Hermann Giesecke

Didaktik der Politischen Bildung

München: Juventa-Verlag 1965
 

ZWEITER TEIL: DIDAKTISCHE KONSTRUKTION

© Hermann Giesecke

Inhaltsverzeichnis

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Zu dieser Edition:
Dieses Buch geht auf einen Teil meiner (ungedruckten) Kieler Dissertation "Die Tagung als Stätte politischer Jugendbildung" zurück, der für den Druck seinerzeit erheblich überarbeitet wurde. Es basiert auf praktischen Erfahrungen in der außerschulischen politischen Jugendbildungsarbeit, die ich unter dem Titel "Politische Bildung in der Jugendarbeit" 1966 veröffentlicht habe.
Weggelassen wurden zwei vorangestellte Motti und das Vorwort. Über den damaligen politisch-pädagogischen Hintergrund finden sich nähere Angaben in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen.
Das  Literaturverzeichnis befindet sich auf dem Stand des Erscheinungsjahres 1965.
Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurde das Original jedoch nicht verändert.  Um die Zitierfähigkeit zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.
Die hier wiedergegebene Erstfassung wurde in der 3. Aufl. 1968 durch  den Abdruck  kritischer Einwände und eine Replik darauf erweitert. Mit der 7. Aufl. 1972 ("Neue Ausgabe")  wurde der Text grundlegend umgearbeitet; diese Neufassung wurde  mit der 10. Auflage 1976 um einen Nachtrag ergänzt, der die Diskussion des Themas seit 1972 aufzugreifen versucht.

Der Text darf zum persönlichen Gebrauch kopiert und unter Angabe der Quelle im Rahmen wissenschaftlicher und publizistischer Arbeiten wie seine gedruckte Fassung verwendet werden. Die Rechte verbleiben beim Autor.

© Hermann Giesecke

Inhalt

Zweiter Teil: Didaktische Konstruktion

Die vier Ebenen der Lerninhalte
Vermittlung: Kategorien der Begegnung mit dem Politischen
Entwurf eines didaktischen Modells
Folgerungen für die Methodik des politischen Unterrichts


Zweiter Teil: Didaktische Konstruktion

Die vier Ebenen der Lerninhalte

Die bisherigen Oberlegungen waren nicht ohne Grund so wenig systematisch. Es galt zunächst, die vielfältigen Verschränkungen von Politik und Pädagogik nicht aus dem Auge zu verlieren. Wie sehr die objektive und die subjektive Seite, die pädagogischen und die politischen Momente, die Probleme und die Lösungsvorschläge miteinander verknüpft sind - gerade dies mußte zunächst deutlich werden. Auf diese Weise haben wir erreicht, daß alle wesentlichen Probleme unseres Themas zur Sprache gekommen sind, keines aber wirklich ausgeführt werden konnte. Dies gilt es nun nachzuholen. Dabei können wir uns jetzt auf den Versuch einer gewissen Systematik einlassen. Die Gefahr nämlich, sich dabei in eine eingleisige Richtung drängen zu lassen, dürfte gebannt sein, nachdem die bisherige Darstellung die komplexen Zusammenhänge wohl genügend bewußt gemacht hat.

Es hat sich gezeigt, daß politische Beteiligung auf mindestens vier verschiedenen Ebenen gelernt werden muß:

auf der Ebene des Bildungswissens,

des Orientierungswissens,

der politischen Verhaltensweisen,

des Aktionswissens.

Nun müssen wir uns etwas genauer mit diesen vier Ebenen beschäftigen.

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Bildungswissen

Wir haben gesehen, daß die Art des Bildungswissens und der in ihm gestiftete Zusammenhang große Bedeutung für das politische Bewußtsein haben. Das Bildungswissen verklammert die konkreten politischen Urteile mit den politischen Normen. Wenn das Politische selbst keine Auskunft geben kann über die Werte, die durch es verwirklicht werden sollen, dann tritt die Bedeutung des Bildungswissens klar in das Blickfeld. Da andererseits das Aktionswissen jene Form des menschlichen Wissens ist, die alles Gewußte auf ein bestimmtes politisches Entscheidungshandeln zuordnet, muß es einen Bereich des Wissens, der Vorstellungen und Erfahrungen geben, der nicht völlig im jeweils Gebrauchten aufgeht und der auch das Reservoir enthält, aus dem Normen, Möglichkeiten und Vorstellungsgehalte immer wieder neu entnommen werden können. Deshalb dürfen Bildungsfächer wie "Geschichte" eben nicht nur von den Bedürfnissen der politischen Gegenwart her inhaltlich bestimmt werden, sondern müssen gerade eine gewisse Autonomie gegenüber diesen Bedürfnissen behalten. Sonst wird eine bloße Instrumentalisierung der Bildungsgehalte auf aktuelle Bedürfnisse hin unausweichlich, und im Extremfall wird ihrer falschen Politisierung Tür und Tor geöffnet.

Dieser Zusammenhang läßt sich durch drei Thesen klarmachen. Erstens: Nur das Bildungswissen kann das Reservoir der Normen für das politische Bewußtsein enthalten. Zweitens: Nur das Bildungswissen kann das Reservoir der Vorstellungen enthalten, das umfangreicher sein muß, als der aktuelle Gebrauch erzwingt. Drittens: Nur das Bildungswissen ist das Reservoir der anderen Möglichkeiten für die Änderung und Verbesserung der politischen Verhältnisse. Da wir die These, Politik sei kein autonomer Seinsbereich, sondern eine Art und Weise der Wertverwirklichung, schon vorher begründet haben, seien lediglich den beiden letzten Thesen noch einige Bemerkungen gewidmet.

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Die Vorstellungen über die Ordnung des politischen Lebens können nicht oder jedenfalls nicht vollständig dem Politischen selbst entnommen sein. Das gilt nicht nur für die Wertvorstellungen, wie sie etwa das Grundgesetz repräsentiert, sondern auch für die Funktionsvorstellungen. Daß zum Beispiel politische Macht verteilt bleiben soll - ob nun in der Form der klassischen Gewaltenteilung oder in einer anderen Form - , diese Forderung ist ja in ihrem Grunde keine bloß funktionelle Vorstellung. Schon die politischen Klassiker, die diese Lehre entwickelt haben, konnten dabei auf eine Reihe anthropologischer Vorentscheidungen nicht verzichten. Alle klassischen politischen Theorien waren immer zugleich Theorien über den Menschen, seine Bedürfnisse, Leidenschaften, Hoffnungen und Wünsche. Sie speisten sich aus zahlreichen Quellen: aus den politischen Erfahrungen der eigenen Zeit; aus der philosophischen Tradition; aus der Literatur, die darauf verzichten konnte, die Bilder, die sie vom besseren Menschsein entwickelte, auch gleich politisch verwirklichen zu müssen; aus einer Religiosität, die sich dagegen wehrte, das jeweils Daseiende als das einzig Vernünftige oder gar von Gott Gewollte anzusehen. Aus dem, was im Verlaufe der menschlichen Geschichte gedacht wurde, sowie aus dem, was gegenwärtig in Literatur, Kunst, Religion und Philosophie geschieht, erwachsen die Vorstellungen. die, gerade weil sie nicht unmittelbar für die politische Gegenwart gedacht wurden, Distanz und Verfremdung zu ihr ermöglichen. Wird hier von vornherein aus dem Blickpunkt der unmittelbaren Brauchbarkeit gefragt, wird das Ausmaß der Brauchbarkeit durch Lehrpläne in der Form von Stoffen bereits vorentschieden, so wird gleichsam von Amts wegen immer schon behauptet, was es doch gerade zu beweisen gilt. Gerade dann, wenn Jugendliche sich mit solchen Gehalten zunächst ohne Rücksicht auf Anwendbarkeit beschäftigen, eine durch die Natur der Sache diktierte geistige und emotionale Erfahrung mit ihnen machen, machen sie sich diese Gehalte mittelbar auch für künftige Anwendungen verfügbar.

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Das sei an zwei Beispielen kurz erläutert: Die Beschäftigung mit sozialen und wirtschaftlichen Vorstellungen aus den Zeiten vor der Industrialisierung hat im Hinblick auf die gegenwärtige politische Welt ihren Sinn nicht darin, daß aus ihr eine unmittelbare Hilfe für deren Bewältigung zu entnehmen sei - das wäre Sozialromantik - , sondern gerade darin, daß es als das uns Fremde gleichwohl in der Vorstellung nachvollzogen und damit zu einer kritischen Instanz für gegenwärtige Verhältnisse, Bedürfnisse und Lebensmaximen wird. Dies mag auch Klafki gemeint haben, wenn er sagt: "Überliefert soll das werden, was dem jungen Menschen helfen kann, seine Gegenwart und seine Zukunft besser zu verstehen und menschlich zu meistern" (70, S. 103). Aber liegt das nicht vielleicht gerade in dem, was dem jungen Menschen auf den Blick nicht dafür geeignet zu sein scheint: in der Beschäftigung mit überholten, nicht unmittelbar mehr anzuwendenden Weisen menschlichen Daseins? Kann man überhaupt mehr darüber sagen als dieses, daß es eine die Gegenwart relativierende und verfremdende Daseinsweise sein müsse? Oder ein anderes Beispiel: Wer die Szenen aus Brechts "Furcht und Elend des Dritten Reiches" nicht im Rahmen ihrer künstlerischen Struktur verstehen kann, dem entgeht auch eine bestimmte Weise des Zugangs zum politischen Thema der "unbewältigten Vergangenheit", die durch keine andere Weise gänzlich kompensierbar ist. Oder er entnimmt hier die bloße Story, die ihm - ohne das Korrektiv der künstlerischen Struktur - unbegrenzt manipulierbar, zur Bestätigung der vorgefaßten Meinung wird. Hier gilt sinngemäß, was Adorno vom Musikunterricht forderte: "Jede Berufung aufs Ethos der Musik, die es nicht in ihrer eigenen Gestalt, sondern in ihrer Funktion aufsucht, arbeitet jenem Ethos entgegen und trägt das ihre bei zum Schuldzusammenhang der universalen Fungibilität" ("Dissonanzen", 2. Aufl., Göttingen 1958, S. 113).

Ähnliches läßt sich auch zur Stützung der dritten These sagen, die ja nur eine Variante der zweiten enthält: Auch jene Vorstellungskomplexe, die als utopische Momente künftige Möglichkeiten als Wirklichkeiten antizipieren, liegen gerade in jenen primär nichtpolitischen kulturellen und geschichtlichen Bereichen beschlossen, mit denen wir uns unter dem Gesichtspunkt der Bildung beschäftigen.

Da also eine solche bildende Begegnung mit kulturellen Gehalten unersetzlich für das produktive politische Bewußtsein ist, werden prinzipiell alle jene von ihm ausgeschlossen, denen man die Fähigkeit dazu entweder nicht

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glaubt zumuten zu können oder die man - etwa unter dem Stichwort des "konkreten Denkens" - für etwas anderes geeigneter hält. Wenn eine Begegnung mit kulturellen Objektivitäten unter dem damit verbundenen intellektuellen Anspruch nicht stattfindet, dann werden die Werte, die Vorstellungen und die utopischen Momente des Politischen manipulierbar; denn da auch das naive Bewußtsein nicht auf sie verzichten kann, werden sie aus anderen Quellen beschafft. Wer zum Beispiel nicht lernt, was Literatur ist, hat deshalb ja nicht etwa einen "weißen Flecken" in seinem Vorstellungshorizont, sondern er wird diese Lücke ausfüllen, etwa durch Illustriertenromane oder Fernsehspots. Damit ist unter den gegenwärtigen schulpolitischen Bedingungen ein bedenkliches Urteil über die politische Beteiligung derjenigen gesprochen, die sich mit dem 8- oder 9jährigen Volksschulabschluß begnügen müssen - und das sind immerhin etwa 80 Prozent der heranwachsenden Bevölkerung. Jede didaktische Theorie, die sich nicht von vornherein an eine Begegnung mit der Objektivität kultureller Ansprüche wagt, sich vielmehr mit Derivaten aus zweiter Hand begnügt oder die sich gar mit der vorgeblich ganz anders gearteten Begabung entschuldigt, muß wissen, was sie damit sagt: daß die überwiegende Mehrheit des Volkes prinzipiell keine geistige Distanz und damit eben auch keine politische Selbständigkeit gewinnen könne. Sicher sind "Objektivität" und "Subjektivität" sehr problematische philosophische Begriffe geworden. Wollten wir daraus allerdings in der Pädagogik den Schluß ziehen, die Lehrgegenstände seien nur das, was man - mehr oder weniger zufällig - davon versteht, dann gäbe es keine neuen geistigen Erfahrungen mehr, sondern nur noch immer erneute Information zur Fütterung des ein für allemal festgelegten Interpretationssystems. Die Schwierigkeit, im einzelnen Falle an die Objektivität eines kulturellen Sachverhaltes heranzukommen - ihn also seiner Subjektivität und seiner gesellschaftlichen Funktionalisierung zu entkleiden - , kann die Richtigkeit des Anspruchs nicht in Frage stellen.

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Daraus folgt nun unausweichlich, daß die Aufgaben der gegenwärtigen Erziehung und Unterrichtung nicht mehr allein unter dem Begriff der "Bildung" zusammengefaßt werden können. So sehr wir bisher dafür eingetreten sind, daß nur der allgemein Gebildete auch politisch gebildet sein kann, so klar ist andererseits geworden, daß politische Bildung und Allgemeinbildung nicht sich harmonisch ergänzende, sondern sich widersprechende Aufgaben sind. Das, was heute noch unersetzbar mit dem Begriff der Bildung gemeint sein kann und was wir im Hinblick auf die Aufgaben der politischen Beteiligung - also keineswegs vollständig - zu präzisieren versuchten, muß auf ganz bestimmte Aufgaben beschränkt werden. Unter diesem Aspekt scheint es mir sinnvoll, nur noch im Hinblick auf ganz bestimmte Fächer von "Bildung" zu sprechen: zum Beispiel Literatur, Kunst, Geschichte, Philosophie und Religion. Und dies auch nur dann, wenn die dazu nötigen Kulturtechniken so weit angeeignet sind, daß man auch wirklich von einer Fähigkeit zur Begegnung mit den Gehalten sprechen kann. In diesem Sinne dürfte niemand vor seiner Pubertät bildungsfähig sein.

