Hermann Giesecke

Didaktik der Politischen Bildung

München: Juventa-Verlag 1965

DRITTER TEIL: LEHRINSTITUTIONEN UND LERNSITUATIONEN

© Hermann Giesecke

Inhaltsverzeichnis

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Zu dieser Edition:
Dieses Buch geht auf einen Teil meiner (ungedruckten) Kieler Dissertation "Die Tagung als Stätte politischer Jugendbildung" zurück, der für den Druck seinerzeit erheblich überarbeitet wurde. Es basiert auf praktischen Erfahrungen in der außerschulischen politischen Jugendbildungsarbeit, die ich unter dem Titel "Politische Bildung in der Jugendarbeit" 1966 veröffentlicht habe.
Weggelassen wurden zwei vorangestellte Motti und das Vorwort. Über den damaligen politisch-pädagogischen Hintergrund finden sich nähere Angaben in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen.
Das  Literaturverzeichnis befindet sich auf dem Stand des Erscheinungsjahres 1965.
Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurde das Original jedoch nicht verändert.  Um die Zitierfähigkeit zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.
Die hier wiedergegebene Erstfassung wurde in der 3. Aufl. 1968 durch  den Abdruck  kritischer Einwände und eine Replik darauf erweitert. Mit der 7. Aufl. 1972 ("Neue Ausgabe")  wurde der Text grundlegend umgearbeitet; diese Neufassung wurde  mit der 10. Auflage 1976 um einen Nachtrag ergänzt, der die Diskussion des Themas seit 1972 aufzugreifen versucht.

Der Text darf zum persönlichen Gebrauch kopiert und unter Angabe der Quelle im Rahmen wissenschaftlicher und publizistischer Arbeiten wie seine gedruckte Fassung verwendet werden. Die Rechte verbleiben beim Autor.

© Hermann Giesecke

Inhalt

Dritter Teil: Lehrinstitutionen und Lernsituationen
Die an der politischen Erziehung beteiligten Mächte.
Lernsituation und Lerninhalt



DRITTER TEIL:

LEHRINSTITUTIONEN UND LERNSITUATIONEN

Die an der politischen Erziehung beteiligten Mächte

Zuerst haben wir zu ermitteln versucht, was der Heranwachsende lernen müsse, um fähig zur politischen Beteiligung zu werden. Dann haben wir versucht, dies in einem didaktischen Modell zusammenzufassen. Aber wo soll und kann man das alles lernen? Ist das nur eine Aufgabe der Schule, oder lernt man vieles auch außerhalb der Schule, gleichsam von selbst? Unsere viel zu sehr auf die Schule konzentrierte Erziehungswissenschaft hat sich dieser Frage selten gestellt. Sie hat es unterlassen, die Summe der durch das Leben selbst vollzogenen Erziehungseinflüsse im ganzen zu reflektieren und in ihre Vorstellung von der Schule produktiv einzubeziehen. Vielfach wurden Phänomene wie "Freizeit" und "Massenkommunikation" von vornherein lediglich als Störenfriede eines geordneten und geplanten Schulehaltens angesehen.

Wenn wir aber heute den Vorgang Erziehung noch einigermaßen überzeugend beschreiben wollen, dann müssen wir ihn als Resultante eines vielschichtigen Zusammenhangs sehen, in dem pädagogisch geplante Felder wie die Schule nur ein Faktor unter vielen sind. Deren Aufgaben können wir sinnvoll nur noch ermitteln, wenn wir ihre Ortsbestimmung im Zusammenhang der anderen Faktoren vornehmen. Wir müssen also wissen, welche erziehungswirksamen Einflüsse die einzelnen Sozialfelder haben und

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welche Erwartungen an Denken und Verhalten sie stellen. Erst dann wird man in Zukunft sagen können, welche konkreten Aufgaben die Schule haben sollte. Aber ein solches Verfahren, das den pädagogisch geplanten Feldern gleichsam den Rest von dem zuwiese, was die anderen Faktoren nicht leisten, wird nicht genügen. Schon in der Vorstellung vom "Rest" steckt die andere vom "ganzen Volumen" der Erziehung und Bildung. Man wird diesen Rest nur ermitteln können, wenn man bei der synthetischen Betrachtung der einzelnen Einflüsse ein neues Moment einführt, das sich nicht einfach aus der Addition der einzelnen Aspekte ergibt.

Dieses neue Moment wäre das Bewußtsein, das sich unsere Gesellschaft von der heute notwendigen Erziehung und Unterrichtung bildet und das sie in den pädagogisch planbaren Feldern institutionalisiert. Dann wäre etwa die Schule nicht mehr nur ein Faktor unter all den anderen, sondern derjenige, in dem die Wirkungen aller anderen zum Bewußtsein gekommen sind. Mit anderen Worten: Pädagogen können nicht die Realität der Sozialverhältnisse ändern; aber sie können deren Wirkungen in ihr Selbstverständnis übernehmen und teils ergänzen, teils korrigieren. Werden solche Wirkungen in den pädagogischen Theorien nicht gebührend berücksichtigt, so kann es dahin kommen, daß die geplante Erziehung die tatsächlichen Probleme der Jugendlichen gar nicht mehr erreicht oder daß sie offene Türen einrennt, indem sie mit umständlicher Systematik zu lehren versucht, was die jugendlichen Partner längst wissen.

Im Hinblick auf unser Thema heißt das nun zu untersuchen, welchen Beitrag die einzelnen sozialen Felder für das politische Lernen leisten. Wir greifen damit auf neue Weise die schon vorher berührte Frage auf, ob unsere Gesellschaft wirklich den kritischen Bürger braucht und will. Dabei müssen wir uns im folgenden auf einige begründete Vermutungen stützen; wollten wir uns unter unserer Fragestellung gründlich mit diesen Zusammenhängen befassen, so müßten wir eine pädagogische Theorie der mo-

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dernen Gesellschaft entwickeln, was den Rahmen dieser Arbeit vollends sprengen müßte. Es geht uns hier also nur um den prinzipiellen Nachweis, daß die Aufgaben der politischen Didaktik ohne einen solch weiten Fragehorizont nicht überzeugend gelöst werden können; die Präzisierung muß anderen Forschungen und Darstellungen überlassen bleiben. Seitdem die technischen und organisatorischen Bedingungen die einzelnen Sektoren der gesellschaftlichen Wirklichkeit stark vereinfacht und vereinheitlicht haben, kann man sie auch in dieser Weise zum Gegenstand einer allgemeinen pädagogischen Reflexion machen.

