhang einläßt. Selbstverständlich kann die Erforschung solcher Zusammenhänge nur im Rahmen bestimmter, dafür zuständiger Fachwissenschaften erfolgen, aber innerhalb der politischen Didaktik bekäme die Interpretation der Ergebnisse erst einen für die Aufhellung der Lehrinhalte bedeutsamen Stellenwert: Ohne Berücksichtigung des politischen Zusammenhanges können die jeweils vorliegenden Lehrinhalte überhaupt nicht verstanden werden. Wenn wir zum Beispiel heute überprüfen wollen, warum welche Lehrstoffe in der politischen Bildung unserer Schulen eine Rolle spielen und andere nicht, dann bedarf es dazu unter anderem einer Analyse der konservativen Mentalität, die ihre Ansichten in diese Stoffauswahl eingebracht hat.

Kritik der Lehrinstitutionen

Politisches Lernen geschieht immer in irgendwelchen Lehrinstitutionen oder Lernsituationen. Die politische Didaktik hat kritisch zu prüfen, inwieweit diese Institutionen den Auftrag, den sie sich selbst stellen oder der ihnen gestellt werden müßte, auch tatsächlich erfüllen bzw. erfüllen können; die sozialen und gesellschaftlichen Lernfelder untersucht sie daraufhin, welche Chancen und Behinderungen sie für das politische Lernen enthalten; den pädagogisch geplanten Lernfeldern zeigt sie, welche Lerngrenzen in ihren institutionellen und organisatorischen Bedingungen liegen; schließlich überprüft sie, was einzelne Schularten im Zusammenhang ihres Bildungsauftrages unter politischer Beteiligung verstehen. Da die Fähigkeit zur

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politischen Beteiligung für alle Heranwachsenden grundsätzlich in gleicher Weise gelten muß, kann eine bestimmte Schulart nicht länger mehr einfach festsetzen, was sie darunter zu verstehen gedenkt.

In diesen Zusammenhang gehört auch die Kritik dessen, was die Lehrer in den einzelnen Schularten unter ihrer Aufgabe verstehen. Die im ersten Teil unseres Buches erläuterte Kontroverse zwischen Wilhelm Hennis und A. Flitner hatte ja den grundsätzlichen Ideologieverdacht gegen die politische Weltvorstellung der Lehrer schon aufgeworfen. Auf welcher Seite man bei dieser Kontroverse auch stehen mag, das Problem selbst wird dadurch nicht aus der Welt geschafft. Wir wissen inzwischen, daß die Lehrer einer bestimmten Schulart ein charakteristisches Gruppenbewußtsein über ihre politisch-pädagogische Aufgabe haben. Dieses Bewußtsein hängt offenbar eng mit den organisatorischen und institutionellen Bedingungen zusammen, in denen sie arbeiten müssen. Die Meinung, didaktische Entscheidungen seien vor allem pädagogische Fachfragen, gehört ebenso dazu wie der Widerstand dagegen, aus der objektiven politischen Beziehung zwischen Lehrern und Schülern die entsprechenden Folgerungen zu ziehen.

Kritik der anthropologischen Grundlagen

Auf dieser Ebene müssen die Vorstellungen über den jugendlichen Partner kontrolliert werden. Stimmt das, was über seine Fähigkeiten, Interessen und Möglichkeiten vermutet wird, mit den Erkenntnissen der modernen Jugendforschung überein? Kann der Jugendliche das, was ihm in der politischen Bildung angesonnen wird, in seiner Umwelt auch wirklich praktizieren? Trifft es zu, daß ihm bestimmte Unterrichtsmethoden wie das heimatkundliche Prinzip das Lernen erleichtern? Wird das Politische dort aufgesucht, wo es dem Jugendlichen selbst begegnet, nämlich vor allem in seinen täglichen Konflikten? Helfen die

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Lehrinhalte dem späteren Erwachsenen zur politischen Beteiligung?