Wenn wir den Begriff des Bildungswissens in dieser Weise einschränken, dann setzen wir damit das ursprünglich mit dem Begriff "Bildung" Gemeinte nicht nur wieder in eine rechte Position, wir würden auch manchen Gefahren vorbeugen: daß die Lebenstechniken in der Erziehungsplanung zu kurz kommen, weil sie nicht in den hohen Anspruch der Bildung hineinpassen; daß die Gedanken von Schulbuchautoren oder drittklassigen Literaten zu "Bildungsgehalten" werden, weil die Schüler zu einer bildenden Begegnung im engeren Sinne noch gar nicht in der Lage sind, gleichwohl aber alle pädagogischen Tätigkeiten unter "Bildung" rubriziert werden müssen; daß abgestandene Moral und "Tiefsinn aus zweiter Hand" (Adorno) als philosophische Weisheit ausgegeben werden müssen. Gewiß sind die Lebens- und Kulturtechniken nicht an sich zu lernen, sondern immer nur an den jeweiligen Gehalten. Aber das muß ja nicht heißen, daß jene Gehalte mehr

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hergeben sollen, als sie nun einmal können. Auch das, was ohne großen Hintersinn im Alltag an Fertigkeiten, Kenntnissen und Fähigkeiten gebraucht wird, ist ja wichtig für die menschliche Existenz und zweifellos die Voraussetzung dafür, auf einer höheren Stufe des Bewußtseins auch die Fähigkeit zur bildenden Begegnung zu erlangen.

Indem man seit den neuhumanistischen Klassikern das Wort "Bildung" zum Zeichen aller denkbaren pädagogischen Situationen und Aufgaben machte, liquidierte man zugleich den hohen objektiven und subjektiven - sachlichen und intellektuellen - Anspruch, der dem Begriff einst innewohnte. Heute steht dieses Wort für einen Prozeß der scheinhaften Demokratisierung des Erziehungswesens, weil es nicht dazu führte, möglichst viele Menschen zur Erfüllung des ursprünglich gemeinten Anspruchs fähig zu machen, sondern dazu, diesen Anspruch in immer kleineren Münzen nach unten umzusetzen, bis schließlich eins wie's andere aussieht: Goethe wie Walter Flex, "Hiroshima mon amour" wie "Immensee", das Kirchenlied wie der Schlager, Montesquieu wie der Oberregierungsrat Meier ("Vom Sinn demokratischen Lebens"), die Straßenverkehrsregeln wie die Regeln der alten Poetik, der Jugendgruppenleiter wie der Bundeskanzler, der industrielle Arbeitsplatz wie die griechische Akademie. "Bildung" im gegenwärtigen undifferenzierten Sprachgebrauch steht für die Kapitulation der Pädagogik vor der kulturindustriellen Mentalität.

Damit setzen wir uns in ausdrücklichen Gegensatz zu Wolfgang Klafki (70, S. 92), der gerade den Begriff der "Bildung" - im eben kritisierten umfassenderen Sinne - beibehalten möchte. Dies scheint mir deshalb eine unhistorische Betrachtungsweise zu sein, weil dieser Begriff im Neuhumanismus, also in einer bestimmten historischen Situation, geprägt wurde und dort allerdings als Chiffre für die Einheit aller Bildungs- und Erziehungsaufgaben gesehen wurde. Heute hingegen wären die widersprüchlichen Lernaufgaben nur noch formal-abstrakt mit einem Begriff zu bezeichnen, insofern sie alle sich jeweils auf ein und denselben Menschen beziehen. Mit einer solchen Formalisierung des Begriffes aber drohen gerade auch die unverzicht-

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baren Einsichten jener Tradition unscharf zu werden, auf deren nachdrückliche Aufhebung für die Gegenwart es uns hier entscheidend ankommt. Im Anschluß an Adornos Gedankengang in der "Theorie der Halbbildung" (2) sehe ich die fortschrittlichen Momente der klassischen deutschen Bildungsvorstellung, die der Aufhebung wert sind, gerade in der dialektischen Kehrseite jener Momente, die heute am schärfsten kritisiert werden. So sehr zweifellos das Desinteresse dieser Bildungsvorstellung an der modernen Arbeitswelt und an der Gesellschaft im ganzen der deutschen pädagogischen Tradition geschadet haben, so sehr nahm die klassische Bildungstheorie damit aber auch eine Forderung vorweg, die erst sehr viel später ökonomisch und gesellschaftlich realisiert werden konnte: die Forderung nach einer geistigen und kulturellen Existenz in ausdrücklicher Distanz zu den gesellschaftlichen Funktionalisierungen der kulturellen Objekte und Subjekte. Wenn man aber nun wie Klafki mit dem Begriff der Bildung gerade das an dieser Tradition aufnimmt, was zu ihren zeitbedingten Momenten gehörte - die Vorstellung einer eindeutig konzipierbaren Inhaltlichkeit des Bildungsvorganges - , dann läßt man auch jene fortschrittlichen Momente in der Versenkung der Geschichte verschwinden. Dagegen erscheint es mir viel sinnvoller, den Begriff "Bildung" heute gerade für solche Partien der Erziehung und Unterrichtung zu reservieren, bei denen es im Interesse der produktiven Verwendbarkeit nicht um die geradlinige und unmittelbare Verwendung gehen kann. Wenn man alle Aufgaben der heutigen Erziehung und Unterrichtung - von der Verkehrserziehung bis zum Literaturunterricht - unter einem Begriff subsumieren will, dann wird dieser Begriff zudem für die sachliche Analyse sinnlos. Die von Klafki (70, S. 93f.) herangezogenen jüngsten pädagogischen Definitionen der Bildung erweisen sich denn auch insofern als sinnlos, als sie keinerlei Erkenntniswert mehr besitzen. Wenn es bei Litt etwa heißt, Bildung verdiene eine Verfassung des Menschen zu heißen, "die ihn in den Stand setzt, sowohl sich selbst als auch seine Beziehungen zur Welt in Ordnung zu bringen", dann hat diese Formulierung einen sehr geringen Erkenntniswert. Wer könnte eine solche formale Bestimmung nicht für sich in Anspruch nehmen? Aber selbstverständlich hatte Litt sehr bestimmte inhaltliche Vorstellungen über "Ordnung" und andere Schlüsselworte seiner Definition. Hätte er sie aber klargelegt, dann wäre seine Definition wertlos geworden, weil man sich nicht mehr auf sie hätte einigen können. Genau dies ist aber die offene oder geheime Hoffnung, die in solchen Definitionen steckt: durch die magische Kraft des Wortes "Bildung" zu einer dem pluralistischen Meinungsstreit entrückten pädagogischen Zielvorstellung zu gelangen. Das kann

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jedoch nur gelingen, wenn man die Abstraktionsebene hoch genug ansetzt. Dann aber überspielen solche Formulierungen nur die tatsächlichen Schwierigkeiten. - Und wenn Erich Weniger sagt, Bildung sei der Zustand, in dem man Verantwortung übernehmen und zugleich dort, wo man sich nicht sachverständig weiß, Vertrauen schenken kann - dann sind damit zwei Erfahrungen ausgesprochen, die dem gesunden Menschenverstand ebenfalls einleuchten: daß wir uns nicht mehr für alle Verantwortungen hinreichend vorbereiten können und daß die Übernahme bestimmter Verantwortungen bestimmte Lernleistungen voraussetzt. Einen Erkenntniswert besäße diese Bestimmung allerdings erst dann, wenn geklärt würde, welche Verantwortungen welche Lernleistungen voraussetzen. Ferner wird Eugen Fink zitiert: "Bildung ist im ursprünglichen Sinne die geistige Auseinandersetzung des Menschen mit der Weit, das wissentliche und willentliche Selbst- und Weltverständnis des menschlichen Daseins". Es gibt aber zahlreiche heute unerläßliche Lernvorgänge und Lernleistungen, die mit "geistigen Auseinandersetzungen" nicht das geringste zu tun haben, gleichwohl aber für die Existenz des Heranwachsenden von unmittelbarer Bedeutung sind: Verkehrsunterricht zum Beispiel oder die Fähigkeit, sich in unverbindlichen geselligen Kommunikationen bewegen zu können. Klafki selbst liefert den Beweis, daß das heute sinnvoll mit Bildung zu Bezeichnende nur noch bestimmter Teil der umfassenderen Aufgaben sein kann: "Bildend sind nicht die besonderen Sachverhalte als solche, sondern die an ihnen oder in ihnen zu gewinnenden Struktureinsichten oder Gesetzeserkenntnisse, die erfaßten Prinzipien oder die erfahrenen Motive, die beherrschten Methoden oder die verstandenen Fragerichtungen, die angeeigneten Grundformen oder Kategorien, schließlich: die erfahrenen Grenzen" (70, S. 121). Entweder wird hier ein Scheinproblem formuliert, insofern es "die besonderen Sachverhalte als solche" schlechterdings nicht gibt, sondern immer nur Erkenntnis von Besonderem auf dem Hintergrund von Allgemeinem. Oder aber es soll gesagt werden, daß die Einzelheiten gemessen an den Prinzipien und Strukturen verhältnismäßig unwichtig sind. Dann wäre das allerdings für den Verkehrsunterricht oder für den politischen Unterricht fatal, denn in diesen Bereichen können gerade die Einzelheiten über Leben und Tod entscheiden.

Indem wir den Begriff "Bildungswissen" auf bestimmte Formen des menschlichen Wissens einengen, greifen wir auf einen Ansatz zurück, den Max Scheler in seinem Buch "Die Wissensformen und die Gesellschaft" (Leipzig 1926)

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entwickelt hat. Er unterschied zwischen "Bildungswissen", das dem Werden und der Entfaltung der Person dienen soll, und "Herrschafts-" oder "Leistungswissen", das auf die "praktische Beherrschung und Umbildung der Welt für unsere menschlichen Ziele und Zwecke" gerichtet ist (S. 250ff.). Dabei räumte er allerdings dem Bildungswissen eine höhere Weihe und auch die Funktion der Synthese für die anderen Wissensformen ein. Er blieb damit im Horizont der auf Eindeutigkeit der Bildungsinhalte gerichteten Bildungstradition. Aber gerade eine Priorität der einen Wissensform gegenüber einer anderen läßt sich heute nicht mehr überzeugend durchhalten - jedenfalls nicht auf der Ebene prinzipieller Klärungen. Wir können wohl sagen, daß ein bloßes, auf unmittelbare Lebensdurchsetzung angelegtes Orientierungs- oder Funktionswissen ohne das Korrektiv des Bildungswissens richtungslos bleibt und daß umgekehrt ein Bildungswissen ohne komplementäres Funktionswissen sich nicht mehr in der privaten und kollektiven Lebenspraxis realisieren kann. Beide Formen des Wissens sind also aufeinander angewiesen, aber dennoch nicht aufeinander zurückführbar.

Orientierungswissen

Indem wir den Begriff der Bildung und des Bildungswissens auf einen bestimmten Teilbereich der erzieherischen Gesamtaufgabe zurückschraubten, haben wir uns den Blick freigemacht für die Bedeutung und Eigenart der zweiten Ebene des politischen Wissens, der Ebene des politischen Orientierungswissens. Darunter können wir eine Fülle von Lerninhalten zusammenfassen, die einerseits offensichtlich zur Durchsetzung der politischen Beteiligung notwendig sind, andererseits sich schon einer vordergründigen und pragmatischen Überlegung erschließen. Niemand kann zum Beispiel sein noch so richtiges politisches Bewußtsein konkret praktizieren, wenn er nicht über elementare Techniken im Umgang mit Behörden verfügt. Niemand kann

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sich politisch beteiligen, wenn ihm nicht ein bestimmter politischer Sprachschatz gegenwärtig ist, der nun einmal in der Erörterung politischer Streitfragen eine Rolle spielt und dessen Abstraktheit nicht durch bösen Willen oder schlechte Pädagogik, sondern durch die Eigenart der Sache selbst begründet ist.

"Orientierungswissen" bezeichnet etwas, was man bisher meist "Sozialkunde" genannt hat. Einer allenthalben auf "Bildung" erpichten Pädagogik ist es nie recht gelungen, mit der Sozialkunde etwas Rechtes anzufangen. Konnte sie mehr sein, als nur eine dubiose Miniatursoziologie? Darf man sich überhaupt mit der bloßen Realität von Gesellschaft, Wirtschaft und Staat befassen? Nach unseren Ausführungen über das Bildungswissen sind solche Fragen falsch gestellt. Worum geht es in Wirklichkeit? Alle jene Werte und Vorstellungskomplexe, die mit Recht als der eigentliche Gehalt von Bildung angesehen werden, bleiben so lange abstrakt, ja, haben in Wahrheit gar nicht die Qualität von Vorstellungen, wie sie nicht in Bezug gesetzt werden können zur Realität der gegenwärtigen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Welt. Was nutzt es, sich in der allgemeinen Bildung einen Begriff von den menschlichen Bedürfnissen gemacht zu haben, wenn man sich zugleich die moderne Volkswirtschaft nach dem Schema von Muttis Haushaltsplan erklärt, Finanzbeamte für gute Freunde hält, mit denen sich über Schulden reden lasse, und die Weltpolitik für ein Schauspiel zwischen charakterfesten und weniger charakterfesten Männern? Jeder Mensch hat seit seiner überstandenen Pubertät eine mehr oder weniger richtige, aber für ihn in sich schlüssige Gesamtvorstellung von seiner politischen Gegenwart, mit der er zugleich sich selbst und die politische Welt erklärt. Es kann also nur darum gehen, ob diese gegenwärtige politische Welt so in einem oder mehreren Modellen verdichtet werden kann, daß sie als ein Ganzes mit hinreichender Richtigkeit in ihrer banalen Realität verstanden wird. Ein Blick in die einschlägigen Sozialkundelehrbücher belehrt uns sofort, wie unheilvoll die hier falschen Bildungsan-

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sprüche gewirkt haben. Die Stoffpläne sind zwar an sich verdienstvoll und enthalten auch gewiß an sich wichtige Lehrinhalte, aber charakteristisch ist, daß sie erst gar nicht den Versuch unternehmen, die gegenwärtige politische Welt als Ganzes zu begreifen. Sie verdoppeln nur die ohnehin vorhandene Neigung, dieses Ganze als etwas Irrationales, ja Schicksalhaftes hinzunehmen. Sie bringen keine Orientierung, sondern bestenfalls einige Tips, wie man sich - etwa im Beruf - besser einrichten könne. Das gilt sogar für die wohl am besten durchdachten Sozialkundelehrbücher von Wolfgang Hilligen ("Sehen - Beurteilen - Handeln", Frankfurt 1960).