Arbeitsplatz

Für diejenigen Jugendlichen, die heute mit dem Volksschulabschluß in das Berufsleben eintreten, hat die Begegnung mit dem Arbeitsplatz eine solche Bedeutung, daß sie über lange Zeit stellvertretend für die Begegnung mit der politisch-gesellschaftlichen Welt im ganzen stehen dürfte. In dem Augenblick also, wo die rationalen Fähigkeiten erwachen, mit deren Hilfe man sich abstrakte politische Strukturen angemessen vorstellen könnte, werden sie mit den übermächtigen Erlebnissen der neuen beruflichen Umgebung ausgefüllt. Diese Erlebnisse führen leicht zu der Vorstellung, Staat und Gesellschaft seien nur ein noch größerer Betrieb als der eigene. Schon Theodor Litt (21, S. 17) hatte die Berufsschule nachdrücklich ermahnt, diesen Irrtum aufzuklären, anstatt ihn noch zu unterstützen. Gleichwohl wird man annehmen dürfen, daß wegen der subjektiven Bedeutsamkeit des Berufseintritts die betrieblichen Erfahrungen und Erlebnisse das politische Weltbild nachdrücklich bestimmen. Unsere Frage muß also lauten: In welcher Weise - gemessen an den eben beschriebenen vier Ebenen - beeinflußt der Arbeitsplatz das politische Lernen?

Nun wird man diese Frage verschieden beantworten müs-

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sen, je nach dem, ob es sich um einen handwerklichen Betrieb, eine Landwirtschaft oder einen großen Industriebetrieb handelt. Aber je technisierter und rationalisierter ein Arbeitsplatz und ein Betrieb im ganzen ist, um so weniger wird er der Ort sein, wo Bildungswissen erworben oder auch nur verlangt wird. Für die Ausfüllung der Rolle am Arbeitsplatz ist weder notwendig noch auch letztlich erwünscht, mehr als das zu wissen und zu lernen, was zur arbeitsteiligen Tätigkeit mittelbar oder unmittelbar erforderlich ist. Nach dem Sinn alles dessen zu fragen, was einem am Arbeitsplatz begegnet, widerspricht dem rationalen Ablauf und stört ihn sogar. Daran ändert auch nichts, daß im Zusammenhang mit den durch die Automation hervorgerufenen Anforderungen zum "Umlernen" allenthalben von der Notwendigkeit höherer "allgemeiner Bildung" gesprochen wird. Sieht man genauer nach, was damit gemeint ist, dann handelt es sich immer um die Ebene des Orientierungswissens und der Verhaltensweisen. Sie sollen bereichert werden, damit die Menschen disponibler werden. Gemeint ist also im Sinne von Karl Mannheim "funktionelle", nicht "substantielle" Rationalität. Gerade letztere wäre aber die Ebene des Bildungswissens. Disponibilität als eine für alle beruflichen Zweige notwendige Einstellung verlangt sicher eine gewisse technische Allgemeinorientierung, eine gewisse - schon technisch verstandene - Menschenkunde, um persönliche Reibungen auf ein Minimum zu reduzieren, eine gewisse Wendigkeit und Anpassungsfähigkeit des Verhaltens; aber sie verlangt nicht, daß einem die Existenz Gottes ein Problem ist, daß man weiß, was ein Gedicht ist oder daß man Literatur und Musik angemessen versteht. Das gilt keineswegs nur für die sogenannten industriellen Massenberufe, sondern ebenso für das höchste staatliche und wirtschaftliche Management sowie schließlich für die wissenschaftliche Forschung selbst. Wer nicht gerade über "Bildungswissen" forscht, muß für seine Forschungen auch nichts von Bildungswissen verstehen.

Ganz anders liegen die Dinge für das Orientierungswissen.

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Zwar werden unter dem Stichwort der "Bildungsaufgabe der Berufsschule und des Betriebes" die Inhalte des Orientierungswissens noch vor allem danach festgelegt, welchen "bildenden" Wert sie besitzen - ein Anspruch, der hier nicht hingehört. Ausbildung und Schulung gelten der traditionellen Pädagogik immer noch als recht verpönt. So blieben die Versuche, innerhalb der beruflichen Ausbildung mutig so etwas wie ein "System der Produktion und des Marktes" oder ein "System der Verwaltung" zu lehren, meist auf halbem Wege stecken. Gerade hier, auf der Ebene des systematisierten Orientierungswissens, läge aber die besondere Chance eines im Hinblick auf die modernen Bedürfnisse reformierten beruflichen Unterrichts - nicht nur in der Lehrlingsausbildung, sondern auch in der betrieblichen Weiterbildung. Für die in der Zukunft geforderte Disponibilität im weitesten Sinne ist nicht die Fähigkeit zur Begegnung mit Literatur, Kunst, Geschichte, Philosophie und Religion zwingend - dies bedarf ganz anderer Begründungen - , sondern mehr die Notwendigkeit, seine berufliche Position und Tätigkeit in einem zusammenhängend begriffenen System der Produktion und des Marktes oder der Verwaltung feststellen und verändern zu können. Nur so sind auch falsche berufliche Selbsteinschätzungen und Erwartungen, die eine solche Disponibilität emotional belasten würden, zu vermeiden.

Auch die Entwicklung und Übung politischer Verhaltensweisen wird im modernen Betrieb grundsätzlich beschränkt bleiben. Zwar wird die Institution in Gestalt des jeweiligen Vorgesetzten sichtbar. Aber die Neigung geht vorläufig wohl eher dahin, unter dem Stichwort der "human relations" die Illusion von der Ungebrochenheit intimer, oft gar patriarchalischer Verhältnisse aufrecht zu erhalten. Dennoch bleibt eine gewisse Chance - vor allem für diejenigen, die aus beruflichen Gründen mit mehreren institutionellen Repräsentanten umgehen müssen - , politische Verhaltensweisen durch die Praxis am Arbeitsplatz zu lernen. Die Versuche, den Betrieb auch zu einem gesellschaftlichen Zentrum zu machen, sind offenbar - mit

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guten Gründen - weitgehend gescheitert oder doch nur auf einen bestimmten Kreis von Führungspositionen beschränkt, so daß das automatische Lernen gesellschaftlicher Verhaltensweisen kaum in Betracht kommt.