Solange die Pädagogik ihre Erfahrungen mit den Jugendlichen lediglich aus der Schule bezog, war sie immer einem geradezu beruflich bedingten Irrtum ausgeliefert. Es schien zu genügen, den Sinn, die Aufgabe, die Inhalte und Methoden des Lernens aus den Grundsätzen der Entwicklungspsychologie abzuleiten. Pädagogische Jugendkunde war vor allem entwicklungspsychologische Jugendkunde. Die neuere sozialwissenschaftliche Jugendforschung hat aber gezeigt, daß dieses Blickfeld zu eng ist. Jugenduntersuchungen in außerschulischen Bereichen wie in der freien Jugendarbeit oder im Tourismus haben gezeigt, daß gerade die sozio-kulturellen Bedingungen der Umwelt den entwicklungspsychologischen Merkmalen erst die konkrete Ausprägung geben. "Pubertät" etwa ist auch heute noch ein Luxus, den sich die wenigsten Jugendlichen leisten können. Unser jugendkundliches Blickfeld ist also erheblich erweitert worden und stellt, wie wir schon im ersten Teil dargelegt haben, zahlreiche Grundsätze der heutigen Lehrplangestaltung in Frage: Indem Jugendliche heute eine Schule besuchen oder in einem Betrieb arbeiten, stehen sie bereits durchaus im Ernst der politischen Auseinandersetzung Die Konflikte der Umwelt muß man ihnen nicht mehr mühsam elementarisieren. Was junge Leute in der Schule nicht lernen wollen, wollen sie vielleicht durchaus auf einer Tagung ihres Jugendverbandes lernen. - Eine der wichtigsten Aufgaben der pädagogischen Anthropologie des Jugendalters besteht heute darin, die "Schallmauer" der klassischen Entwicklungspsychologie zu durchbrechen und sozio-kulturelle Gegebenheiten so genau wie möglich in die Betrachtung einzubeziehen. Dabei wird man dann allerdings auch entdecken, daß trotz einer umfangreichen empirischen Jugendforschung noch viele Zusammenhänge nicht genügend untersucht und geklärt sind, daß in vielen Fällen lediglich Symptome beschrieben werden, während die gesellschaftlichen Bedingtheiten bestimmter Einstellungen und Verhaltensweisen im Dunkel bleiben.

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Kritik der wissenschaftlichen Zuverlässigkeit der Lehrinhalte

Die politischen Lehrinhalte müssen fachwissenschaftlich kontrolliert werden. Sind die einzelnen Aussagen richtig? Sind sie in ihrem Zusammenhang richtig? Entsprechen sie dem gegenwärtigen Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse? Ist das, was heute gelernt wird, wirklich für die absehbare Zukunft von Bedeutung? Die Didaktik kann diese Fragen nicht von sich aus beantworten. Sie ist dabei eindeutig auf die Forschungsergebnisse der Fachwissenschaften angewiesen.