Es scheint mir aber, daß mit etwa vier Systemen kommunikativer Zusammenhänge der Sozialkunde ein solides Gerüst gegeben werden könnte: durch ein "System der Produktion und des Marktes"«, ein "System der Verwaltung", ein "System der politischen Herrschaft" und ein "System der internationalen Politik".

In dem Wort "System" soll zum Ausdruck kommen, daß es von vornherein um die Betrachtungsweise des Ganzen geht, also um Funktionszusammenhänge. Dabei lassen wir die Schwierigkeit außer acht, daß natürlich diese vier Systeme in Wirklichkeit mannigfaltig miteinander verschränkt sind. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, in Form detaillierter Lehrpläne diese Systeme zu entfalten. Dies bedürfte einer intensiven Zusammenarbeit mit den entsprechenden Fachvertretern und kann schon von der Sache her nicht Aufgabe der Pädagogik allein sein. Aber es soll versucht werden, diesen Vorschlag zu verdeutlichen. Beim "System der Produktion und des Marktes" geht es um die technischen und ökonomischen Grundlagen der modernen Volkswirtschaft. Zu den technischen Grundlagen gehören etwa die mechanischen, chemischen und maschinellen Grundelemente der Produktion, zu den ökonomischen die Bedeutung von Kapital und Arbeit, der Markt als System von Angebot und Nachfrage; ferner die Hauptwirtschaftszweige wie Landwirtschaft, Grundstoffindustrien und Verarbeitungsindustrien sowie das System der

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Produktionsverteilung und der Dienstleistungen, schließlich ein System der Berufe und der verschiedenen Wirtschaftsverbände. Wie man hier im einzelnen elementarisieren kann, muß sorgsam überlegt werden. Das dürfte vielfach leichter sein, als es auf den ersten Blick scheint. Selbst das Prinzip des Regelmechanismus kann man lernen, ohne daß man auf physikalische Einzelheiten der Elektrotechnik unbedingt zurückgreifen muß. Mit dem Grundsatz der "Rückmeldung", den man schon an einfachen menschlichen Kommunikationen ablesen kann, kann erklärt werden, wieso in der automatisierten Produktion der Arbeiter durch die Maschine ersetzt wird.

Unter unserem politischen Gesichtspunkt muß man Bedenken gegen den Vorschlag einer "technischen Elementarbildung" erheben, wie er neuerdings von Martha Engelbert ("Stoff und Form", Frankfurt 1954) und C. Schietzel ("Technik und Natur", Braunschweig 1960) vorgebracht wurde. Diese Überlegungen stehen nicht nur in der Gefahr, wieder mit dem Begriff der "Bildung" verbogen zu werden, sondern gehen auch von einem isolierten Begriff der Technik aus, wie er sich zwar allenthalben in der zivilisationsfeindlichen Kritik der letzten Jahrzehnte findet, kaum aber in der Wirklichkeit des gesellschaftlichen Lebens. Dort nämlich findet sich "Technik" immer nur in Verbindung mit "Okonomie", eben mit dem System der Produktion und des Marktes. Nicht, daß alles "machbar" geworden sei, ist unser Problem, sondern daß alles nur unter den Voraussetzungen des Marktes machbar ist - und vieles, was gemacht werden müßte, eben nicht gemacht werden kann. Nicht "Technik" stiftet die Probleme in der Arbeitswelt, sondern eher schon der durch die Marktsituation diktierte Zwang nach "Rentabilität". - Ein systematisiertes Wissen zu diesem Thema würde auch für die Berufsvorbereitung junger Menschen von erheblicher Bedeutung sein. Was nützt es denn, das Thema "Du und Dein Beruf" zu behandeln, wenn die konkreten Berufe dabei nicht in einen Zusammenhang gebracht werden, der sich wiederum nur aus einem Gesamtverständnis des Systems der Produktion und des Marktes ergeben kann? Wie kann man in unseren Sozialkundelehrbüchern vom "Umgang mit dem Geld" sprechen, ohne daß dabei herauskommt, welche Funktion die Investition in diesem technisch-ökonomischen Zusammenhang hat? Ist es ein Wunder, daß die pädagogischen Begründungen für das Sparen oft von einer rührenden ökonomischen Naivität sind?

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Das System der Verwaltung könnte rein sachlich natürlich im System der politischen Herrschaft dargestellt werden. Aber da innerhalb der modernen Sozialstaaten die Formen der Verwaltung sehr umfangreich geworden sind, hat es schon Sinn, sie gesondert zu behandeln. Auch hier käme es auf Elementarisierung an, auf die Kenntnis der wichtigsten Verwaltungszweige, die ja auch zugleich Ausdruck der wichtigsten gesellschaftlichen Aufgaben sind, sowie vor allem auf die wichtigsten Grundsätze und Prinzipien: die Befehlsstruktur etwa oder die Grundsätze der Finanzverwaltung.

Das System der politischen Herrschaft ist ebenso wie das System der internationalen Politik bisher am stärksten zur Geltung gekommen und auch vom Problem der Elementarisierung her am gründlichsten durchdacht worden. Das liegt nicht zuletzt daran, daß in unserer konservativen politischen Tradition diese beiden Komplexe als im eigentlichen Sinne "politisch" galten, während die anderen beiden dem Bereich des Sozialen vorbehalten waren. Parlament, Parteien, Rechtsprechung, politische Verbände, politische Institutionen, Wahlrecht, Wähler auf der einen und Ost-West-Bündnisse und Entwicklungsländer auf der anderen Seite kennzeichnen die hauptsächlichen Knotenpunkte solcher Modelle.

Diese vier Systeme des Orientierungswissens sollen uns eine Art sechsten Sinn verschaffen, der wie das Auge die Wirklichkeit vorordnen kann, damit wir sie überhaupt erst einmal wahrnehmen können. Wenn das System der Produktion und des Marktes verstanden ist, kann erst daran die Frage des Sinnes oder der Humanität gestellt werden. Aber weder solche Fragen noch die darauf möglichen Antworten erwachsen aus dem Funktionszusammenhang selbst, sie können ihm nur aus einem anderen Potential - eben dem der Bildung - gegenübertreten. Diese vier Systeme würden zwischen "Bildungswissen" und "Aktionswissen" einen sehr dynamischen Akzent erhalten. Sie ließen sich auch - was für die Zukunft vielleicht nicht unwichtig ist - für Lernmaschinen programmieren, ge-

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rade weil sie positivistisch verstanden werden und aller normativen Probleme entkleidet sind.

Es wurde schon gesagt, daß solche Lehrgänge nur in enger Zusammenarbeit mit den zuständigen Fachwissenschaften entwickelt werden können. Das hat nun auch zur Folge, daß wir viel stärker als bisher auch den wissenschaftlichen Sprachgebrauch in die Schule übernehmen müssen. Unsere Systeme benötigen einen Sprachkanon, wie er in den politischen Auseinandersetzungen unserer Tage auch tatsächlich verwandt wird. Wenn die Pädagogik hier von sich aus andere Begriffe ins Spiel bringt, dann verfälscht sie nicht nur die Sachzusammenhänge, sie arbeitet dann vielmehr auch der politischen Beteiligung entgegen, weil sie die Menschen nicht auf die tatsächlichen Kommunikationen vorbereitet. Es gäbe vielleicht eine sehr einfache Möglichkeit, einen solchen Begriffskanon zu ermitteln. Man könnte ihn mit rein statistischen Mitteln dem guten Journalismus entnehmen. Der Journalist muß ja sozusagen von berufswegen abwägen, welche Fachausdrücke zur Informierung der politischen Öffentlichkeit unerläßlich sind und auf welche man verzichten kann. (Vgl. zum Problem der Begrifflichkeit: Bergstraesser, 12, S. 60, und Teschner, in: 112, S. 139.)

Für die Unterrichtspraxis würde die Forderung nach Systematik bedeuten, daß man nicht im Sinne des klassischen Lehrgangsmodells den Stoff stufenweise aufbaut, sondern von vornherein aufs Ganze zielende Kategorien im Verlauf des Unterrichts differenziert. So kann man etwa das System der Produktion und des Marktes so unterrichten, daß man - dem Verständnis der Altersstufe entsprechend - mit den Kategorien "Angebot" und "Nachfrage" beginnt, mit denen ja in der Tat das naive Bewußtsein das ganze System für hinreichend erklärt hält. Der weitere Unterricht differenziert nun, so daß die groben begrifflichen Raster durch immer feinere ersetzt werden. Der nächste Schritt könnte etwa sein, daß die Kategorie "Angebot" durch "Produktion" und Verteilung" unterschieden wird.

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Politische Verhaltensweisen

Politische Verhaltensweisen sind die subjektive Seite des objektiven politischen Orientierungswissens. Insofern ist es eigentlich überflüssig, sie als besondere Lernebene herauszuheben. Andererseits ist das Verhalten niemals nur eine kausale Folge des Wissens. Man muß auch auf dieser Ebene üben und lernen. Deshalb erscheint es im Hinblick auf die pädagogische Praxis gerechtfertigt, diese Lernebene gesondert zu betrachten. Worum geht es?

Es genügt offenbar nicht, dem Heranwachsenden die Objektivität der politisch-ökonomischen Welt vorzustellen, wenn er nicht zugleich lernt, mit ihr umzugehen und sich in ihr durchzusetzen. Das System der Produktion und des Marktes kann er sich durch bestimmte Geldtechniken verfügbar machen (Sparen nicht primär als moralisches Postulat, sondern als Technik, sich auf dem Konsummarkt optimale Vorteile zu verschaffen; Kredit als Teilnahme am geplanten wirtschaftlichen Risiko usw.). Dem System der Verwaltung gegenüber gibt es nicht nur Rechte des Bürgers, sie müssen auch wahrgenommen werden können. Dazu ist eine Kenntnis der wichtigsten schriftlichen und mündlichen Formen im Umgang mit der Verwaltung ebenso nötig wie eine Kenntnis der verschiedenen Beschwerdeformen. Schließlich muß geübt werden, wie man sich an eine Verwaltung wendet, wenn man Hilfe braucht. Hier gilt erfahrungsgemäß auch die Umkehrung: Wer sich von der Verwaltung nicht gerecht behandelt fühlt und nicht zugleich an die Mittel der Korrektur denken kann, der wird schließlich auch die Ungerechtigkeit der Behandlung selbst nicht mehr wahrnehmen. - Schließlich gehört zu dieser Lernebene auch, seine Meinung und seinen politischen Willen gegenüber anderen Menschen erfolgreich durchsetzen zu können. Völlig in Vergessenheit geratene Fertigkeiten der "appellativen Sprache" müssen wieder geübt werden. Mit anderen Worten: wir müssen lernen, Leitartikel zu schreiben und in Versammlungen nicht nur richtig, sondern auch erfolgreich zu argumentieren.

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Aber es ist noch eine grundsätzlichere Überlegung notwendig. Wir haben oben gesagt, daß es nicht angeht, im Bereich der Bildung sich der humanitären Ideale zu versichern und zugleich sich die moderne Volkswirtschaft nach dem Modell von Muttis Haushaltsplan vorzustellen. Das gilt nicht nur für die Ebene der geistigen Vorstellungen, sondern auch für die der Verhaltensweisen. Wenn man von der wohltuenden Erfahrung intimer Gemeinschaften aus sich in den komplizierten gesellschaftlichen Verhältnissen bewegen will, wird man notwendig Enttäuschungen erleben. Ohne Zweifel lernen wir die grundlegenden sozialen Tugenden in intimen Gemeinschaften, deren Mitglieder wir immer erneut vor Augen haben. Das gilt besonders für die Sozialverhältnisse in der Familie und der Freundschaft. Hier sind die sozialen Beziehungen sehr stark emotional besetzt, und die spezifische Sozialkategorie ist die des Vertrauens. Aber in den intimen Sozialsituationen stützt sich das Vertrauen vor allem auf die hinreichende Kenntnis desjenigen, dem vertraut wird. Es stützt sich sozusagen auf die "Personalität" des anderen. Nun kann man von "Vertrauen" noch in einem anderen Zusammenhang sprechen. Ich vertraue zum Beispiel darauf, daß mein Antrag beim Finanzamt objektiv und korrekt bearbeitet wird. Aber dieses Vertrauen stützt sich nicht auf die Personalität des Finanzbeamten - den ich in der Regel gar nicht kenne - , sondern auf die Institution, der er angehört, darauf, daß die Kontrollen dieser Institution nicht zulassen werden, daß mein Antrag anders als korrekt behandelt wird. Damit ziehe ich aber diesem Beamten gegenüber auch alle persönlichen Gefühle zurück, die gerade das Vertrauen gegenüber dem Freund und dem Familienangehörigen begründen.

Wenn wir davon ausgehend uns einmal in Gedanken die Vielfalt der menschlichen Beziehungen vorstellen, zu denen wir in der modernen Welt gezwungen sind, dann lassen sie sich wohl in drei Gruppen zusammenfassen. Auf der ersten Ebene haben wir es mit dem personalen Umgang zu tun. Es ist dies die Ebene der Intimität, wo wir gleich-

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sam unser ganzes Menschsein in die Beziehung einbringen - jedenfalls soweit das überhaupt möglich ist. Hier ist vor allem an Familienbeziehungen und Freundschaften zu denken. Diese Ebene interessiert uns hier nur der Vollständigkeit halber, im übrigen hat sie mit unserer politischen Betrachtungsweise recht wenig zu tun - es sei denn, man denkt daran, daß zum Beispiel fehlende emotionale Geborgenheit in der Familie negative Rückwirkungen auf das Selbstbewußtsein hat, was wiederum nicht ohne Rückwirkungen auf die Souveränität im politisch-gesellschaftlichen Bereich ist. Vertrauen, Liebe, Wahrhaftigkeit, Kameradschaft usw. sind wohl diejenigen Verhaltensweisen, die auf dieser Ebene - und nur hier! - ihren Sinn und ihre Berechtigung haben. Wie verheerend es sein kann, mit solchen Sozialerwartungen auch der Politik gegenüberzutreten, das hat vor allem die nationalsozialistische Ideologie der "Volksgemeinschaft" bewiesen. Wer mit solchen Erwartungen der modernen Gesellschaft gegenübertritt, der muß geradezu betrogen werden.