Solche Überlegungen sind, wenn sie sich verifizieren lassen, von ausschlaggebender Bedeutung für die künftige Schulreform. Von pädagogischer Seite hat bisher vor allem Karl Abraham ("Der Betrieb als Erziehungsfaktor", 2. Auflage, Freiburg 1957) die Frage weiterverfolgt, welche Lernleistungen der moderne Betrieb eigentlich herausfordert und welche nicht. Leider setzt dabei sein unglücklicher Begriff der "funktionalen Erziehung" der Erkenntnis enge Grenzen. So meint er (S. 57ff.), daß die objektiv im gegenwärtigen Industriebetrieb wirksamen geschichtlichen Mächte auch subjektiv so erlebt werden müßten, was er "die funktionale Erziehung zum Geschichtsbewußtsein" nennt. Das aber ist eine Abstraktion, wie sie dem sozialwissenschaftlich geschulten Betrachter einleuchtet, keineswegs aber den Jugendlichen innerhalb der sozialen Bezüge am Arbeitsplatz. Daran ändert auch nichts, wenn man diesen Zusammenhang nicht funktional, sondern intentional deuten würde, also die betriebliche Situation des Jugendlichen zum Einstieg für eine Unterrichtung über die objektive geschichtliche und politische Lage des Betriebes nehmen würde, um von der "Individuallage" aus zur politischen Reflexion vorzustoßen. Auch das ist nur logisch, aber nicht sozialpsychologisch überzeugend. Entscheidend bleibt, daß solche Kenntnisse und Einsichten in den realen technischen und sozialen Bezügen am Arbeitsplatz nicht gebraucht werden, sondern überflüssig erscheinen - und hier auch sind! - , weil sie sich hier nicht reproduzieren können: Ein Industrielehrling, der ins Theater geht und sich für Lyrik interessiert, macht sich im Betrieb in der Regel lächerlich und zum Außenseiter. Deshalb sind auch die meisten allgemeinbildenden Bemühungen der Berufsschule relativ wirkungslos, weil ihnen außerhalb der Schultüre keine sozialen Erwartungen mehr entsprechen. Wer also für die Zukunft eine höhere Allgemeinbildung für berufstätige Jugendliche fordert - und damit mehr meint als größere rationale und emotionale Disponibilität - , der wird sie weder vom Arbeitsvollzug noch von den sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz her begründen können. (Vgl. dazu Popitz/Bahrdt/ Jüres/Kesting: "Technik und Industriearbeit", Tübingen 1957, sowie den Erfahrungsbericht von Horst Symanowski und Fritz Vilmar: "Die Welt des Arbeiters. Junge Pfarrer berichten aus der Fabrik", 3. Auflage, Frankfurt 1963.)

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Das Freizeitsystem

Ganz anders liegen die Dinge offensichtlich beim Freizeitsystem, worunter wir das System der Erwartungen und Angebote verstehen wollen, die den Menschen in der Freizeit gegenübertreten. Insofern es selbst weitgehend von den ökonomischen Gesetzen des Marktes beherrscht wird, wird es einerseits nicht zur Intensivierung des Bildungswissens animieren. Oder anders: um sich im Freizeitsystem souverän und anerkannt bewegen zu können, muß man nichts von Literatur, Kunst, Geschichte, Philosophie und Religion verstehen, es genügen einige Klischees für die ab und an notwendigen Konversationen. Dieser Tatbestand ist mit dem Terminus der "Halbbildung" genügend präzise charakterisiert worden. Aber diese Behauptung gilt nur, wenn wir vom tatsächlichen Freizeitverhalten ausgehen. Sie gilt nicht mehr, wenn wir es für erstrebenswert halten, daß die Jugendlichen lernen sollten, an der ganzen Breite des Freizeitangebotes teilzunehmen. Denn dazu gehört auch ein breiter Bereich kultureller Angebote und Ansprüche, an denen man nur mit einem Mindestmaß an Bildungswissen teilnehmen kann. Auf die Dauer ist die Intensivierung des Bildungswissens wohl weitgehend auf den Freizeitbereich verwiesen, insofern die Freizeit den Menschen wohl tatsächlich, aber keineswegs notwendig - wie am Arbeitsplatz - auf bestimmte Tätigkeiten und Einstellungen festlegt.

Im Hinblick auf das Orientierungswissen ist der Beitrag des Freizeitsystems recht dürftig. Die systematische Orientierung wird durch den Charakter der Konsumreklame eher verhindert als gefördert. Am ehesten werden noch Kauf- und Geldtechniken gelernt. Auch im Hinblick auf das Lernen politischer Verhaltensweisen bringt das Freizeitsystem wenig ein. Sein wichtigster Beitrag scheint mir in der Mitformung des gesellschaftlichen Umgangs und der gesellschaftlichen Verhaltensweisen zu liegen. Gerade der kommerzielle - und nicht der pädagogische - Teil des Freizeitsystems hat in den letzten Jahren den gesell-

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schaftlichen Umgang ungemein kultiviert und differenziert - und dies nicht nur für einige Auserwählte, sondern für die Masse der Bevölkerung. Die so oft gelästerte Teenager-Mode hat nicht nur einen Massengeschmack hervorgebracht, sondern auch den Geschmack der jugendlichen Massen in einer ungeahnten Weise gehoben. Das ist besonders für Jugendliche wichtig; denn der Freizeitbereich ist diejenige Sozialsituation in ihrem Dasein, in der sie gleichberechtigt mit den Erwachsenen existieren dürfen. Kein Wunder also, daß sie ihn so ernst nehmen. Daß Jugendliche unreif sind, nichts mitzureden und einfach zu gehorchen haben—dies gilt im Freizeitbereich nur noch mit großen Einschränkungen. Derselbe Lehrling, der im Betrieb vielleicht noch nichts zu sagen hat, gilt, betritt er ein Geschäft, kaum weniger als sein Meister oder Lehrer. Ohne Zweifel ist die Sicherheit des gesellschaftlichen Verhaltens, die sich vorzugsweise im Freizeitsektor lernen läßt, eine wichtige Voraussetzung für die Souveränität des politischen Verhaltens im ganzen. Vielleicht wird sie auf lange Sicht zurückwirken auf die übrigen gesellschaftlichen Lebensbereiche, die heute noch wenig demokratisch strukturiert sind.