Das Verhältnis von Wissenschaft und Didaktik gehört zu den "heißen Eisen" der gegenwärtigen didaktischen Diskussion. Auch hier müssen wir wieder Wolfgang Klafki entgegentreten. Klafki schreibt: "Aber die Wissenschaften fungieren im Zusammenhang didaktischen Fragens nicht als konstitutiv ... , sie fungieren als helfende, als Disziplinen, die vom Didaktiker um Rat gefragt werden" (70, S. 112). Und er zitiert W. Helmich: "Der Fachlehrer lernt fragen: Ist das Wissen über meinen Lehrgegenstand für junge Menschen möglich, erträglich, dienlich, ist es für sie eine Hilfe, ihr Leben zu führen?" - Sicherlich ist die Wissenschaftlichkeit kein ausreichendes Kriterium, um sich, für einen bestimmten Lehrstoff zu entscheiden. Andererseits aber kann heute kein Lehrstoff mehr gelehrt werden, der sich nicht auch wissenschaftlich halten läßt. Wenn zum Beispiel in einem Geschichtsbuch zur Zeitgeschichte wissenschaftlich falsche Aussagen über das NS-Regime stehen, dann kann es gar kein Argument mehr für dieses Geschichtsbuch geben. Jede öffentliche politische Argumentation, die sich wissenschaftlich angreifen läßt, ist dadurch auf die Dauer auch politisch erledigt, wie "menschlich" immer ihr "Anliegen" auch sein mag. Und dann sollten Ergebnisse der politischen Wissenschaften nicht "konstitutiv" für die politische Didaktik sein? Klafkis Satz müßte also richtiger lauten: Die Wissenschaften sind zwar konstitutiv für das didaktische Fragen, aber sie determinieren es nicht. - In diesem Zusammenhang stellt sich außerdem die Frage, ob es vernünftig ist, jeden Fachlehrer daran herumrätseln zu lassen, ob sein "Lehrgegenstand für junge Menschen möglich, erträglich, dienlich" sei. Kann er das allein überhaupt beurteilen, und kann er eine solche Dauerreflexion in seiner beruflichen Praxis überhaupt durchhalten?

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Kritik des Vermittlungsprozesses

Auf dieser Ebene der Kritik kommt nun der Unterrichtsprozeß im engeren Sinne in das Blickfeld. Viele Didaktiker verstehen Didaktik überhaupt als "Lehre vom Unterricht" Paul Heimann hat für die Analyse solcher Prozesse ein überzeugendes Faktorenmodell entwickelt (50). Deshalb können wir hier anstatt weiterer Ausführungen auf seinen Aufsatz verweisen. Die neuere Lerntheorie und vor allem die Kybernetik werden hier zweifellos noch weitere empirische Klärungen bringen.

Die konstruktive Funktion der politischen Didaktik

Über weite Strecken spielt die politische Didaktik also eine kritische Rolle. Sie kritisiert bestimmte Grenzüberschreitungen mit wissenschaftlichem Anspruch und wissenschaftlichen Mitteln, das heißt mit nachprüfbaren Methoden und Verfahren: zum Beispiel, daß Entscheidungen über Lehrinhalte nicht demokratisch angemessen getroffen werden; daß Lesebuchtexte wissenschaftlich unhaltbar sind; daß etwas fälschlich als Literatur ausgegeben wird; daß bestimmte Stoffe und Verfahren nicht kindgemäß sind usw. Hier versteht sich also die politische Didaktik als kritisches Gegenüber einer immer schon vorhandenen und vorgegebenen Erziehungswirklichkeit, die sie zwar durch kritische Aufklärung verbessern, nicht aber im ganzen faktisch oder auch nur im geistigen Entwurf eindeutig herstellen kann. In diesem negativen Sinne schafft sie gleichsam unentwegt das schlechte Gewissen für eine verbesserungswürdige und verbesserungsfähige Praxis. Sobald aber die politische Didaktik von der Kritik zu positiven Vorschlägen übergeht, muß sie ausgesprochen vorsichtig operieren. Nur in zwei denkbaren Fällen könnte sie eindeutig positiv die Lehrinhalte festsetzen: Entweder müßte