Die zweite Ebene, die des gesellschaftlichen Umgangs, ist für unseren Zusammenhang schon viel interessanter. Es ist dies die Ebene des gesellschaftlichen Verkehrs mit fremden oder jedenfalls nicht intim bekannten Menschen, sofern sie uns nicht vorwiegend als Repräsentanten einer öffentlichen Institution gegenübertreten: Kollegen am Arbeitsplatz, die anderen Verkehrsteilnehmer, Partner bei geselligen Veranstaltungen usw. Während es uns leicht fiel, die Verhaltensweisen in der intimen Sozialsituation zu beschreiben, fehlen uns hier schon im buchstäblichen Sinne die Worte. "Neutrales Wohlwollen", "Informalität" sind kaum mehr als Chiffren. Unsere Sprache hat offensichtlich für diese Kommunikationsebene noch gar keine richtigen Worte ausgebildet, was andererseits heißt, daß alle unsere Sozialvorstellungen aus intimen Sozialerfahrungen stammen. "Die anderen, das ist die Hölle", hat Sartre gesagt, und er hat recht, wenn alle Menschen, denen wir im Zeitalter der mobilen Gesellschaft begegnen, von uns die Anstrengung intimer Verhaltensweisen erwarten sollten. Un-

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ser seelischer Haushalt setzt für den personalen Umgang deutliche Grenzen. Auf der Ebene des gesellschaftlichen Umgangs müssen wir offenbar den Menschen immer "insofern" gegenübertreten, insofern sie unsere Festpartner, unsere Arbeitskollegen, unsere Zimmernachbarn im Hotel, unsere Mitreisenden usw. sind. Wir beschränken uns ihnen gegenüber gewissermaßen in einer "Rolle", uns interessiert zunächst gar nicht, was sie sonst noch sind oder sein könnten. Es geht nun keineswegs darum, diesen Umgang wieder auf den personalen zurückzuführen - von dem er ja auch nicht ausgegangen ist - , sondern ihm gleichsam eine eigene Weihe zu geben, ihn in bestimmter Weise zu kultivieren. Ich glaube, daß dieser Bereich menschlichen Umgangs eher nach einer Art "Ästhetik der Kommunikation" verlangt denn nach einer Tugendlehre. Man kann es auch so sagen: Die Inhalte der Kommunikation sind hier mit einem erheblichen Spielraum ausgestattet, so daß es vor allem auf die Kultivierung der Formen ankommt. So schreibt unsere Gesellschaft für bestimmte soziale Situationen bestimmte Formen vor. Aber diese Formen legen ein konkretes Verhalten nicht eindeutig fest, sondern geben ihm nur einen Rahmen, in dem es sich individuell artikulieren kann. Es ist nun eine alte Weisheit, daß das soziale Selbstbewußtsein eines Menschen unter anderem davon abhängt, ob er solche Formen beherrscht oder nicht. Unter dem Aspekt der politischen Bildung heißt das, daß von niemandem ein politisches Selbstbewußtsein erwartet werden darf, der nicht mit Selbstvertrauen solche gesellschaftlichen Formen beherrscht.

Die dritte Ebene der Sozialbeziehungen möchte ich den politischen Umgang nennen. Er betrifft den Umgang mit Menschen, insofern sie uns als Repräsentanten einer Institution, also in einer bestimmten Funktion gegenübertreten. Der politische Umgang ist also die am eindeutigsten funktionalisierte Beziehung zwischen Menschen überhaupt. Diese Funktion ist inhaltlich meist recht genau ausgefüllt. Die Beziehung zu einem Finanzbeamten, einem Verbandsvertreter, einem Parlamentarier oder dem Bundeskanzler ist

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inhaltlich zwar jeweils verschieden, dennoch aber klar beschreibbar. Sie ist viel stärker festgelegt, als die zu einem Gast auf einer Hausparty - um mit einem Beispiel aus der Ebene des gesellschaftlichen Umgangs zu vergleichen. Auf dieser Ebene verläßt uns die Sprache noch mehr. Welche Verhaltensweisen sind hier spezifisch? Ich möchte sie unter dem Begriff der "kritischen Loyalität" zusammenfassen. Jeder "institutionelle Repräsentant" kann - in einer demokratischen Gesellschaft - zunächst einmal von den Bürgern Loyalität erwarten, das heißt das Zutrauen, daß er so, wie er handelt, institutionsangemessen, also in Entsprechung zu seinem öffentlichen Auftrag handelt. Zugleich aber muß der Bürger durch seine kritische Voreinstellung dafür sorgen, daß diese Entsprechung auch erhalten bleibt. Ohne diese kritische Einstellung der Bürger kann es also letztlich kein institutionsangemessenes Verhalten mehr geben. Wenn also im politischen Unterricht nur von den Pflichten und nicht zugleich auch immer von den Rechten des Bürgers gesprochen wird, ist ein wichtiges Moment der "kritischen Loyalität" bereits verletzt.

Ist es aber nicht geradezu "unmenschlich", so ohne weiteres für eine menschliche Beziehung einzutreten, die auf eine rein institutionelle Funktion beschränkt ist? Es wäre so, wenn ein Repräsentant, sagen wir der Finanzbeamte, durch diese Funktion in seinem Menschsein konstituiert wäre. Aber er ist ja auch Glied einer intimen Sozialität, die ihm Personalität ermöglicht, er ist ebenfalls - auf der zweiten Ebene - gesellschaftlicher Partner anderer Menschen. Grundsätzlich kann jeder einzelne mit ihm auf jeder der drei Ebenen zu tun haben. - Wenn ich also mit jenem Finanzbeamten dienstlich zu tun habe, ist es eine "Unmenschlichkeit" - wenn wir so pathetische Worte nun einmal gebrauchen wollen - , ihn nicht in seiner institutionellen Repräsentation ernst zu nehmen, seine Institution nicht genügend zu kennen und ihm ein Verhalten abzuverlangen, das aus der ersten sozialen Ebene stammt und das er auf dieser Ebene nicht einlösen kann. Die auf dieser Ebene gebotenen Verhaltensweisen müssen offensichtlich eigens

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im Verlaufe der Erziehung gelernt werden, sie ergeben sich nicht von selbst. Sie sind für den Erfolg der eigenen politischen Aktion unerläßlich. Institutioneller Repräsentant ist der Vorgesetzte im Betrieb, der Lehrer in der Schule, der Beamte der Exekutive gegenüber dem Bürger, der Politiker, der Verbandspolitiker usw. Daß es sich dabei in der Sache um recht verschiedene Ebenen der Repräsentation handelt, ändert nichts daran, daß sie unter dem subjektiven Aspekt des Umgangs mit ihnen eine ähnliche Bedeutung haben.

Die drei Ebenen der Sozialität sind vor allem dadurch unterschieden, daß die emotionale Intensität des Bezuges in dem Maße abnimmt, wie die rationale zunimmt. Nun wäre es abwegig, die den drei Ebenen zugeordneten spezifischen Verhaltensweisen als die einzigen anzusehen, die überhaupt in Betracht kommen. Der Träger einer Funktion bleibt ja ein Mensch, und ich verhalte mich zu ihm ja anders als etwa zu dem Briefmarkenautomaten, der auch eine Funktion erfüllt. Es gibt, so wollen wir der Vollständigkeit halber hinzufügen, offenbar eine Reihe von Verhaltensweisen, die unspezifisch für die einzelnen Ebenen sind, gefühlsindifferente Verhaltensweisen, die auf allen Ebenen der Kommunikation - wenn auch nicht immer in gleicher Weise - gelten oder wenigstens gelten sollten. Ich nenne "Fairneß", "Takt", "Kooperationsfähigkeit", "Höflichkeit", "Sachlichkeit", "Hilfsbereitschaft" usw. Da sie nicht spezifisch für den politischen Umgang sind, gleichwohl aber dafür notwendig, gelten sie also auch als Forderung einer politischen Erziehung.

Hier nun scheint es geboten, Mißverständnissen entgegenzutreten, die sich um den Begriff der "Partnerschaft" gerankt haben. Das institutionell ausgedrückte Machtverhältnis etwa zwischen Lehrer und Schüler und zwischen Vorgesetzten und Untergebenen im Betrieb ist nicht dadurch zu umgehen, daß jene unspezifischen Umgangsformen den Stil des Umgangs bestimmen. Die darin zum Ausdruck kommende Menschlichkeit des Umgangs kann nicht die Funktionalität überhöhen oder gar abschaffen.

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Im Gegenteil, sie schlagen um in Selbsttäuschung und Manipulation, wo sie nicht durch jene spezifischen Verhaltensweisen des politischen Umgangs ergänzt und beschränkt werden. Deshalb ist hier auch äußerste Vorsicht im Umgang mit dem Wort "demokratisch" geboten. "Demokratisch" ist ein Betrieb erst dann, wenn er seinen Mitarbeitern Mitbestimmung an den grundsätzlichen Entscheidungen ermöglicht. Diese Frage ist aber nicht in das subjektive Belieben der beteiligten Personen gestellt. Die Bereitschaft des einzelnen zur Kooperation oder die Fairneß im Umgang miteinander führen nicht automatisch zu einer demokratischen Struktur.

Politisches und gesellschaftliches Selbstbewußtsein hängen wesentlich davon ab, ob man sich in diesen drei Verhaltensebenen sicher fühlt. Die hier geforderten Lernleistungen haben weniger mit Erziehung zu tun - wenn man darunter die Eingewöhnung in soziale Spielregeln versteht - als vielmehr mit Bewußtseinsbildung und damit mit Unterricht. Angemessene politische und gesellschaftliche Verhaltensweisen können nur auf einer hochgradig abstrakten Intellektualität beruhen, weil sie sich schon gegen die verführerische Emotionalität der Umgangssprache immer wieder behaupten müssen.

Wenn ich recht sehe, gibt es bisher noch keine pädagogische Theorie des sozialen Verhaltens, die die Unaustauschbarkeit der verschiedenen Sozialsituationen gebührend berücksichtigt hätte. Auch Otto E. Bollnow ("Wesen und Wandel der Tugenden", Frankfurt 1958) argumentiert so, als ob wir in einer gleichsam einebigen sozialen Welt lebten. Sehr viel näher kommt unserem Problem schon die viel zuwenig beachtete Arbeit des katholischen Philosophen Joseph Pieper ("Grundformen sozialer Spielregeln", 4. Auflage, Frankfurt 1962). Pieper unterscheidet die Ebenen der "Gemeinschaft", der "Gesellschaft" und der "Organisation". Er schrieb das Buch schon 1933 und wandte sich damals gegen die Absolutsetzung gemeinschaftlicher Sozialformen in der bündischen Romantik und in den politischen Formationen. Obwohl gerade die dritte Ebene - die Organisation - die Probleme des politischen Umgangs nur sehr ungenau trifft, sind die Unterschiede zwischen gemeinschaftlichem und gesellschaftlichem Verhalten um so klarer herausgearbeitet.

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Aktionswissen

Für sich genommen sind weder "Bildungswissen" noch "Orientierungswissen" noch "politische Verhaltensweisen" schon politisch. Sie werden nicht von sich aus schon produktiv, wenn es gilt, in einem politischen Konflikt vernünftig Partei zu ergreifen. Das ist vielmehr erst dann möglich, wenn das "Aktionswissen" die Vermittlung herstellt. Das Aktionswissen enthält von sich aus keine Inhalte, die nicht schon auf den anderen Ebenen vorhanden wären, sondern es aktualisiert sie auf einen politischen Konflikt hin. Dabei handelt es sich keineswegs nur um das Verhältnis von Kenntnis und Anwendung - also um bloße Technik - , sondern indem das Wissen angewendet wird, bekommt es gleichsam einen neuen Inhalt und eine neue Struktur. Wichtig ist nun zu sehen, daß die politische Anwendung und damit die Politisierung des Gewußten eben nicht von selbst erfolgen, also dem Lernenden selbst überlassen werden dürfen, sondern in der politischen Bildung und Erziehung eigens gelernt werden müssen. Der im pädagogischen Sprachgebrauch bewanderte Leser muß sich klarmachen, daß nicht etwa das "Bildungswissen" die Aufgabe der Synthese in unserem Modell übernimmt. Unsere These ist ja gerade, daß das Bildungswissen beim Akt der Aneignung am allerwenigsten auch schon die Merkmale der Anwendbarkeit in sich enthält, enthalten kann und sollte. Es hat vielmehr eine korrigierende Aufgabe bei der Anwendung des Gewußten auf politische Streitfragen.

Vermittlung: Kategorien der Begegnung mit dem Politischen

Wenn das Aktionswissen die anderen Ebenen des politischen Wissens und Verhaltens jeweils konkret zu einer Einheit zusammenfaßt, so schafft es auch die Vermittlung zwischen ihnen. Diese Vermittlung müssen wir nun soweit

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wie möglich inhaltlich bestimmen, da sie ja bisher nur formal begründet wurde.

Wir haben gesehen, daß alle Versuche, das Politische stofflich festzulegen, zum Scheitern verurteilt waren. Sie führten nur dazu, den Begriff des Politischen ins Uferlose auszuweiten oder umgekehrt die Auswahl der politischen Sachverhalte zu subjektivieren, weil das Politische selbst nicht seine Definitionsmerkmale verrät. Stofflich gesehen ist alles politisch und zugleich nichts: Was war zum Beispiel in der Spiegel-Affäre politisch? Einige geheimnisvolle Telefongespräche, die Wirkung eines Artikels, die Verhaftung von Bürgern, Demonstrationen, Fernseh- und Rundfunkberichte, Zeitungsartikel und andere öffentliche Stellungnahmen, Parlamentsdebatten und vieles mehr.

Stofflich lassen sich alle diese Tatsachen auf bestimmte unpolitische Fachzusammenhänge zurückführen: Staatsrecht, Ethik, Strafrecht, Journalistik, Massenkommunikation und anderes. Nur ein Phänomen ist nicht darauf zurückzuführen: der Tatbestand der Kontroverse. Hätte sich niemand den Maßnahmen gegen das Nachrichtenmagazin widersetzt, wäre die ganze Angelegenheit ein reiner Verwaltungsakt geblieben. Wir schlagen vor - was sich bereits durch unsere ganze Untersuchung als roter Faden hindurchzog - , in Zukunft nur noch in diesem engen, dafür aber jeweils verifizierbaren Sinne von Politischem zu sprechen. Politisch wäre dann das, was in einer Gesellschaft umstritten ist oder wird. Die Auseinandersetzung um die Strafrechtsreform ist dann nicht minder politisch als die Gotteslästerungsprozesse der letzten Jahre oder die Vereinbarung über die Passierscheinfrage in Berlin. Demnach ist Politik kein eigener "Seinsbereich" wie die Literatur oder das Religiöse, sondern eine Implikation aller Seinsbereiche. Oder anders ausgedrückt: Politik ist kein ontologisch fixierbarer Gegenstand, sondern ein jeweiliges Problematischwerden der Massenkommunikation.