Bezugsgruppen

Es ist allgemein üblich, die Familie als eine eigenständige pädagogische Kraft zu betrachten. Das ist sicher richtig, wenn man von einer normativen Betrachtungsweise ausgeht. Hier geht es uns aber vor allem darum, die tatsächlichen prägenden Wirkungen festzustellen und sie einigermaßen zuverlässig zu katalogisieren. Unter diesem Gesichtspunkt ist es zweckmäßig, unter dem Begriff der "Bezugsgruppe" nicht nur die Familie zu verstehen, sondern zugleich alle jene anderen mehr oder weniger intimen Sozialverhältnisse, die von ähnlicher Wirkung sind: Freundschaften, Jugendgruppen, jugendliche Banden, Klubs usw.

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Bezugsgruppen sind alle jene Gruppen, die für ein bestimmtes Individuum den normativen Bezugsrahmen für die fälligen Lebensentscheidungen abgeben, was nicht heißt, daß sich diese Entscheidungen immer und unbedingt in Übereinstimmung mit diesem Rahmen bewegen müssen. Selbst wenn sie aber davon abweichen, werden sie im Hinblick auf diesen Rahmen gefällt. Um das an einem Beispiel klarzumachen: Die Jugend der Jahrhundertwende ist uns in Erinnerung als eine Jugend, deren größtes Problem die sexuelle Reifung war, weil die damit zusammenhängenden Entscheidungen innerhalb des Bezugsrahmens der bürgerlichen Familie erfolgen mußten. Wir wissen andererseits, daß zur selben Zeit in der Arbeiterjugend die sexuelle Problematik von geringerer Bedeutung war, eben weil dafür ein anderer Bezugsrahmen herrschte.

Nun kann man nicht grundsätzlich bestimmen, welche Gruppe für einen bestimmten Menschen die dominante Bezugsgruppe ist. In den meisten Fällen dürfte es die Familie sein. Wohl aber läßt sich vermuten, daß diesen Gruppen eine große Bedeutung für die Bildung politischer Urteile und Vorurteile zukommt. Sehr wahrscheinlich werden im Bezugsrahmen solcher Gruppen die Mehrdeutigkeiten der Werte und Erscheinungen zu Eindeutigkeiten entschieden - oft wohl sogar so, daß die Mehrdeutigkeit erst gar nicht recht in den Blick kommt. Möglicherweise gehört Bildungswissen zum Prestige, das eine solche Gruppe verleiht. Gegenwärtig scheinen solche Gruppen die einzigen sozialen Felder zu sein, in denen Bildungswissen sozial praktiziert werden kann. Aber es kann auch genau umgekehrt sein, daß nämlich das Interesse daran einen Angehörigen der Gruppe zum Außenseiter stempelt und ihn sozial isoliert. Dann hat auch die Schule mit ihren Bemühungen kaum eine Chance. Gesellschaftliche Verhaltensweisen dürften kaum erforderlich sein, intime Kommunikationsstile werden vorherrschen. Politische Verhaltensweisen lernt man hier ebensowenig wie Orientierungswissen. Am wichtigsten bleibt wohl die Tatsache, daß diese Gruppen vornehmlich der Ort der politischen und sozialen

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Urteils- und Entscheidungsbildung sind. Das aber würde bedeuten, daß gerade hier und unter der Kontrolle des jeweiligen Bezugsrahmens immer wieder Aktionswissen mobilisiert wird, wobei die Art und Weise der Mobilisierung wohl nicht nur vom Bezugsrahmen, sondern sicher auch von Art und Zahl der zur Verfügung stehenden Kommunikanten abhängt sowie davon, wie direkt die zur Entscheidung stehende Frage die Gruppe selbst betrifft. Aber man wird sich nicht darauf verlassen dürfen, daß ein solches Aktionswissen den Maßstäben politischer Bildung entspricht. Gerade die Praxis der politischen Bildung hat in den letzten Jahren immer wieder gezeigt, wie schwer es ist, seitens der Schule gegen die Urteilsmaßstäbe solcher Gruppen - etwa der Familien - anzugehen.

Massenkommunikation

Daß die Massenkommunikationsmittel die Erziehung der Jugendlichen erheblich mitformen, bedarf keines Beweises mehr. Relativ wenig aber wissen wir darüber, in welcher Weise dies geschieht. Auch müßte man wohl zwischen den einzelnen Massenmedien sorgsam unterscheiden. Wir wollen der Einfachheit halber die Betrachtung auf das Fernsehen einschränken, das ja aus vielen Gründen das interessanteste Phänomen aus diesem Bereich ist.

Ohne Zweifel leistet es einen wirksamen Beitrag auf der Ebene des Bildungswissens,allerdings eingeschränkt auf das, was sich in diesem spezifischen Medium darbieten läßt. Geschichte, Philosophie und Religion scheinen weitgehend seinen Darstellungsmitteln zu widersprechen, während die Literatur vor allem durch das Fernsehspiel ganz neue Möglichkeiten bekommen hat. Im großen und ganzen aber sind die Bildungswirkungen des Fernsehens noch zu wenig erforscht, als daß man heute schon Gültiges darüber sagen könnte.

Viel offensichtlicher ist dagegen, daß das Fernsehen einen sehr erheblichen Beitrag zum Aufbau eines Orientierungs-

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wissens leistet. Viele politische Informationssendungen sind ein Beweis dafür, daß man mit Hilfe aller optischen Mittel in verhältnismäßig kurzer Sendezeit tatsächlich so etwas wie ein System der Produktion entfalten kann.