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sie dazu ein politisches Entscheidungsmonopol wie in der DDR haben, oder aber sie müßte nachweisen, daß aus der wissenschaftlichen Reflexion eindeutige Lehrinhalte zu folgern wären. Sieht man sich jedoch die eben beschriebenen Ebenen der kritischen Reflexion näher an, so stellt man fest, daß zur Frage der Lehrinhalte von allen diesen Ebenen her ein Beitrag geleistet wird. Die politische Entscheidung trifft die allgemeinste Auswahl der Inhalte; die Lehrinstitutionen treffen eine weitere Auswahl, insofern sie zum Beispiel die Aufgaben des politischen Unterrichts mit den übrigen kombinieren müssen. Mit dem Blick auf den jugendlichen Partner wiederum gelten bestimmte Inhalte gegenüber anderen als zu bevorzugen; die fachwissenschaftliche Perspektive sondiert ebenso wie der Vermittlungsprozeß selbst, sofern eben nur das gelehrt werden kann, was auch gelernt werden kann. Dies wären gewissermaßen die Instanzen, die in Wirklichkeit an der Festsetzung der Lehrinhalte beteiligt sind. Kombiniert man aber diese Instanzen miteinander, so folgt daraus noch keineswegs eine eindeutige Lösung der inhaltlichen Probleme. Hier tut sich vielmehr ein Spielraum auf, den die politische Didaktik nun positiv und produktiv mit ihren Vorschlägen füllen kann. Aber alle solche Vorschläge wären Kompromisse, die statt so eben auch anders aussehen könnten.

So ist auch unsere eigene didaktische Konstruktion nur ein möglicher, keineswegs ein zwingender Vorschlag. Sein operativer, fragmentarischer Charakter, der aus dem Zweck der Unterrichtung erwächst, macht ihn von allen Seiten her angreifbar, sobald man von diesem Zweck absieht.

Zusammenfassend können wir sagen, daß die politische Didaktik eine eigentümliche Theorie des Politischen entwickeln muß. Ihre Fragerichtung unterscheidet sich einerseits von solchen politischen Theorien, wie sie die politischen und sozialen Wissenschaften zur Erkenntnis der gesellschaftlichen Prozesse entwickeln; andererseits geht es ihr auch nicht um solche politischen Theorien, die be-

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stimmte Aktionsgruppen - etwa die politischen Parteien - unter dem Aspekt von Strategie und Taktik des politisch möglichen Handelns entwickeln. Es geht ihr vielmehr um eine Sicht des Politischen, die auf den sogenannten Normal- oder Durchschnittsbürger zugeschnitten ist - gewissermaßen auf den politischen Laien - , der weder Sozialwissenschaftler ist noch sich Politik zum Hauptberuf wählen will.

Politische Didaktik als politische Theorie der Pädagogik

Wenn die politische Didaktik eine eigentümliche pädagogische Theorie des Politischen entwickelt, so läßt sich nun dieser Gedanke auch umkehren. In gewisser Weise ist sie nämlich auch eine politische Theorie der Pädagogik. Indem sie nämlich eine Teilaufgabe der Erziehung und Unterrichtung - die politische Beteiligung - untersucht, erlaubt sie Folgerungen und Rückschlüsse auf alle anderen Erziehungs- und Unterrichtsaufgaben, insofern sie mit jener zusammenhängen. In diesem Sinne macht die politische Didaktik für die Erziehungswissenschaft die politischen Implikationen aller ihrer Aufgaben und Probleme bewußt. Oder anders ausgedrückt: Mit der politischen Didaktik schafft sich die Erziehungswissenschaft eine politische Kontrollinstanz für alle ihre Reflexionen und Untersuchungen.

So konnten wir zeigen, daß etwa das pädagogische Problem der Autorität, bisher vorwiegend im Rahmen des pädagogischen Bezuges interpretiert, in der Fragestellung der politischen Didaktik in ein neues Licht rückt. Oder die Frage nach den politischen Verhaltensweisen rief notwendig die Relativierung des herkömmlichen pädagogischen Tugendkatalogs hervor. Versteht man zudem im Sinne der politischen Didaktik das allgemeinbildende Schulwesen als eine politische Bestimmungsleistung der ganzen, gleichwohl pluralistischen Gesellschaft, so folgt daraus auch zwingend eine relative, politisch begründbare

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Autonomie des Schülers gegenüber dem Lehrer. Diese Beispiele ließen sich vermehren. Entscheidend bleibt, daß mit einer rechtverstandenen politischen Didaktik die politische Kritik zum konstitutiven Moment des pädagogischen Selbstverständnisses wird oder jedenfalls werden kann, während sie ihm bisher im wesentlichen als Ideologiekritik gegenüberstand.