Wenn wir diese Definition des Politischen der politischen Didaktik zugrunde legen können, dann haben wir zunächst eine gewisse Sicherheit, im Unterricht nicht unpolitisch zu

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verfahren - ein Verdacht, der der politischen Pädagogik, wie wir sahen, immer wieder nicht zu Unrecht entgegengebracht wird. Wir können uns dann auch nicht mehr täuschen lassen von Stoffen, die selbst so politisch seien, daß man sie eigentlich gar nicht unpolitisch behandeln könne. Dagegen wissen wir, daß man an sich so politische Themen wie den Ost-West-Konflikt oder die Spiegel-Affäre unpolitisch behandeln kann. Davor schützt niemals der Stoff selbst. Das Ergebnis einer Diskussion der Spiegel-Affäre kann etwa in der politisch irrelevanten Feststellung bestehen, daß die Menschen eben schwache Geschöpfe seien. Alles, was wir stofflich lehren können, ist nur potentiell auch politisches Wissen, insofern es nämlich politische Implikationen enthält. Ob diese Implikationen im Bewußtsein realisiert werden oder nicht, hängt davon ab, ob sie angesichts eines Konfliktes sich zum Aktionswissen strukturieren.

Diese Feststellung bleibt nun so lange rein formal, wie es nicht gelingt, diese Implikationen näher zu bezeichnen, und zwar sowohl inhaltlich wie auch normativ. Gibt es vielleicht politische "Kategorien", die diesen Anspruch halten können? Lassen sich, subjektiv gesehen, bestimmte Grundfragen bestimmen, die als eigentümlich politische Fragestellungen solche Implikationen von Fall zu Fall mit inhaltlichem Leben füllen? Ließe sich der immer wieder auftauchende Verdacht der politischen Einseitigkeit, ja der Unangemessenheit des politischen Unterrichts erklären, wenn sich herausstellte, daß diese Einseitigkeit dadurch zustande kommt, daß nur bestimmte und zu wenige Kategorien verwendet wurden? Indem wir im folgenden versuchen, solche Kategorien zu ermitteln, wollen wir gleichzeitig die bisher noch kontroversen Positionen innerhalb der politischen Pädagogik zu einer Synthese zusammenfassen; denn keine der nun folgenden Kategorien ist neu in der Diskussion, neu ist lediglich die Art und Weise der Zusammenfassung. Es geht uns nun also um "eine Art Koordinatensystem des Nachdenkens" (Heinrich Schneider, 119, S. 21).

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Konflikt

Der politische Unterricht sieht politisch-gesellschaftliches Geschehen immer unter dem Aspekt der Auseinandersetzung zwischen Menschen. Wir bringen mit dieser Kategorie nur auf den Begriff, was der stofflichen Entscheidung bereits zugrunde lag, indem wir aktuelle politische Kontroversen als den eigentlichen Gegenstand des politischen Engagements und Erkennens ansahen. In der Spiegel-Kontroverse lag der Konflikt im Widerspruch von Staatsschutz und Pressefreiheit bzw. zwischen den ihn repräsentierenden Personen beschlossen. Die Konflikte sind also allgemeiner Natur. Sie können demnach auch durch neue aktuelle Auseinandersetzungen wieder aufbrechen. In der Soziologie hat man versucht, die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen mit Hilfe einer Konflikttheorie zu deuten. Die Tatsache, daß es wenigstens vorläufig nicht möglich ist, die verschiedenen Formen gesellschaftlicher Konflikte zu einer einheitlichen Theorie zusammenzufassen, wie Dahrendorfs Ansatz zeigt, soll uns hier nicht weiter stören, da es uns nicht um fachwissenschaftliche Systematik geht (24, S. 133ff.).

Mit dieser Kategorie tragen wir den Bemühungen Litts und Wenigers Rechnung, das Politische wesentlich als Auseinandersetzung zu begreifen, um den Andersdenkenden nicht als Abweichler zu denunzieren. Im Sinne von Dahrendorfs Begriffsbestimmung gelten uns hier die Konflikte als "objektive", d. h. nicht nur als unabhängig von ihrer Bewußtheit, sondern auch als unabhängig von ihrer "Manifestation" (24, S. 201). Daß sich politische Bildung heute auf den Konfliktcharakter des politischen Lebens stützen kann, ohne den Zusammenhalt der Gesellschaft zu sprengen, führt Dahrendorf darauf zurück, daß sich die Gegensätze der Klassengesellschaft so vermindert hätten, daß ihre "Institutionalisierung" und damit eine Regelhaftigkeit ihres Austrages möglich geworden sei. "Wer eine Gesellschaft ohne Konflikte herbeiführen will, muß dies mit Terror und Polizeigewalt tun; denn schon der Gedanke

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einer konfliktlosen Gesellschaft ist ein Gewaltakt an der menschlichen Natur" (24, S. 128f.).

Konkretheit

Diese Kategorie ist bereits eingegangen in unsere Erörterung zur Rolle der Aktualität. Politische Entscheidungen sind hinsichtlich ihres Anlasses wie hinsichtlich ihrer Folgen konkrete und einmalige Entscheidungen. Die objektiven Konflikte werden nur konkret manifest: die Spiegel-Kontroverse etwa in den Maßnahmen, die sie auslösten und mit denen darauf geantwortet wurde. Die Beschäftigung mit objektiven Konflikten in ihrer abstrakten Allgemeinheit bliebe unpolitisch, würde sie nicht mit der Genauigkeit eines am Detail orientierten Unterrichts verbunden. Der pädagogische Gewinn einer Auseinandersetzung mit der Spiegel-Kontroverse liegt also nicht nur in der Aufdeckung des objektiven Widerspruchs von Staatsschutz und Pressefreiheit, sondern ebenso sehr in der genauen Verfolgung dessen, was sich hier wirklich ereignet hat. Das politische Bewußtsein soll sich ja letztlich nicht an jenem abstrakten Konflikt engagieren - wo es über ein bloßes "sowohl als auch" nicht hinauskommen könnte - , sondern an eben dieser Auseinandersetzung, wie sie so und nicht anders zur Entscheidung stand. Politische Entscheidungen können sich immer nur auf konkrete Situationen beziehen.

Dabei ist die noch offene, ungelöste Gegenwartssituation nicht austauschbar mit den konkreten Analysen des Geschichtsunterrichts. Das sogenannte "genetische Prinzip", historische Gewordenheiten auf den Prozeß ihres Werdens zurückzuführen, ist sicherlich eine gute Vorübung für das, was wir hier meinen. Aber niemals kann die historische Analyse - etwa der Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges - den Ernstfall eines möglichen dritten Weltkrieges ersetzen. Während man im Geschichtsunterricht weiß, wie es ausgegangen ist, weiß man eben nicht, ob die

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Kubakrise oder der Streit um Berlin gut ausgehen. Dieses Moment des Ernstes und der Gefahr darf aus dem politischen Unterricht nicht hinausoperiert werden. Die didaktische Kategorie der Konkretheit soll das unter anderem verhindern.

Macht

Die Kategorie der Macht hat in den bisherigen Diskussionen der politischen Bildung eine erhebliche Rolle gespielt. Viele Autoren äußerten die Befürchtung, daß der Macht- und Kampfcharakter des Politischen übersehen werden könne. Die aus der Tradition des deutschen Idealismus und der Romantik stammende Philosophie der Macht wurde damit wieder aufgegriffen. Es zeigte sich allerdings, daß damit eine ganz bestimmte Sicht nicht nur der Macht, sondern auch des Politischen gemeint war. Man erinnerte an den Ambivalenzcharakter der Macht, an die Dialektik zum Recht. Charakteristisch für diese Äußerungen war, daß sie in der Regel das Phänomen der Macht an die Institution des Staates ketten wollten.

Die Einwände ergaben sich denn auch vor allem aus dem Hinweis, daß Macht heute ein so totaler Faktor des politisch-gesellschaftlichen Lebens sei, daß der Rekurs auf ihre staatliche Seite das Bild erheblich verfälschen müßte. Der Druck handfester Machtansprüche reicht heute von dem Trommelfeuer der Wirtschaftsreklame über die Gesetzgebung bis zu den allmächtigen staatlichen Verwaltungen. Selbst die spontane und gleichzeitig manipulierte öffentliche Meinung, in der sich Machtansprüche immerwährend reproduzieren, stellt eine Machtform dar, der der einzelne sich kaum entziehen kann, von der Macht alltäglicher Rollenerwartungen ganz zu schweigen. Die Möglichkeiten, politischen Gehorsam zu erzwingen, sind zahlreich und durchwalten das ganze Gefüge des öffentlichen Lebens. Ob und unter welchen Bedingungen staatliche Macht einen wenigstens moralischen Vorrang einnimmt, kann vorweg

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nicht einfach durch Spekulation entschieden werden. Die Frage nach der Macht ist nur eine unter anderen wichtigen Fragen, die der Unterricht stellen muß.

Recht

Alle politischen Entscheidungen bewegen sich innerhalb rechtlich markierter Zusammenhänge. Der Respekt vor ihnen ist nicht nur eine für einen "Rechtsstaat unabdingbare moralische Forderung, vielmehr gehört die Kenntnis der rechtlichen Zusammenhänge auch zu jenen Tatsachenkomplexen, ohne deren Klärung im konkreten Fall kein Urteil entstehen kann" (Heinrich Weber, 135, S. 3). Aber Rechtslagen sind, wenn auch nicht willkürlich zu umgehen, so doch in der Regel änderbar. Es genügt also nicht, den Tatbestand einer rechtlich markierten Situation hinzunehmen, er muß vielmehr auch von anderen Kategorien, etwa der Menschenwürde, befragt werden. Zur Kategorie des Rechts gehören aber nicht nur die positiv fixierten Rechtsbestimmungen, sondern auch alle normativen Selbstverständlichkeiten. Auch sie müssen damit rechnen, im Falle des Konflikts von der öffentlichen Diskussion in Zweifel gezogen zu werden. Sie geraten dann ins Bewußtsein und müssen sich ebenso der rationalen Oberprüfung stellen wie die Begründungen für das politische Handeln auch.

Funktionszusammenhang

Diese Kategorie sucht der Tatsache Rechnung zu tragen, daß unter modernen politisch-soziologischen Bedingungen alle politischen Einzelaktionen und Situationen auf zahlreiche andere einwirken, daß es also in der arbeitsteiligen Gesellschaft keine isolierten politisch-gesellschaftlichen Erscheinungen mehr gibt. In dieser Kategorie kommt sachlich wie ethisch das Ganze des politischen Zusammenlebens in den Blick. Sie enthält zudem die Forderung, die Ver-

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antwortung für Folgen zu übernehmen, die durch eine politische Maßnahme oder Unterlassung im Rahmen des Ganzen hervorgerufen werden. "Politische Bildung verlangt Klarheit über den dynamischen Zusammenhang des Ganzen der Politik ... . Erkennen zu können, was wichtiger ist, darauf kommt es an" (Bergstraesser, 10, S. 557). Mit dieser Kategorie kommt auch der Begriff des Gemeinwohls in den Blick. Allerdings wird "Gemeinwohl" hier als Produkt eines ständig zu überprüfenden politischen Prozesses verstanden. "Das Gemeinwohl als die richtige Ordnung des Zusammenlebens verwirklicht sich in ständigem Dialog von Meinungen, Interessen und Ideen" (Heinrich Schneider, 118, S. 214).

Die wertvollste Hilfe der Wissenschaften für die politische Urteilsbildung liegt zweifellos in ihrer Möglichkeit, die Art und Weise des Zusammenhangs der politischen Erscheinungen materiell zu konkretisieren. Je mehr die ökonomischen und sozialen Wissenschaften in der Lage sind, Wirkungen und Folgen von Maßnahmen oder Unterlassungen im Ganzen des menschlichen Zusammenlebens mit hinreichender Genauigkeit vorauszusehen, um so mehr kann das politische Bewußtsein auch diese Wirkungen und Folgen in seine Verantwortung übernehmen. Es ist zu erwarten, daß die Rationalisierung des Politischen noch sehr viel weiter fortschreiten wird, daß die Möglichkeiten sorgfältiger Datenverarbeitung noch keineswegs erschöpft sind. Dadurch werden in Zukunft viel mehr Konsequenzen des politischen Handelns kalkulierbar.

In diesen Zusammenhang gehört auch die Berücksichtigung von Zukunftsperspektiven. Es stellt sich immer mehr heraus, daß der Funktionszusammenhang des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens aufs schwerste gefährdet wird, wenn man ihn nicht durch langfristige Planung vorsorglich sichert und stabilisiert. Kein wirklich ernstes Problem, sei es im Bereich der Schulpolitik, der Medizin oder der Sozialversicherung, ist heute mehr durch einen einmaligen Akt der Gesetzgebung zu lösen, sondern nur durch langfristige Planung.

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Interesse

Die Kategorie des subjektiven Interesses kann sich aus Gründen, auf die schon Oetinger eindringlich hingewiesen hat, im allgemeinen Bewußtsein nur sehr schwer durchsetzen (104, S. 22ff.). Nicht zu Unrecht setzt hier ein Teil der politikwissenschaftlichen und soziologischen Kritik an der politischen Bildung ein. Für Sontheimer etwa ist ein Denken, das von den konkreten Interessen abstrahiert, unangemessen "und begünstigt nur jene, die ihre Parteiinteressen verabsolutieren und dann als Herrschaft einer einzigen Machtgruppe ... das Gemeinwohl unangefochten deklarieren wollen" (124, S. 76). Auch Adorno fordert von der politischen Pädagogik den einleuchtenden Verweis auf die unmittelbaren Interessen des Bürgers (3, S. 14).

Nun ist natürlich im politischen Unterricht allenthalben von Interessen die Rede, vor allem in der Formel von den Interessenverbänden. Es ist aber ein Unterschied, ob solche Interessen lediglich als eine Art verobjektiviertes Gegenüber dem Jugendlichen vorgestellt werden, als hätte er selber zu ihnen keinen Bezug, oder ob die Jugendlichen von der politischen Pädagogik dazu ermuntert werden, ihre eigenen Interessen zu ermitteln und sich nach den Chancen der Verwirklichung umzusehen. Es kann keinen Zweifel daran geben, daß politische Beteiligung und Verantwortung nur dort sinnvoll übernommen werden kann, wo dem ein subjektives Interesse zugrunde liegt. Interessen sind gleichsam die subjektive Seite von Politik; und wenn man die Grundrechte des Grundgesetzes nicht abstrakt, sondern in ihrer historischen Entstehung interpretiert - als einen gewissen Abschluß des Klassenkampfes und der Emanzipation - , dann versteht sich politische Beteiligung vornehmlich als das Recht, die je individuellen Interessen ins politische Spiel zu bringen. Der Begriff des Interesses muß dabei weit gefaßt werden. Er betrifft alle persönlichen Wünsche - nicht nur die materiellen -, deren Erfüllung irgendwie an politisch-gesellschaftliche Voraussetzungen gebunden ist und also nicht allein im

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Bereich der persönlichen Lebensführung zu erreichen ist. Unsere Kategorie des Interesses bezieht sich also nicht bereits auf die gesellschaftliche Objektivierung - diese äußert sich unter anderem in den Konflikten - , sondern auf das je einzelne Individuum.