Noch wichtiger ist aber wohl die Übung des Aktionswissens durch das Fernsehen. Informative Sendungen sind aktualitätsbezogen. Sie versuchen im Grunde genau das, was wir in dem didaktischen Modell analysiert haben. Sie gehen aus von einer aktuellen Kontroverse, versuchen sie mit dem notwendigen Orientierungswissen sachlich aufzuhellen und benutzen dabei durchaus Kategorien, an denen sich die Auswahl der Informationen orientiert. Rein formal könnte unser didaktisches Modell auch so etwas wie eine dramaturgische Theorie für politische Informationssendungen sein. Diese Übereinstimmung ist keineswegs zufällig, sie zeigt nur, daß die Vermittlung von Informationen überall vor den gleichen Problemen steht. Es wäre eine interessante und wichtige Aufgabe für die empirische Erziehungswissenschaft, politische Fernsehsendungen einmal auf ihre didaktische Struktur zu untersuchen. Auch im günstigsten Falle bleibt eine prinzipielle Grenze: die Flüchtigkeit des Eindrucks, der Mangel an Kontinuität.

Politische Verhaltensweisen werden durch das Fernsehen zwar weniger aktiviert, aber immerhin vorgemacht. Das Interview und die Diskussion mit institutionellen Repräsentanten führen uns vor, wie man institutionsgerecht, kritisch und kontrollierend verfahren kann. Der Zuschauer findet sich dabei gleichsam durch die Fragenden auf dem Bildschirm vertreten. Er lernt politische Verhaltensweisen durch das Zuschauen. Ebenso geht es ihm bei vielen Unterhaltungssendungen für den Bereich gesellschaftlicher Verhaltensweisen. Vermutlich beruht die Beliebtheit vieler Unterhaltungssendungen nicht nur auf dem Vergnügen, sondern auch auf der oft gar nicht bewußten Lernbereitschaft, die man den Vorbildern ungezwungenen gesellschaftlichen Umgangs entgegenbringt. Die Bewunderung für manche Bosse der Unterhaltung hängt sicher damit zusammen.

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Zu den wenigen Pädagogen, die sich unter solchen Aspekten mit dem Fernsehen beschäftigt haben, gehört Paul Heimann. Er hat auch klar erkannt, daß das Fernsehen den überlieferten engen Begriff von "Erziehungswirklichkeit" sprengen muß: "Wir werden gut daran tun, uns an den Gedanken zu gewöhnen, daß wir es im gesamten Erziehungsraum von nun an mit zwei konkurrierenden Bildungsmodellen zu tun haben, die nicht nur unterschiedlichen Bildungsideen folgen, sondern die sich auch in Gehäusen sehr verschiedener gesellschaftlicher Struktur installiert haben. Auf der einen Seite steht das öffentliche Schulwesen vom Kindergarten bis zur Universität, auf der anderen die großen Sendestationen mit mehr oder weniger Öffentlichkeitscharakter" ("Optisch-akustische Mittel in Erziehung und Bildung", München 1961, S. 28).

Schule

Schon aus der recht oberflächlichen Skizzierung der gesellschaftlichen Faktoren dürfte die fundamentale Bedeutung der Schule für die Ebene des Bildungswissens deutlich geworden sein. Manches wird von den anderen Faktoren übernommen und kann vielleicht sogar am effektivsten von ihnen wahrgenommen werden, aber die Begegnung mit kulturellen Objektivitäten und vor allem die kontinuierliche Beschäftigung mit ihnen wird und kann wohl von niemandem außerhalb des geplanten Erziehungsfeldes wahrgenommen werden. Selbst wenn das sogenannte Bildungsfernsehen eine mediengerechte Sendeform werden sollte - was heute noch heftig umstritten ist - , wird man kaum damit rechnen können, daß genügend jugendliche Zuschauer regelmäßig und kontinuierlich daran teilnehmen. Bildungswissen bleibt nicht nur die zentrale Aufgabe der Schule, sondern diese Aufgabe wird gerade durch eine pädagogische Betrachtung der gesellschaftlichen Faktoren neu begründet.

Dafür kann sich die Schule aber auch auf anderen Ebenen

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zunehmend als entlastet betrachten. Das gilt schon für die Ebene des Orientierungswissens. Hier kann sie zunehmend voraussetzen, daß der Jugendliche außerhalb der Schule Erfahrungen und Informationen erwirbt, die sie selbst nicht mehr so gründlich wie bisher in ihren Lehrplan zu pressen braucht. Manche didaktische Frage, wie die "Elementarisierung" der politischen Welt, das Suchen nach jugendgemäßen Einstiegen, werden zweitrangig, wenn nicht überhaupt hinfällig. Das gilt ebenso für die Probleme der "Verfrühung" und der "Vorwegnahme", weil das Kriterium ihrer Diskussion, die jugendliche Erfahrung, sich wesentlich geändert hat. Erfahrung ist nicht länger mehr allein das, worauf man im "Umgang" stößt. Auch die Massenmedien vermitteln Erfahrungen, die sicher anders geartet sind, aber dennoch in der Vorstellungswelt dieselbe Funktion übernehmen. In den Fächern des Orientierungswissens hat der Unterricht immer weniger die Aufgabe, die Welt in Form des geplanten Lehrgangs in den Vorstellungshorizont der Jugendlichen zu bringen, als vielmehr umgekehrt die bereits vorhandene Fülle und Diffusität der Vorstellungen auf zweierlei Weise zu ordnen: durch sachlich-elementarisierte Systematik und durch kategoriale Infrage-Stellung. Es geht nicht mehr so sehr darum, in Form von Lebenskreisen den sozialkundlichen Stoff zu ordnen, sondern bewußt aufs Ganze des realen politisch-sozialen Zusammenhangs zu zielen, also zu systematisieren. Unterhalb dieser Forderung leisten die Massenmedien bessere Arbeit als die Schule. Ähnliches gilt für die kategoriale Durchdringung der bereits vorhandenen Vorstellungen und Erfahrungen. Kategorien, so haben wir gesagt, enthalten Momente der Distanz von der Unmittelbarkeit des Daseins, die nur im Zusammenhang des Bildungswissens erworben werden können. Ohne solche bildende Begegnung, das heißt ohne Benutzung der den jeweiligen kulturellen Bereichen angemessenen Kategorien, ist ein Ordnen der Vorstellungen und Erfahrungen nicht möglich.