Auf der Suche nach einer "allgemeinen Didaktik"

Damit sind wir nun noch einmal auf die Frage verwiesen, wie sich denn nun die politische Didaktik in den Zusammenhang der allgemeinen Didaktik einordnen läßt. Wolfgang Klafki (70, S. 91f.) hat mit Recht darauf hingewiesen, daß alle didaktischen Einzelentscheidungen so lange unvollständig reflektiert werden, wie man sie nicht auf das wünschenswerte Gesamtergebnis des Erziehungs- und Bildungsprozesses hin bedenkt. Für dieses wünschenswerte Gesamtergebnis steht bei ihm der Begriff der "Bildung". Aber gerade dieser Begriff erweckt die bedenkliche Vorstellung, als ob eine solche Reflexion noch innerhalb einer modifizierten, gleichwohl traditionellen pädagogischen Problemisolierung möglich sei. So sehr wir Klafki im Prinzip hier zustimmen, so sehr muß andererseits betont werden, daß ein zutreffendes Bewußtsein vom Gesamtzusammenhang heutiger Erziehungs- und Bildungsprozesse nur möglich ist, wenn man den Gesamtzusammenhang von Erziehung und Gesellschaft in den Blick nimmt; wenn man ausgeht von den tatsächlichen Lernerwartungen und Lernprozessen, die in der Gesellschaft statthaben; wenn man neben der schulischen Vermittlung die anderen gesellschaftlich institutionalisierten Vermittlungsfelder berücksichtigt; wenn man vom hohen Podest spekulativer Mutmaßungen über das Verhältnis von Bildung und Gesellschaft in die

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Niederung konkreter pädagogischer Analysen der konkreten gesellschaftlichen Strukturen hinuntersteigt. Mit anderen Worten: wenn es endlich eine pädagogische Theorie der industriellen Gesellschaft gibt, die es heute nicht einmal in Ansätzen gibt und im Rahmen traditioneller pädagogischer Begriffssysteme auch gar nicht geben kann.

Dies bleibt also eine der wichtigsten Aufgaben künftiger erziehungswissenschaftlicher Reflexion. Was wir vorläufig tun können, ist, bestimmte Lernaufgaben so konkret wie möglich inhaltlich zu beschreiben, wie wir es hier für die Aufgabe der politischen Beteiligung versucht haben. In ähnlicher Weise müßte man andere Lernaufgaben durchdenken. Ich schlage vor, in Zukunft solche Analysen "Aufgaben-Didaktiken" zu nennen. Den zweiten Komplex didaktischen Fragens könnte man als "Institutions-Didaktik" bezeichnen. Hier geht es darum, daß man die Ergebnisse der "Aufgaben-Didaktik" auf eine bestimmte pädagogische Situation - zum Beispiel die Berufsschule - konzentriert. Die Kombination der wünschenswerten Lehrinhalte wird für die Berufsschule anders aussehen als für die Oberstufe des Gymnasiums.

Ob es sinnvoll ist, weiterhin am Begriff der "Fachdidaktik" festzuhalten, wage ich zu bezweifeln. Dieser Begriff wird sinnlos, sobald man nicht mehr "Bildung" als integrierendes Prinzip aller Unterrichtung versteht. Kein Fach hat von sich aus einen Bildungswert, den man nicht vorher erst eingeschmuggelt hätte. Was ein Fach für eine bestimmte Unterrichtsaufgabe - zum Beispiel politische Beteiligung - leisten kann und soll, kann weder vom Fachlehrer noch vom Fach her entschieden werden. Allenfalls die zuständige Fachwissenschaft kann dazu einen Beitrag leisten, aber diese Frage muß von mehreren Instanzen her entschieden werden, von denen nämlich, die wir eben skizziert haben. Der Weg führt nicht vom "Fach" zur "Aufgabendidaktik", sondern umgekehrt von der "Aufgabendidaktik" zum "Fach".