Im Hinblick auf die politische Jugendbildung könnte der Einwand erhoben werden, Jugendliche hätten angesichts ihrer noch nicht festgelegten sozialen Stellung auch keine oder jedenfalls keine gravierenden Interessen zu vertreten. Das trifft für Lehrlinge und berufstätige Jugendliche schon weniger zu als etwa für Oberschüler. Wichtiger aber ist die Erfahrung, daß Jugendliche in der Regel die politischen und sozialen Interessen ihrer Familien oder auch ihrer sozialen Schicht zu ihren eigenen machen - wie wohl überhaupt solche Interessen zwar je individuell artikuliert werden, aber jeweils auf soziale Beziehungen zurückverweisen. In den meisten Fällen aber werden die Interessen von den Jugendlichen gar nicht artikuliert, sondern sogar schlechterdings geleugnet. Sie unterliegen dabei einem Trugschluß, den aufzuhellen eine Aufgabe des politischen Unterrichts ist. Sie haben nämlich sehr wohl politische Interessen, nur merken sie oft nicht, daß sie sie in illusionärer Verkennung in der rein persönlichen Lebensführung für erreichbar halten, daß sie in Wahrheit sich unentwegt Versagungen leisten, die sie dann auf Befragung für ihre Interessen halten. So personalisieren sie etwa Konflikte am Arbeitsplatz, als ob der jeweilige Vorgesetzte schuld an der objektiven Zwangslage sei, deren Opfer er doch nur in gleicher Weise ist. Oder sie glauben noch uneingeschränkt an den unaufhaltsamen Aufstieg des Tüchtigen.

Wie sehr scheinbar private Konflikte des Alltags auf objektive Widersprüche zurückzuführen sind, zeigt schon die eigene Lebenserfahrung. Wie schwer es andererseits ist, aus dem Wust der von außen unermüdlich angesonnenen Interessen das, was man nun wirklich will und wünscht, wieder herauszufiltern, ist jedem bewußt, der sich um möglichst autonome politische Urteile bemüht.

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Mitbestimmung

Die Mitbestimmung ist Grundsatz des Grundgesetzes. Sie gehört im umfassenden Sinne zu den Postulaten unserer demokratischen Gesellschaft, und zwar für alle Bereiche des politisch-gesellschaftlichen Lebens. Wendet man diese Kategorie konkret an, das heißt auf eine bestimmte politische Situation, so ermöglicht sie die Unterscheidung zwischen illusionären und realistischen Möglichkeiten. Sie legt dann auch gesellschaftskritische Aspekte frei, insofern die Gesellschaft Möglichkeiten der Mitbestimmung vorenthält, die sie im Grundgesetz wenigstens dem Sinne nach verspricht.

Von Mitbestimmung kann sinnvoll nur gesprochen werden, wenn es sich dabei um die Durchsetzung von Interessen handelt, die man selbst bewußt vertritt. Deshalb sind diese beiden Kategorien notwendig aufeinander bezogen. Die eine wird sinnlos ohne die andere. Insofern alle Erziehungsfelder auch Felder gesellschaftlicher Strukturen sind, gilt auch für sie das Postulat der Mitbestimmung. Eine Schule oder eine Tagungsstätte, die nicht in geeigneter Weise die Mitbestimmung der Schüler oder Tagungsteilnehmer ermöglicht, kann auch im Unterricht nicht überzeugend für sie eintreten.

Solidarität

Diese Kategorie zielt auf einen durchgehenden Tatbestand des Politischen. Jede politisch-gesellschaftliche Aktion nützt bestimmten Gruppen und benachteiligt gleichzeitig andere. Andererseits kann der einzelne nicht allein seine Interessen und Wünsche realisieren. Er bedarf dazu der Hilfe einer oder mehrerer Gruppen. Im Anschluß an W. Besson geben wir diesem Sachverhalt jenen positiven Akzent, den der Begriff "Solidarität" ausstrahlt.

Der moderne Mensch, so schreibt Besson, "lebt in der ständigen Sorge, seine Funktion einmal (zum Beispiel wenn er älter wird)

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nicht mehr ausreichend erfüllen zu können oder durch die sich immer weiter fortsetzenden Wandlungen der Produktionsverhältnisse isoliert zu werden und dadurch sozial abzusteigen. In dieser Urangst des technischen Menschen liegt der psychologische und soziologische Ursprung der Interessenverbände. Sie sind die politische Manifestation der Solidarität der an den verschiedenen Orten der technischen Welt an ihr Leidenden. Der Gedanke der sozialen Solidarität, ausgedrückt durch die Organisationsformen des modernen Interessenverbandes, ist die Abwehrwaffe der Ohnmächtigen und Abhängigen, der in der technischen Welt Mühseligen und Beladenen" (14, S. 303).

Wenn aber die gesellschaftlichen Gruppen nicht nur deshalb nötig sind, weil sie die politische Beteiligung der einzelnen vermitteln, sondern darüber hinaus jene moralische Bedeutung haben, von der Besson spricht, dann können sie umgekehrt auch ein gewisses Maß an Loyalität beanspruchen. Der einzelne Bürger muß also nicht nur sein eigenes Interesse bestimmen - dies ist seine wichtigste politische Leistung - , sondern er muß sich auch mit denjenigen Gruppen identifizieren, denen er jeweils seine Interessen anvertrauen kann. In dem Maße, wie die Klassengesellschaft sich nivelliert und die lebenslange Zugekörigkeit zum Schicksal einer einzigen sozialen Gruppe sich lockert, erstreckt sich die Solidarität immer stärker auf mehrere, möglicherweise konkurrierende Gruppen. Die Solidarität ist nicht ein für allemal festgelegt.

In unserem Modellfall der Spiegel-Kontroverse zum Beispiel erklärten sich Gruppen und Einzelpersonen mit einem Presseorgan solidarisch, die sonst zu seinen Gegnern zählten und inzwischen auch wieder zu Gegnern wurden. Die Identifikation des eigenen Interesses mit einer gesellschaftlichen Gruppe - zum Beispiel einer politischen Partei - ist also kein einmaliger Akt des Individuums, sondern ein ständiger Prozeß mit häufig wechselnden Partnern. Vielleicht ist heute überhaupt der Wechsel der Solidarität die wirksamste Form politischer Beteiligung. Jedenfalls gehört zum politisch bewußten Staatsbürger die Fähigkeit, die Vertretung seines Interesses ständig kontrollieren zu können.

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In dem notwendigen Bemühen, der politischen Pädagogik ihre utopischen Perspektiven klarzumachen, ist Eugen Lemberg leider auf den Entwurf eines großgesellschaftlichen "Über-Ichs" verfallen. Unter Hinweis auf nationalsozialistische und kommunistische Erziehungserfolge meint er, "eine politische Erziehung" sei "zum Scheitern verurteilt, wenn sie den zu Erziehenden nicht in ein Ganzes bindet, das ihn übersteigt, das seine Hingabe herausfordert und von ihm Leistungen und Opfer verlangt". Dazu "sollte die politische Pädagogik ihr farb- und phantasieloses Plädoyer für politisches Wohlverhalten bereichern, indem sie das Zukunftsbild einer integrierten Großgesellschaft entwirft, freilich nicht ohne diese, die bisherigen Nationen transzendierende Großgesellschaft in ein für die gesamte Menschheit gültiges Normensystem zu binden" (78, S. 134). Nehmen wir einmal an, Lemberg hätte damit in der Tat nicht nur ein Bedürfnis seiner Generation, sondern auch der heutigen jungen Generation treffend beschrieben, so bleibt - neben erheblichen politischen Einwänden - immer noch unklar, mit welcher Legitimation die politische Pädagogik ein solches Zukunftsbild inhaltlich ausstatten könnte, wenn schon die politische Wirklichkeit selbst kaum dazu auffordert - von der Frage, woher wohl das Normensystem für die Bindung an die gesamte Menschheit stammen sollte, ganz zu schweigen. Mir scheint, die nationale Verengung des politischen Horizonts läßt sich am besten dadurch überwinden, daß man junge Menschen dazu ermuntert, sich mit all den Menschen solidarisch zu fühlen, die in einem unmittelbaren Sinne an ihren politischen Verhältnissen leiden.

Ideologie

Diese Kategorie unterwirft Begründungen für das politische Handeln einer rationalen Kontrolle. Alles politische Handeln wird schon deshalb immer mit Begründungen versehen, weil Menschen dafür gewonnen werden müssen. In der pluralistischen Gesellschaft gehen solche Ordnungsvorstellungen in der Regel von bestimmten sozialen Gruppen aus, erstrecken sich aber auf die Gesamtheit der Gesellschaft. Die Doppelbödigkeit des Ideologiebegriffes - Verdeckung des partikularen Interesses und Theorie für die Ordnung des Ganzen - müßte sich in der Relation zur Kategorie der Solidarität ergeben. Es kommt für die politische Beurteilung auf beide Seiten an: Keine politische

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Aktion erfolgt letztlich ohne ein Mindestmaß an Ordnungsvorstellungen; jede politische Aktion aber droht gerade diese Theorien zum Vorwand zu machen. Mit der Kategorie der Ideologie bedient sich der Staatsbürger der Erkenntnisse der Ideologiekritik, um seine Interessen wie seine erfolgreiche Interessenvertretung jeweils neu ermitteln zu können. Hans Jürgen Rathert (107) hat diese Kategorie für den politischen Unterricht gründlich analysiert.

Geschichtlichkeit

Diese Kategorie fragt nach dem Geschichtlichen, insofern es einen Konflikt mitbestimmt oder geradezu mitbegründet. Diese Frage öffnet eigentlich erst den Horizont fürs Aktuelle. Dabei geht es nicht um einen Geschichtsunterricht aus Anlaß eines politischen Konfliktes, sondern um die Bereitstellung des historisch Gewußten unter einem spezifischen Aspekt, der allein niemals einen Geschichtsunterricht begründen könnte. Keine wesentliche politisch-gesellschaftliche Streitfrage unserer Tage ist begreifbar ohne diesen historischen Aspekt. Der Verzicht auf ihn müßte also von vornherein den Sinn des politischen Unterrichts in Frage stellen. Wenn wir politische Urteile ohne Bewußtsein von der historischen Kontinuität fällen, dann werden diese Urteile auch bald ihre demokratischen Perspektiven verlieren. "Idee und Wirklichkeit fortschrittlichen Zusammenlebens sind ja nicht Produkt des Gegensatzes von kommunistischer und nichtkommunistischer Welt, sondern viel tiefer in der Vergangenheit unseres Kulturkreises verwurzelt" (Heinrich Schneider, 118, S. 210). Streng genommen muß die Kategorie der Geschichtlichkeit auf alle übrigen Kategorien selbst wiederum angewandt werden. Eine ideologische Begründung etwa für eine politische Maßnahme ist überhaupt wohl nur durch einen Rückgriff auf ihren historischen Entstehungszusammenhang angemessen zu verstehen. Aber uns geht es hier

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zunächst ganz vordergründig um die Kontinuität des Faktischen. In welcher Weise die geschichtliche Erfahrung politisch bedeutsam ist, hängt wesentlich davon ab, wie sie im Bewußtsein der Zeitgenossen verankert ist. Wenn zum Beispiel die Erinnerung daran, wie in der jüngsten Vergangenheit eine freiheitliche Gesellschaft in Diktatur umschlug, verloren geht, geht auch die Möglichkeit weitgehend verloren, diktatorische Tendenzen in der Gegenwart frühzeitig zu erkennen. Gewiß werden solche Tendenzen nicht immer in gleicher Form in Erscheinung treten, aber sie lassen sich leichter erkennen und ihre Konsequenzen werden stärker bewußt, wenn die Erinnerung an ähnliche Entwicklungen in der Vergangenheit lebendig erhalten bleibt.

Von dieser Sicht der Kategorie der Geschichtlichkeit her können wir nun noch einmal die Frage nach dem Verhältnis von politischer und historischer Bildung aufgreifen. Unter der politischen Kategorie der Geschichtlichkeit kann immer nur von einer politischen Verlegenheit der Gegenwart her in die Geschichte zurückgefragt werden. Die Antworten aber, die die Geschichte im Einzelfall darauf bereit hält, hängen unter anderem davon ab, ob das historische Bewußtsein der Fragenden das, was jeweils gebraucht wird, übersteigt oder nicht. Wenn also auf der Ebene des historischen Bildungswissens nur das zu finden ist, was für die Aktualität der Gegenwart Bedeutung hat, dann gerät das historische Wissen gerade in die Versuchung, als Legitimation für aktuelle Entscheidungen mißbraucht zu werden. Unter dem Aspekt des historischen Bildungswissens ist also nicht nur wichtig, was bestimmte historische Erscheinungen und Erfahrungen für die Gegenwart bedeuten, sondern auch, was die Gegenwart vor dem Anspruch bereits vorliegender historischer Erfahrungen bedeutet. Die Bedenken, die man gegenüber der neuen Fächerkombination aus dem Anspruch einer vor der Gegenwart autonomen historischen Bildung vorgebracht hat, sind demnach auch Plädoyers für eine recht verstandene politische Unterrichtung.

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Menschenwürde

Die Kategorie der Menschenwürde ergibt sich wiederum aus den Maximen der Grundrechte und prüft politische Aktionen und Situationen darauf hin, in welcher Weise sie auf die davon betroffenen Menschen einwirken. In ihr kann man die einzelnen Grundrechte wohl zusammenfassen, so daß wir sie hier nicht als einzelne Kategorien aufführen müssen. Der Unterricht muß aber vermeiden, die Normen der Grundrechte abstrakt vorzuführen. Nicht nur sind sie auf diese Weise den Jugendlichen nicht einsichtig und begreiflich zu machen, vielmehr geht auch ihre politische Bedeutung verloren, wenn man sie nicht als Maßstab konkreter Politik versteht. Sie legitimieren erst in zweiter Linie demokratische Formalitäten, in erster Linie und substantiell beziehen sie sich auf das konkrete Dasein konkreter Menschen. Auch politische Unterlassungen können demnach gegen die Menschenwürde verstoßen.
 