Auch angemessene Verhaltensweisen müssen und können

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nicht unbedingt mehr vollständig in der Schule gelernt werden. Gewiß muß die Schule für bestimmte Altersphasen dem Gemeinschaftsdrang der Kinder Rechnung tragen, aber für das Jugendalter bieten sich heute derart viele Möglichkeiten der Gemeinschaftsbildung, daß die Schule nur verkrampft bieten kann, was sich draußen viel selbstverständlicher ereignet. Für die Ausbildung und Förderung gesellschaftlicher Verhaltensweisen ist sie in den meisten Fällen denkbar ungeeignet. Dies würde Kommunikationsformen zwischen Schule und Öffentlichkeit voraussetzen, wie sie wohl nur in Ausnahmefällen bestehen und vielleicht sogar wegen der Konzentration auf das der Schule Eigentümliche nicht einmal bestehen sollten. Anstatt über Schulfeiern und Elternabende eine gesellschaftliche Offenheit vorzutäuschen, sollte man klar sehen, daß das Freizeitsystem diese Aufgabe besser und gleichsam natürlicher erfüllt.

Anders stünde es schon mit den politischen Verhaltensweisen, wenn man einige recht liebgewordene Vorstellungen überprüfte. Der Lehrer tritt dem Schüler ja in mindestens zwei verschiedenen Rollen gegenüber, als Erzieher und als Repräsentant einer Institution. Beides versucht man immer wieder unter dem Begriff der "Autorität" zur Deckung zu bringen, was dann als Versöhnung der personalen mit der institutionellen Autorität immer nur gewaltsam gelingt. Insofern der Lehrer aber nun Repräsentant der Institution Schule ist, entscheidet er in erheblichem Maße über das künftige soziale Schicksal seines Zöglings. In dem Maße, wie die Schule heute die frühere Funktion der Klassengesellschaft erfüllt, nämlich soziale Schichten zu produzieren und zu reproduzieren, tritt politische Macht dem Jugendlichen in Gestalt seiner Lehrer unmittelbar gegenüber. Und nur einer undemokratischen pädagogischen Tradition wie der unseren kann es zweifelhaft erscheinen, daß überall dort, wo politische Macht auftritt, es legitime Interessenvertretungen gegen diese Macht geben muß. Würde man die Folgerungen aus dieser Tatsache ziehen, dann würde derselbe Schüler demselben Lehrer einmal im

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Vertrauen des erzieherischen Umgangs und ein andermal in der Form der kritischen Loyalität begegnen. Welch eine produktive Situation für das politische Lernen beider Seiten! Man müßte nicht künstlich politische Konflikte in die Schule hineinholen, sondern brauchte nur die aufzugreifen, die objektiv in ihr selbst enthalten sind.

Seitdem als Folge der politischen Macht der Schule, der Lehrer und der Eltern unter bestimmten Voraussetzungen Zeugnisse, Zensuren und Versetzungen einklagbar sind, ist diesem Grundsatz in der Rechtsprechung längst Rechnung getragen. Der Rechtsweg ist eine zwar legale, aber letztlich doch unpädagogische Weise, diesen Konflikt auszutragen; denn so lernt niemand etwas dabei, weder die Lehrer noch die Schüler oder die Eltern.

Ich meine, daß unter den genannten Umständen der Schüler nicht nur ein menschliches, sondern auch ein unmittelbar politisches Interesse an gerechter Behandlung in der Schule hat; daß er sein politisches Interesse vertritt, wenn er eine höchstmögliche Förderung seiner wie immer bescheidenen Fähigkeiten fordert; wenn er die Unterrichtsweise eines Lehrers kritisiert; wenn er unentgeltliche Nachhilfe fordert, falls er trotz Fleiß und guten Willens dem normalen Unterricht nicht folgen kann; wenn er bei Schulstrafen eine schriftliche Darstellung aus seiner Sicht entweder selbst oder durch seine Schülervertretung in die Unterlagen zu bringen trachtet.

Man sieht, es ließe sich einiges anführen. Aber die bisherige Diskussion über die Schülermitverwaltung hat zur Genüge bewiesen, daß das ein auf lange Sicht müßiges Unterfangen wäre, weil beinahe alle pädagogischen Tabus über das Verhältnis von Schule und Gesellschaft aufgewühlt würden. Vielleicht ist das auch nicht ohne großen Schaden für die pädagogische Aufgabe der Schule zu ändern. Aber dann muß man sich darüber klar sein, daß in unseren Schulen bislang keine politischen Verhaltensweisen gelernt werden können. Was gegenwärtig unter dem Stichwort des "demokratischen Unterrichtsstiles" diskutiert wird, ist eine ganz andere Ebene des Problems,

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weil nämlich hier die Identität von personaler und institutioneller Autorität aufrecht erhalten und damit an der Totalität der Lehrerrolle festgehalten wird. Die Verhaltensweisen, um die es bei dem Terminus "demokratischer Unterrichtsstil" geht, sind eben nicht politische, sondern jene, die wir als unspezifische bezeichnet haben.

Bleibt also als Schwerpunkt des schulischen Anteils an der politischen Bildung und Erziehung die rationale Seite des Ordnens der Vorstellungen und Erfahrungen durch sachlich-elementarisierte Systematik und kategoriale Infragestellung.

Jugendarbeit

In einer sehr groben Vereinfachung könnte man sagen, die Schule sei als pädagogisches Feld der Berufs- und Arbeitswelt zugeordnet, während die Jugendarbeit mit ihren Institutionen der Freizeitwelt entspreche. Das ist in dem Sinne falsch, daß weder die Schule etwas lehrt, was nur in der Berufswelt zu verwerten ist, noch die Jugendarbeit etwas tut, was nur in der Freizeit von Nutzen ist. Richtig ist dieser Satz aber in dem Sinne, daß die gesellschaftlichen und organisatorischen Bedingungen der Berufs- und Arbeitswelt die Schule viel stärker prägen als die Jugendarbeit, die umgekehrt wieder sehr viel stärker den Bedingungen des Freizeitfeldes verhaftet ist.