So kann man also didaktische Analysen von zwei ver-

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schiedenen Fragerichtungen aus anstellen: erstens von einer bestimmten Erziehungsaufgabe und zweitens von einer bestimmten Erziehungssituation her. Wenn in Zukunf nun von allen Erziehungsaufgaben und Situationen her solche Reflexionen angestellt werden, dann werden sich Probleme und Lösungen mannigfach miteinander verschränken. Ebenso werden sich die Vorschläge der Didaktik hinsichtlich der Stoffauswahl und der modellhaften Integration im Unterricht teils ergänzen, teils überschneiden, teils auch widersprechen.

Didaktik als Problem aller geplanten Vermittlung

Für die weiteren Überlegungen im Hinblick auf eine allgemeine Didaktik dürfte es nützlich sein, sich klarzumachen, daß sich die Probleme, als deren Antwort "Didaktik" entstand, keineswegs nur im Raume der Schule stellen. Sie zeigen sich vielmehr überall dort, wo überhaupt einigermaßen planmäßig Informationen vermittelt werden.

So muß zum Beispiel auch das Fernsehen aus der Fülle der möglichen Informationen und Sendestoffe auswählen. Auch hier wird die Auswahl teils politisch, teils fachlich entschieden. Auch hier muß man sich mit den anthropologischen Grundlagen im Hinblick auf den Fernseher vertraut machen, die durch den Vermittlungsprozeß selbst entstehenden Veränderungen der Inhalte im Blick behalten, die Grenzen und Möglichkeiten der eigenen Institution und des Mediums beachten und schließlich sich nicht nur der politischen, sondern auch der fachlichen Kritik offen stellen und sie entsprechend verarbeiten. Auch hier kann man nicht einfach Tatsachen aneinanderfügen, man muß sie ordnen und in einen Zusammenhang bringen. Man muß diese Ordnung schließlich auch vor sich selbst verantworten können - das heißt auch hier ist man nolens volens auf kategoriale Reflexion angewiesen. Gewiß ist das schulische Kommunikationsfeld von anderer Art als das des Fernsehens oder der Journalistik. Aber diese Andersartigkeit

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ergibt sich aus der verschiedenen Konkretion der Bezüge und Zusammenhänge, keineswegs aus deduzierbaren Grundsätzen.

"Politische Didaktik" als "allgemeine Didaktik"?

Wenn außer der "politischen Beteiligung" auch die übrigen Lernaufgaben hinreichend analysiert sind, wird sich vielleicht herausstellen, daß die politische Didaktik heute die einzig mögliche Form einer allgemeinen Didaktik ist. Aber dies ist natürlich nur eine Vermutung, für die sich allerdings einige Gründe anführen lassen.

Daß jeder Mensch von einem bestimmten Alter an das gleiche Recht und auch die gleiche Chance haben soll, sich in unserem Gemeinwesen politisch zu beteiligen - dies ist fast das einzige, was wir allen Heranwachsenden im Jugendalter voraussagen können. Die Staatsbürgerrolle ist die einzige allgemeine und zugleich konkrete Erwartung der Gesellschaft; sie ist allgemein, weil sie für jeden vollmündigen Bürger ohne Rücksicht auf seinen sonstigen sozialen Status gilt; sie ist konkret, weil sie sich angesichts der gegenwärtigen politischen Welt und ihrer heute absehbaren Entwicklungstendenzen relativ genau inhaltlich bestimmen läßt.

Wir wissen weder, welchen Beruf der spätere Erwachsene ausüben und wie oft er ihn wechseln wird, noch, in welcher sozialen Umgebung er sich bewegen wird. Aber wir wissen, daß er bei den zu erwartenden politischen und gesellschaftlichen Änderungen soweit wie möglich Subjekt und sowenig wie nötig Objekt sein soll.