Entwurf eines didaktischen Modells

Drei Voraussetzungen für die Brauchbarkeit der Kategorien

Diese hier behandelten Kategorien können nur dann sinnvoll für den politischen Unterricht sein, wenn sie drei Bedingungen erfüllen.

1. Sie müssen alle in jedem politischen Konflikt enthalten sein bzw. - als Fragen an ihn gestellt - zu sinnvollen Antworten führen. Es muß also zutreffen, daß in jeder aktuellen Auseinandersetzung von politischem Gewicht sich darüber hinausgehende Konflikte repräsentieren; daß ein solcher Konflikt dennoch nicht allgemein, sondern konkret entschieden wird (Konkretheit); daß in jeder Auseinandersetzung wenigstens mittelbar das Interesse eines

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jeden Bürgers getroffen wird; daß der Bürger Möglichkeiten der Mitbestimmung hat; daß er nur in Solidarität mit einer Gruppe diese Mitbestimmung wahrnehmen kann; daß jede politische Entscheidung ausgesprochen oder unausgesprochen mit einem auf das politische Ganze zielenden Begründungszusammenhang versehen ist (Ideologie); daß jede politische Entscheidung in der Kontinuität eines faktischen Zusammenhangs steht (Geschichtlichkeit); daß sie in einem positiven Rechtszusammenhang steht; daß sie, obwohl immer partikular im politischen Geschehen angesetzt, immer auch andere Teile des Funktionszusammenhangs und damit das ganze System verändert; daß sie immer konkrete Daseinsbedingungen von Menschen verändert (Menschenwürde); daß alle politischen Beziehungen solche der Macht sind.

2. Die zweite Voraussetzung ist, daß die in diesen Kategorien beschlossenen Werteinstellungen als solche eines Konsensus der ganzen Gesellschaft angesehen werden können; denn es ist diesen Kategorien eigentümlich, daß sie die politische Wirklichkeit nicht nur analytisch befragen, um Sachverhalte zu ermitteln, sondern daß zugleich diese Sachverhalte mit einem Wertakzent versehen werden, der letztlich Grund der Fragestellung ist. Diese Werthaltungen lassen sich etwa folgendermaßen skizzieren: daß Menschen im politischen Raum kontrovers zueinander stehen, ist kein Mangel ihrer moralischen Konstitution, sondern definiert ihre Würde mit (Konflikt); politische Gegner haben Anspruch darauf, daß ihre Gegnerschaften auch so verstanden werden, wie sie sie selbst im Augenblick meinen (Konkretheit); es konstituiert die einmalige Personalität der Menschen, daß sie individuelle Wünsche haben und diese politisch durchsetzen wollen (Interesse); daß jeder Bürger in allen Bereichen des politisch-gesellschaftlichen Lebens reale Möglichkeiten hat, seine Wünsche soweit wie möglich zu verwirklichen, ist ein moralischer Sinn des Grundgesetzes (Mitbestimmung);daß diese Realisierung nur möglich ist in Zusammenarbeit mit anderen Menschen gleicher Interessenlage, ist nicht nur notwendiges Übel in

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einer hochdifferenzierten Gesellschaft, sondern ist zugleich auch Grundlage einer sozialen Ethik (Solidarität); daß menschliches Denken über Politik immer auch vital besetzt ist und sich untrennbar mit den eigenen Hoffnungen, Wünschen und Interessen verbindet, macht seinen Anspruch, auf der Ebene der rationalen Argumentation ernst genommen zu werden, nicht geringer und enthält in dieser Rationalität erst die Chance, sich für humane Aspekte zu öffnen (Ideologie); daß alle Entscheidungen in der Kontinuität eines faktischen Zusammenhangs stehen, ermöglicht den Menschen, Erfahrungen aufzuspeichern und damit die Möglichkeit irrtümlicher und inhumaner Entscheidungen zu verringern (Geschichtlichkeit); die Respektierung rechtlicher Festsetzungen dient auch dann dem öffentlichen Frieden, wenn sie im einzelnen ungerecht sind und auf den dafür vorgesehenen Wegen geändert werden sollten (Rechtlichkeit); unabhängig von der Frage der Legitimität ist die Anwendung von Macht aller Art nicht nur notwendiges Übel zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, sondern auch das wesentliche Instrument dafür, daß menschliche Verhältnisse verbessert werden können; der Anspruch eines jeden Menschen, in einem höchstmöglichen Maß auch Subjekt seiner Lebensbedingungen zu sein, ist ein moralisches Hauptanliegen der demokratischen Grundrechte (Menschenwürde); daß alle politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Erscheinungen miteinander zusammenhängen, ist die sachliche Voraussetzung dafür, die Durchsetzung von Interessen mit einem Höchstmaß an Verantwortlichkeit für das Ganze, und das heißt immer für andere Menschen, wahrnehmen zu können (Funktionszusammenhang).

3. Die unterrichtliche Voraussetzung unserer Kategorien ist, daß sie sich angesichts des konkreten Unterrichtsgegenstandes in sinnvolle Leitfragen umwandeln lassen, die in ihrer allgemeinsten Form etwa folgendermaßen formuliert werden können: Worin besteht bei einer politischen Situation oder Aktion die Gegnerschaft (Konflikt)? Worum geht es im einzelnen bei dieser Auseinandersetzung (Kon-

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kretheit)? Welchen Vorteil habe ich von einer Situation oder Aktion (Interesse)? Wie kann ich angesichts einer Situation oder Aktion meinen Einfluß geltend machen (Mitbestimmung)? Welcher Gruppe nützt eine politische Situation oder Aktion (Solidarität)? Welche Ordnungsvorstellungen liegen einer Situation oder Aktion zugrunde (Ideologie)? Welche geschichtlichen Auseinandersetzungen kommen in einer Situation oder Aktion zum Ausdruck (Geschichtlichkeit)? Welcher Zwang kann zur Aufrechterhaltung einer Situation und zur Durchsetzung einer Aktion angewandt werden (Macht)? Welche Rechtsbestimmungen werden durch eine politische Situation oder Aktion verletzt (Recht)? Wie wirkt eine Situation oder Aktion auf andere Situationen oder Aktionen ein (Funktionszusammenhang)? Wie wirkt eine Situation oder Aktion auf die davon unmittelbar oder mittelbar betroffenen Menschen (Menschenwürde)?

Wir behaupten nun, daß sowohl über die sachlichen wie moralischen Implikationen dieser Kategorien Übereinstimmung in unserer Gesellschaft hergestellt werden kann. Dies liegt natürlich an ihrer formalen Allgemeinheit. Wenn diese Hypothese zutrifft, müssen die Stellen präzisiert werden, an denen die Meinungsverschiedenheiten einsetzen, die uns ja im politischen Alltag unentwegt entgegentreten. Unsere Kategorien beruhen auf einer Analyse unseres historisch gewordenen "common-sense". Dabei muß man sich allerdings vor der Vorstellung hüten, als ob der "common-sense" lediglich das sei, worin alle Bürger vollinhaltlich übereinstimmten. Diese weitverbreitete Meinung geht bewußt oder unbewußt von einem harmonistischen Grundmodell aus: Was umstritten ist, gilt dann nur potentiell als Bestandteil des common-sense, insofern nämlich seine Einbeziehung in das Unumstrittene erwartet wird. Es erscheint aber sinnvoller, common-sense dynamisch zu verstehen, als Inbegriff dessen, was in unserer Gesellschaft unumstritten ist und dessen, was legitimerweise umstritten ist oder werden kann. Oder anders: kategoriale Übereinstimmung über die normativen Grundsätze

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unseres politischen Lebens schließt Kontroversen bei der konkreten Anwendung nicht aus, sondern ein. Das heißt nun wieder nicht, daß die politischen Gruppen sich in den Zielen einig seien und sich lediglich im Hinblick auf die Art und Weise der Verwirklichung stritten, die jeweilige politische Konkretion also etwas Technisches, Uneigentliches an sich habe, was man deshalb im politischen Unterricht auch mit Recht übergehen dürfe. Ein solches Denkmodell liegt in der Tat den meisten politisch-didaktischen Vorstellungen unausgesprochen zugrunde. Aber tatsächlich sind normative politische Kategorien nicht außerhalb ihrer konkreten Realisation denkbar, und indem sie im Zustand ihrer Realisierung erfahren werden, nehmen sie auch erst eine rational nachprüfbare Inhaltlichkeit an.

Wir müssen hier leider darauf verzichten, unsere Kategorien mit dem moralischen Selbstverständnis eines nichtdemokratischen Staates zu vergleichen. Ein solcher Vergleich würde aber zeigen, daß die meisten, wenn nicht alle moralischen Implikationen unserer Kategorien dort nicht gelten. Unsere Kategorien repräsentieren also das moralische Potential unserer Gesellschaft, aber in der Weise, daß es nicht in einer abstrakten Gegenüberstellung zum Totalitarismus sozusagen ein für allemal festgestellt wird, sondern so, daß es in der konkreten Auseinandersetzung mit konkreten Konfliktstoffen immer wieder zurückermittelt wird.

Dabei ist der Kategorienzusammenhang keineswegs vollständig; man könnte ihn ergänzen, kaum aber reduzieren. Zu bedenken ist dabei, daß die Vermehrung der Kategorien den politischen Unterricht leicht unpraktikabel machen würde, während ihre Reduktion die Sachverhalte allzusehr verengen müßte. Ob also eine Interpretation eines politischen Sachverhaltes als angemessen gelten kann, hängt von der Anzahl der angewendeten Kategorien ab. Keine einzige von ihnen garantiert für sich genommen ein angemessenes Verständnis des Politischen. Die Kategorien lassen sich auch nicht weiter in einen systematischen Zusammenhang bringen. Auch die Reihenfolge, in

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der wir sie erläutert haben, ist beliebig, weshalb wir sie auch mehrmals änderten. Sie lassen sich auch nicht voneinander ableiten. Sie sind gegeneinander autonom. Welche von ihnen im konkreten Falle eine dominante Bedeutung hat, kann nicht vorweg durch eine logische Analyse entschieden werden. Grundsätzlich stehen sie nur im Zusammenhang der Interdependenz. Daß sie keinen eindeutigen systematischen Zusammenhang zueinander haben können, erklärt sich aus der Eigenart ihres Gegenstandes, der Unsystematik des Politischen selbst. Auf eine knappe Formel gebracht: Die Kategorien bilden kein systematisches, sondern ein operatives Denkmodell.

Der didaktische Ort der politischen Parteinahme

Welchen Ort haben aber nun die politischen Meinungsverschiedenheiten innerhalb unseres didaktischen Modells? Es könnte so scheinen, als ob unsere Kategorien nun doch eine lehrgangsgemäße Systematik des Politischen erstrebten, während wir dies als der Sache unangemessen vorher ausdrücklich zurückgewiesen haben. Wendet man aber die Kategorien im politischen Unterricht an, so zeigt sich sehr bald, daß sie mindestens zum Teil Widersprüche repräsentieren. Die politischen Phänomene werden mehrdeutig, und zwar vor allem im Hinblick auf ihre Bewertung. Der Widerspruch kann darin bestehen, daß das subjektive Interesse mit dem der Gruppe nicht übereinstimmt, dem es sich anvertrauen muß; daß zwar Machtmittel für seine Durchsetzung zur Verfügung stehen, sie aber gegen eine bestimmte Rechtssituation verstoßen würden; daß die Durchsetzung eines Interesses zwar rechtlich möglich erscheint, im Gesamtzusammenhang des Gemeinwesens aber Folgen haben muß, die nicht ohne weiteres in Kauf genommen werden können. Die Anwendung der Kategorien führt also zu Wertwidersprüchen, zur Mehrdeutigkeit der Erscheinungen.

Eine politische Entscheidung muß aber im konkreten Falle

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die Mehrdeutigkeit zur Eindeutigkeit wenden. In diesem Zwang, die allgemeinverbindlichen moralischen Maßstäbe des Politischen, die, auf eine politische Lage angewandt, nur zu Mehrdeutigkeiten führen können, eindeutig zu machen, liegt der theoretische Ort der verschiedenen Parteilichkeiten innerhalb unserer Gesellschaft und - pädagogisch gesprochen - der Ort der Diskussion.

Die Umwandlung der Kategorien in Grundeinsichten

Wenn die in unseren Kategorien beschlossenen Sachverhalte und Bewertungen allen politischen Auseinandersetzungen immanent sind, dann lassen sie sich auch als politische Grundeinsichten, als Ergebnis eines politischen Unterrichts formulieren. Damit kommen wir auf den kritisierten Ansatz von Fischer/Herrmann/Mahrenholz (34) zurück, übernehmen sogar einige ihrer Grundeinsichten, glauben sie aber überzeugender im Gesamtzusammenhang begründet zu haben. Solche Grundeinsichten lassen sich für Jugendliche etwa folgendermaßen formulieren, wobei zu bedenken ist, daß diese Formulierungen in der Unterrichtspraxis sowohl den Altersklassen angepaßt wie auch im einzelnen je nach der Art des zu behandelnden Gegenstandes ausführlicher dargestellt werden müssen.

l. Was Politik "eigentlich" sei, ist schwer zu sagen. Im Alltag des politischen Lebens zeigt sie sich darin, daß Menschen verschiedene Interessen, Ziele und Wünsche haben, die miteinander im Widerspruch stehen und so aufeinander abgestimmt werden müssen, daß Frieden erhalten bleibt. Diese Widersprüche kennzeichnen nicht einen moralischen Mangel des Menschen, sondern seine individuelle, nicht austauschbare Eigenart (Konflikt).

2. Politische Entscheidungen sind konkrete und einmalige Entscheidungen. Keine politische Situation gleicht einer anderen, mag sie ihr auch noch so ähnlich sehen. Deshalb muß man sich auch im einzelnen informieren, was jeweils zur Debatte steht. Die Menschen, die im politischen Streit

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miteinander stehen, haben Anspruch darauf, so verstanden zu werden, wie sie es im Augenblick meinen. Der voreilige Versuch, ihre Wünsche und Meinungen durch allgemeine Schlagworte zu deuten, verletzt ihre Würde (Konkretheit).

3. Politik hat es im wesentlichen mit dem Ausgleich von Interessen zu tun. Die Klarstellung, welche Interessen jemand hat, gehört zu den wichtigsten politischen Entscheidungen, die jeder einzelne für sich treffen muß. Nur wenn jemand seine eigenen materiellen, kulturellen und sozialen Interessen erkannt hat, kann er sinnvoll politische Verantwortung übernehmen oder an andere übertragen (Interesse).