Wie immer man das Verhältnis von Schule und Jugendarbeit bestimmen mag, sicher ist, daß es bestimmte Merkmale gibt, die diese beiden Felder unaustauschbar machen. Wie schwer es ist, für den Bereich der Jugendarbeit zu brauchbaren Theorien zu kommen, zeigen der Sammelband "Was ist Jugendarbeit?" (München 1964) und die daran anschließende Diskussion in der Zeitschrift "deutsche jugend". Unter dem Begriff "Jugendarbeit" werden heute so viel verschiedene Institutionen, Formen und Inhalte der pädagogischen Arbeit zusammengefaßt, daß es fast unmöglich scheint, sie auf einen Nenner zu bringen. Das

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bedeutet aber, daß sich Jugendarbeit ganz allgemein gar nicht eindeutig auf unsere verschiedenen Lernaufgaben zuordnen läßt. In der Form der langfristigen Tagung kann sie durchaus einen Beitrag zum Bildungswissen leisten, in ihren kurzfristigen Veranstaltungsformen kaum. Auch die Systematisierung des Orientierungswissens ist in der Regel nicht der ihr gemäße Arbeitsinhalt. Sie müßte das auf eine schulische Weise tun, wozu sie meist nicht die rechten Mitarbeiter und äußeren Möglichkeiten hat. Für das Erlernen politischer und gesellschaftlicher Verhaltensweisen hingegen hat sie nahezu unbeschränkte Möglichkeiten. Dies nicht nur deshalb, weil sie auf eigentümliche Weise selbst Bestandteil des Freizeitsystems ist, sondern auch deshalb, weil zur Durchführung von Maßnahmen Umgang mit politischen Institutionen erforderlich ist (zum Beispiel zur Sicherstellung der Finanzierung der Maßnahme). Außerdem kann die Jugendarbeit immer wieder Situationen schaffen, die zu ihrer Bewältigung politische und gesellschaftliche Verhaltensweisen erfordern. Auch für die Übung von Aktionswissen bestehen hier große Chancen, weil die Bildungsbemühungen in diesem pädagogischen Feld auf langfristige Planung, Lehrpläne und Kontinuität verzichten müssen und sich statt dessen auf eine Stoffgliederung einlassen, die sehr viel stärker als in der Schule aktualitätsbezogen ist. Die Jugendarbeit kann immer wieder neue Aufgaben in Angriff nehmen.

Objektiv gesehen ist dieses Feld also am wenigsten von allen vorgeprägt und zu bestimmten gesellschaftlichen Leistungen verpflichtet, weshalb es sich noch am ehesten solchen Lernaufgaben zuwenden kann, die in den anderen Feldern nicht zum Zuge kommen. Ob sich in der Praxis das Bewußtsein dieser besonderen Chance durchsetzen kann, ist eine ganz andere Frage. Vorläufig ist diese Praxis eher von traditionellen Klischees und - im Bereich des stofflichen Lernens von schulischen Vorbildern bestimmt, wie das etwa im häufigen Gebrauch des Wortes "Lehrgang" für ihre Unterrichtsveranstaltungen zum Ausdruck kommt.

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Lernsituation und Lerninhalt

Solange sich die Pädagogik vornehmlich als Wissenschaft vom Schulehalten verstand, war es nicht zwingend, der Lernsituation Schule größere Aufmerksamkeit in den didaktischen Überlegungen zu widmen; denn es fehlte der Vergleich zu anderen Situationen, und die verschiedenen Lernsituationen in den Schulen selbst verrieten trotz aller Besonderheit soviel Gemeinsamkeiten, daß man sie unberücksichtigt lassen konnte. In der klassischen Formel vom didaktischen Dreieck (Lehrer - Sache - Schüler) ist die Situation, in der das Dreieck angewandt wird, nicht weiter fraglich.

Obwohl dieser Komplex bisher von der empirischen pädagogischen Forschung noch wenig berücksichtigt wurde, darf man mit guten Gründen vermuten, daß die verschiedenen Lehrinstitutionen nicht nur objektiv spezifische Chancen und Grenzen haben, sondern daß sie auch subjektiv in dieser Verschiedenheit erlebt werden. Das heißt aber nichts anderes, als daß die objektiven gesellschaftlichen, institutionellen und organisatorischen Bedingungen, die ja letztlich eine solche Lernsituation bestimmen, pädagogische Implikationen annehmen, insofern sie sich subjektiv in bestimmter Weise widerspiegeln - zum Beispiel als größere oder geringere Lernmotivation. Wo etwa eine Schule dem Schüler vornehmlich als gesellschaftliche Zwangsinstitution gegenübertritt, wird er schwerlich gerade politische Verhaltensweisen wie kritische Loyalität lernen wollen, die die Situation, in der er das lernen soll, gar nicht von ihm verlangt. Wir haben schon früher gefragt, ob unsere Gesellschaft eigentlich wirklich jene kritischen Staatsbürger will, die die politische Pädagogik zu erziehen trachtet, und man muß diese Frage auch für die Schule stellen. Die Gefahr ist groß, daß die vielleicht vorhandene kritische Bereitschaft der Jugendlichen angesichts einer Situation, in der sie nicht zum Zuge kommen kann, umschlägt in Ressentiment - nicht nur gegen die Insti-

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tution, um die es sich jeweils handelt, sondern schlechthin in politische Ressentiments. Der unermüdliche Appell, sich kritisch und souverän zu verhalten, erhält aus der Sicht des Jugendlichen zwingend den Charakter hämischer Täuschung, wenn sich dieser Appell nicht einmal in der pädagogischen Situation, in der er formuliert wird, realisieren läßt. Schule und Arbeitsplatz sind wohl die beiden Lernsituationen, die die größte Macht über den Alltag des Jugendlichen ausüben, und man darf sich nicht darüber täuschen, daß diese Tatsache tief eindringt in das, was hier gelernt wird und wie das Gelernte verstanden und gedeutet wird. Solange zum Beispiel die Schule "soziale Verteilerstelle" (Schelsky) ist, wird das zur Folge haben, daß die Schüler für die Zeugnisse lernen und alles als zweitrangig ansehen, was nicht unbedingt dafür nötig ist. Solange dann politischer Unterricht nicht zensiert wird, muß er hier auch als unwesentlich gelten.