Wenn wir bisher immer wieder betont haben, daß die "Bildungsgehalte" durch die Aufgaben der politischen Beteiligung nicht einseitig politisiert werden dürften, so übernahmen wir damit bereits ein weit verbreitetes Mißverständnis über den Zusammenhang von Bildung und demokratischer Gesellschaft. Das Mißverständnis liegt in der Annahme, der Demokratisierungsprozeß der Neuzeit habe

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nur ganz bestimmte Bereiche des sozialen und kulturellen Lebens erfaßt - eben das Politische - , und man müsse nun darauf achten, daß die damit verbundene allgemeine Politisierung nicht auch unzulässig in den Bereich von Kultur und Bildung eindringe. Kaum jemandem wird klar, daß er damit einer bestimmten, historisch gewordenen liberalistischen Vorstellung über das Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Kultur folgt. Die unaufhaltsame Politisierung aller Lebensbereiche ist nämlich nur die eine Seite der Sache. Die andere Seite ist, daß in diesem Prozeß die einzelnen sozialen und kulturellen Bereiche eine gewisse Autonomie gegenüber den Ansprüchen von Staat und Gesellschaft erhalten: Erst mit dem Aufkommen der allgemeinen Demokratisierung gibt es die Freiheit der Forschung und Lehre, ist Literatur nicht mehr einfach in weltanschauliche oder politische Aufgaben zu pressen. Erst seitdem gibt es überhaupt die Vorstellung, daß möglichst jeder etwas von Literatur und Kunst verstehen müsse. Solange man also unter dem Begriff "Demokratie" nicht das Ensemble historischer Prozesse versteht, sondern daraus isolierte Einzelheiten, wird man der Gefahr einer Politisierung der Bildungsgehalte nicht deshalb erliegen, weil das in der Natur der Sache läge, sondern weil man einem Mißverständnis darüber erlegen ist, was Demokratisierung in Wahrheit sozial- und geistesgeschichtlich heißt. Die Autonomisierung der Künste und Wissenschaften ist ebenso Teil des fundamentalen Demokratisierungsprozesses wie der Fortfall der alten gesellschaftlichen Kontrollen für die Freizeit oder das allgemeine Wahlrecht. Man kann das eine nicht ohne das andere haben. Das soll heißen: gerade aus einer gründlichen Interpretation der politischen Beteiligung folgt, was konservative Gruppen bei uns mit Recht, aber oft mit falschen Begründungen fordern: das Bestehen auf der "Sache" in Distanz zu jeder gesellschaftlichen und politischen Nützlichkeit und Brauchbarkeit.

Wem die letzten Bemerkungen trotzdem das Gespenst einer "politisierten Bildung" an die Wand gemalt haben, der mag sich damit trösten, daß unsere Vermutungen ja

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noch keineswegs erwiesen sind. Sie werden sich erst verifizieren lassen, wenn alle didaktischen Aufgaben gründlich durchdacht sind. Aber was immer in Zukunft "allgemeine Didaktik" heißen mag, sicher ist, daß sie etwas leisten können muß, was sie heute noch nicht leistet: Sie muß sich von einer mehr oder weniger magischen Berufswissenschaft für Lehrer zu einer umfassenden erziehungs- und bildungspolitischen Planungswissenschaft entwickeln, ohne die wir zwischen törichten Ressentiments, wissenschaftlich kaschierten Berufsideologien und kurzsichtigen Verbandsinteressen mit Sicherheit die Chance verspielen werden, uns ein Erziehungswesen zu schaffen, dessen Organisation und dessen Lehrpläne so rentabel wie möglich und so unrentabel wie nötig konzipiert sind.

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 URL des Dokuments: : http://www.hermann-giesecke.de/poldi4.htm

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