Nur die pädagogisch geplanten Lernsituationen - also vor allem Schule und Jugendarbeit - sind in einem gewissen Rahmen änderbar, die übrigen sind vorgegeben. Damit taucht aber die Frage auf, wie Schule und Jugendarbeit beschaffen sein müssen, damit das, was sie lehren wollen, auch wirklich gelernt werden kann. Im Grunde ist dies die Frage, wieweit Schule und Jugendarbeit den wirklichen Lebensverhältnissen entsprechen sollen oder nicht. Nimmt man die oft geforderte "Verbindung von Schule und Leben" allzu wörtlich, dann gleichen sich die pädagogischen Situationen vollends denen des Lebens, das heißt der gesellschaftlichen Wirklichkeit an. Da aber dieses Leben - wie wir sahen - gegenwärtig noch sehr wenig Möglichkeiten für die politische Beteiligung junger Leute bereithält, würde das bedeuten, daß die Forderung nach dem kritischen Staatsbürger schon dort, wo sie gelernt werden soll, unwahr ist - oder man muß bekennen, daß man mit dieser Forderung eigentlich nur den disponiblen und funktionsfähigen Staatsbürger meint. Kritische Distanz zu lernen ist nur möglich, wenn man dem unmittelbaren Zwang dessen, was da kritisiert werden soll,

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wenigstens zeitweilig entzogen ist. Das führt zu einer nur scheinbar paradoxen Folgerung: Schule und Jugendarbeit können ihre Aufgabe der politischen Bildung nur erfüllen, wenn sie sich in erheblichem Maße als "pädagogische Provinz" verstehen.

Zusammenfassung und Übergang

Die Frage nach den politischen Lehrinhalten für die Jugendbildung, die uns in diesem Buch beschäftigt, ist eigentlich mit dem zweiten Teil unserer Arbeit schon beantwortet worden. Es handelt sich - so wurde gesagt - um mindestens vier sehr verschiedene Lehr- und Lernaufgaben, nämlich um "Bildungswissen", "Orientierungswissen", "politische Verhaltensweisen" und "Aktionswissen". Aber diese Antwort war im Hinblick auf die praktische pädagogische Arbeit immer noch unbefriedigend. Wenn daraus nämlich zu folgern wäre, daß all dies unbedingt in den Schulen gelernt werden muß, würden die Schulen weiterhin hoffnungslos in der Stoffülle ertrinken.

Es wird aber immer klarer, daß man in den Schulen nicht mehr alles Wichtige "ein für allemal" lernen kann, so daß es für das ganze Leben ausreicht: Man müsse vielmehr "lernen lernen", heißt es oft. Aber auch das ist ja zunächst nur eine inhaltsleere Formel, die solange nicht weiterhilft, wie nicht im einzelnen bestimmt ist, was im Jugendalter nun unbedingt gelernt werden muß und was man getrost aus den Lehrplänen streichen kann. Die vielbeklagte Stofffülle hat zunächst ganz sicher ihre Ursache darin, daß heute eben sehr viel mehr gelernt werden muß als früher. Insofern muß sie hingenommen werden. Sie kommt aber auch noch durch zwei weitere Tatsachen zustande, die wir abändern können.

Erstens haben wir keine rechten Maßstäbe mehr, um für einen bestimmten Lebensbereich - wie den der Politik - Wichtiges von Unwichtigem scheiden zu können. Wir versuchen das immer noch mit dem sogenannten "Bildungs-

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gehalt" eines Lebensbereiches, aber der erste Teil unseres Buches hat schon gezeigt, daß dieser Maßstab für das Problem der politischen Bildung so gut wie nichts hergibt. Wir brauchen also didaktische Maßstäbe, die uns jenseits aller "Bildungsmetaphysik" erlauben, einigermaßen zuverlässig zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden. Solche Maßstäbe haben wir im zweiten Teil des Buches zu formulieren und zu begründen versucht.

Aber das allein reicht offenbar nicht mehr aus, denn die Stoffülle ist damit immer noch nicht genügend eingedämmt. Wir müssen uns vielmehr zweitens an den Gedanken gewöhnen, daß die Schule nicht die einzige Lehrinstitution ist, in der etwas Wichtiges gelernt wird, ja, daß man manches Wichtige vielleicht gerade dort gar nicht mehr richtig lernen kann. Schon aus rein "ökonomischen" Gründen dürfen wir in der Schule nicht länger umständlich wiederholen, was mit einiger Sicherheit außerhalb der Schule schon längst gelernt ist. Vielleicht heißt "politische Bildung" in Zukunft viel eher, die Menschen zu kritischen und interessierten "Fernseh-Lesern" zu machen - weil das besonders wichtig für ihre politische Beteiligung ist - , als ihnen über Jahre eine Fülle von politischen Stoffen beizubringen, die in dem Augenblick, wo sie gelernt werden sollen, gänzlich nutzlos sind und erst dann wichtig werden, wenn das Fernsehen sie sendet, weil sie dann nämlich aktuell sind und zur Lösung eines kollektiven Problems auch wirklich gebraucht werden. Diesen zweiten Gesichtspunkt, der Stoffmassen Herr zu werden, haben wir im dritten Teil des Buches - wenn auch sehr fragmentarisch - zu explizieren versucht.

Nun bleibt noch übrig, einiges über den Begriff "Didaktik" zu sagen, wie wir ihn in unserer "politischen Didaktik" verwendet haben. Damit greifen wir unter neuem Aspekt noch einmal Überlegungen aus dem ersten Teil des Buches auf, die dem Leser bisher vielleicht überflüssig vorgekommen sind. In der Einleitung wurde gesagt, "Didaktik" solle die Frage nach dem "Was" des Lernens klären. Aber schon der erste Teil enthielt implizit eine

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Theorie der Didaktik, die von den heute herrschenden Theorien mehr oder weniger abweicht. "Didaktik" ist gemeinhin eine Schul- und Lehrerwissenschaft; aber wir haben nicht gesagt, ob unser didaktisches Modell für das Gymnasium, die Mittelschule, die Berufsschule oder die Volksschul-Oberstufe gelten soll. Den Begriff der "Bildung", der in den meisten didaktischen Vorstellungen die verschiedenen Unterrichts- und Erziehungsaufgaben integriert und sie zugleich bestimmt, haben wir mehrmals und mit verschiedenen Argumenten dieser Funktion enthoben; aber wir haben bisher verschwiegen, welche leitenden Gesichtspunkte nun unserem Begriff von Didaktik zugrunde liegen. Gerade der pädagogisch geschulte Leser wird mit Recht erwarten, daß dies noch erklärt wird. Dazu aber müssen wir nun zum Schluß noch so kurz wie möglich in die allgemeine didaktische Diskussion eingreifen.

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 URL des Dokuments: : http://www.hermann-giesecke.de/poldi3.htm

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