4. Daß jeder Mensch in allen politischen und gesellschaftlichen Bereichen Möglichkeiten vorfindet, seine Interessen soweit wie möglich zu verwirklichen, ist ein moralischer Sinn des Grundgesetzes. Deshalb ist es immer wichtig zu wissen, wo es solche Möglichkeiten gibt und wo sie vielleicht erst noch geschaffen werden müssen (Mitbestimmung).

5. Jedes politische Handeln bringt einigen Gruppen von Menschen Vorteile, anderen gleichzeitig Nachteile. Betroffen sind davon also letztlich alle Bürger eines Staates, unter Umständen auch Bürger anderer Staaten. Kluge Politik wird die Spannung zwischen den Bevorteiligten und den Benachteiligten immer in Grenzen halten. Die Behauptung, politisches Handeln könne gerecht gegen alle Betroffenen sein, ist ein Trick totalitärer Regierungen, die Unzufriedenheiten nur ausnutzen, aber nicht beseitigen können. Andererseits kann der einzelne nur mit Hilfe anderer Menschen, die die gleichen Interessen vertreten wie er selbst, seine Wünsche in der politischen Wirklichkeit durchsetzen (Solidarität).

6. Politischem Handeln liegt immer eine Vorstellung darüber zugrunde, wie das Zusammenleben der Menschen geordnet sein soll. Ohne eine solche Vorstellung könnte es keinen Maßstab für politisches Handeln geben. Diese Vorstellungen können andererseits aber auch dazu dienen,

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dem notwendigen Egoismus des politischen Handelns den Mantel des Allgemeinwohls umzuhängen. Politisches Urteil wird beide Seiten immer sorgsam unterscheiden müssen (Ideologie).

7. Alle wichtigen Streitfragen und Interessengegensätze unserer Tage sind älter als wir selbst, sind geschichtlich bedingt. Gerade ihre Verschärfungen können aus früheren Erfahrungen der Väter erwachsen. Diese Erfahrungen zu kennen und zu prüfen, ist notwendig für jedes politische Urteil in der Gegenwart (Geschichtlichkeit).

8. Jedes politische Handeln hat eine Kettenreaktion von Ergebnissen zur Folge: Es wirkt sich im Ganzen der menschlichen Gesellschaft aus, obwohl es vielleicht nur auf eine eng umgrenzte Einzelfrage gerichtet war. Die Wirkung, die eine politische Aktion erzielt, kann als Ursache zurückwirken und so die ursprüngliche Absicht zerstören. Die Wirkung kann Folgen haben, die man nicht wollte. Trotzdem müssen sie mitverantwortet werden. Gerade diese Kettenreaktion politischer Maßnahmen macht es immer mehr erforderlich, politische Probleme durch langfristige Planungen zu lösen, in denen auch die gewünschten und unerwünschten Nebenwirkungen sorgfältig kalkuliert werden (Funktionszusammenhang).

9. Alles politische Handeln muß sich auf seine Rechtlichkeit hin befragen lassen. Auch in scheinbaren Kleinigkeiten ist es wichtig, daß Rechtsgrundsätze eingehalten werden. Das Rechtsgefühl eines Volkes ist unteilbar: Ein einmal hingenommener Rechtsbruch kann die Rechtssicherheit des Ganzen gefährden. Die umständliche Genauigkeit der Rechtssprechung hat friedenstiftende Wirkung: Man muß sich auf sie verlassen können. Wo das Recht keine selbständige Kraft hat, wie im totalitären Staat, verliert es diese Wirkung. Rechtlichkeit und Willkür der Regierenden werden eins (Rechtlichkeit).

10. Über dem Recht, das sich unter anderem in den Gesetzen ausdrückt, steht das Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit. Maßstab für alles politische Handeln ist also der einzelne Mensch. Eine Politik, die ein-

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zelnen Böses antut, kann das nur in Ausnahmesituationen rechtfertigen (Menschenwürde).

11. Jedes politische Handeln hat es mit Macht zu tun, das heißt mit der Möglichkeit, für eine politische Entscheidung Gehorsam von anderen Menschen zu erhalten. Ohne Macht ist die Ordnung des Zusammenlebens nicht aufrecht zu erhalten. Ohne Macht ist auch eine Besserung menschlichen Zusammenlebens nicht zu erreichen (Macht).

Kategorien und "Umgang"

Insofern die Kategorien normativ bestimmt sind, verweisen sie auf das Bildungswissen, insofern sie nach Sachverhalten fragen, rufen sie Antworten aus dem Bestand des Bildungswissens und des Orientierungswissens hervor. In diesem Sinne kann man also sagen, daß die Kategorien eine vermittelnde Funktion zwischen diesen beiden Ebenen des Wissens ausüben.

Aber auch im Hinblick auf die politischen Verhaltensweisen vermitteln sie. Wenn man sich etwa aufgerufen fühlt, im Falle eines politischen Konfliktes seine Mitbestimmung wahrzunehmen, dann ergibt sich das konkrete Verhalten ja nicht notwendig schon aus der mit Hilfe der Kategorie "Mitbestimmung" gewonnenen rationalen Einsicht. Wenn nicht zugleich auch aus dem Bestand der vorhin erörterten Verhaltensweisen die angemessenen ausgewählt werden, nutzt auch jene Einsicht nichts.

Hier liegt nun die Frage nahe, ob nicht überhaupt die politischen Verhaltensweisen und die Kategorien, die wir bisher sorgsam unterschieden haben, zusammenfallen. Kann man nicht - wie es Spranger (125) vorgeschlagen hat - aus der elementarisierenden Betrachtung der unmittelbaren menschlichen Zusammenhänge solche Kategorien gewinnen, die dann nachträglich auch auf politische Verhältnisse angewandt werden können?

Man kann sagen, daß unsere Kategorien in gewissem Sinne auch Probleme der unmittelbaren Kommunikation wider-

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spiegeln. Auch dem Politiker "vertraue" ich, indem ich auf die kontrollierende Kraft der Institution setze, als deren Funktion er mir gegenübersteht. Aber schon bei der Unterscheidung der Verhaltensweisen haben wir festgestellt, wie Verschiedenes dabei mit dem gleichen Wort bezeichnet wird. Ein organologischer Aufbau des politischen Denkens, wie ihn Spranger vertritt, der aus der Reflexion der unmittelbar erfahrbaren Sozialhorizonte sich ins Politisch-Gesellschaftliche richtet, muß immerhin erhebliche Einwände buchen.

1. Ein solcher Gedanke enthält die sachliche Vorentscheidung, daß die komplizierten Verhältnisse der politisch-gesellschaftlichen Welt lediglich Entfaltungen ursprünglicher und elementarer Sozialbeziehungen, also im Prinzip nichts Neues seien. Nur wenn man sich etwa vorstellt, daß "Solidarität" eine soziale Tugend ist, seitdem es menschliche Gemeinschaften gibt, und daß die heutige Solidarität der organisierten Verbände sozusagen nur eine Komplizierung derselben alten Sache ist, nur dann kann man so verfahren, wie es Spranger tut. Aber ist das noch dasselbe, oder täuscht uns da nur die Sprache, die für beide Dinge das gleiche Wort verwendet? Wir haben uns angewöhnt, die moderne Gesellschaft als eine arbeitsteilige Differenzierung ursprünglich einfacher Verhältnisse zu betrachten. Aber schon Karl Marx kannte auch den "Umschlag von Quantität in Qualität", das heißt die Vorstellung, daß von einem bestimmten Punkte der Differenzierung an eben etwas Neues eintritt, das nicht vollständig auf Früheres zurückgeführt werden kann.

2. Sprangers Vorschlag enthält die psychologische Voraussetzung, daß Jugendliche ein Bedürfnis hätten, über ihre unmittelbaren Erfahrungen in der Familie und im Freundeskreis tatsächlich nachzudenken. Dies kann aber nur mit gehöriger Einschränkung gelten. Die Fülle der Erwachsenenwelt, ihre Möglichkeiten, Chancen und Gefahren, sind der jugendlichen Suche heute weitaus wichtiger. Darin drückt sich unter anderem ein gewisser Protest gegen die Beschränkung des Horizontes aus.

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3. Außerdem steckt in dieser Voraussetzung ein Fehler, der allen Versuchen der Elementarisierung mehr oder weniger anhaftet. Was nämlich im logischen Sinne elementar ist, muß dies nicht auch im psychologischen Sinne sein. Komplizierte Sachverhalte auf einfache zurückzuführen, ist keineswegs das Nächstliegende, sondern eine hohe Leistung des intellektuellen Abstraktionsvermögens und in den meisten Fällen erst nach dem Durchgang durch die komplizierte Sache selbst möglich. Mir scheint, es ist heute leichter, einem Heranwachsenden den Sinn verbandlicher Solidarität klarzumachen, als das Prinzip Solidarität durch eine abstrakte Analyse familiärer Erfahrungen zu entwickeln.

4. Auch ein politischer Einwand ist angebracht. Es gibt keine Möglichkeit mehr, von der überschaubaren Erfahrung aus geradlinig in den Bereich des Nichtunmittelbaren vorzustoßen. Das führt fast immer zur Verfälschung der politischen Zusammenhänge. Politische Kategorien können eben nur durch eine Analyse politischer Zusammenhänge gefunden werden. Entwickelt man sie wie Spranger aus den unmittelbaren Lebenszusammenhängen, gibt es keine Möglichkeit mehr, sie als politische zu klassifizieren. Nicht alle unmittelbaren menschlichen Beziehungen sind nämlich auf die politische Dimension übertragbar.

So war es besonders kennzeichnend für das Dritte Reich, daß man die Illusion von der Ungebrochenheit der Face-to-face-Beziehungen im politischen Bereich aufrecht erhalten wollte. Aber weder ist eine politische Gesellschaft eine Gemeinschaft, noch kann man einen Staatsmann, wenn man ihn nicht zufällig gut kennt, "lieben", noch ihm "vertrauen" - wenn diese Worte noch einen letzten Rest von Sinn behalten sollen. Noch absurder wird die Lage, wenn der Bürger etwa im Sinne der Public-relations-Bemühungen einem Industrietrust "vertrauen" soll. - Dies sind einige Beispiele für Sozialbeziehungen, die prinzipiell unübertragbar auf die politische Großgesellschaft bleiben. Sich die politische Welt als eine Großfamilie oder einen Klub von Freunden vorzustellen, liegt für das rational nicht durchgeformte politische Bewußtsein sehr nahe. Daß politische Pädagogik dies auf keinen Fall auch noch unterstützen darf, ergibt sich nicht nur aus den Erfahrungen der Nazizeit, sondern

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vor allem aus der nahezu unbegrenzten Manipulierbarkeit eines solchen Politikverständnisses. Vance Packard zitiert das Ergebnis einer amerikanischen Untersuchung über die Idealvorstellung der Amerikaner von ihrem Präsidenten, die zeigt, daß es sich hier offenbar nicht nur um ein Problem der deutschen politischen Pädagogik handelt: Der Präsident "ist ein Mann mir großer Herzenswärme, der eher Vertrauen als Bewunderung einflößt und nicht so makellos ist, daß es unglaubwürdig erscheint. Er muß auf einem anderen Gebiet als dem der Politik etwas geleistet haben und echten Sinn für Humor besitzen. Seine Ansicht über einzelne politische Fragen ist verhältnismäßig unwichtig" ("Die geheimen Verführer", Düsseldorf 1958, S. 223).

5. Aus all diesen Gründen erscheint der entgegengesetzte Ansatz fruchtbarer. Wir analysieren in der politischen Bildung in direktem Zugriff politische Konflikte. Die Reflexion über unmittelbare Erfahrungen aus dem privaten Leben bezieht sich dann auf die in den politischen Räumen gefundenen Ergebnisse. Damit rücken auch die unmittelbaren Erfahrungen selbst in ein anderes Licht. Sie werden angesichts der Andersartigkeit der politischen Einsichten deutlicher und bewußter und dadurch auch für das Denken der Jugendlichen interessanter. Erst in einer solchen Distanz können unmittelbare Erlebnisse überhaupt zu Erfahrungen gewendet werden.

Der didaktische Aufbau des politischen Unterrichts

Aufgrund der bisherigen Überlegungen können wir nun in idealtypischer Weise einen didaktischen Aufbau des politischen Unterrichts konstruieren.

1. Eine tatsächliche politische Kontroverse, zum Beispiel die Spiegel-Kontroverse, wird als Einstieg erörtert. Dabei kommt es vor allem darauf an, durch die Kenntnisse und Meinungen der am Unterricht Beteiligten schon einen ersten Eindruck von der Vielschichtigkeit des Problems zu gewinnen. Optimale Unterrichtsform ist hier das Gespräch.

2. Anwendung der in Leitfragen umgewandelten Kategorien auf den Gegenstand = Mobilisierung des Bildungs-

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und Orientierungswissens zum Aktionswissen. Optimale Unterrichtsform: Unterrichtsgespräch.

3. Zusammenhängende Darstellung des von den verschiedenen Leitfragen her erworbenen Wissens = Neustrukturierung des angesprochenen Orientierungs- und Bildungswissens. Optimale Unterrichtsform: Lehrervortrag, je nach Situation unterstützt von Schülervorträgen.

4. Rückgang auf den Einstieg: Vertiefte Beurteilung aufgrund des neuerworbenen Wissens = Wiederholung dieses Wissens unter neuem Aspekt. Optimale Unterrichtsform: Unterrichtsgespräch.

5. Umwandlung der Leitfragen in Grundeinsichten = neue Bezugspunkte für das Orientierungswissen. Optimale Unterrichtsform: Lehrervortrag.

6. Anwendung der aus den Leitfragen gewonnenen Einsichten auf unmittelbare menschliche Verhältnisse des jugendlichen Erfahrungshorizontes = Wiederholung der formalen Einsichten unter neuem Aspekt. Optimale Unterrichtsform: Gespräch.

7. Vergleich der Leitfragen und ihrer sachlichen und wertmaterialen Ergebnisse. Optimale Unterrichtsform: die Diskussion.

8. Rückgang auf den Einstieg: Willens- und Urteilsbildung aufgrund der materialen Kenntnisse und formalen Einsichten. Optimale Unterrichtsform: die Diskussion.
 
 

Aus diesem Aufbau ergibt sich, daß der Ort der politischen Diskussion erst auf der siebten und achten Stufe anzusetzen ist. Bis dahin hat der Lehrende immer einen gewissen sachlichen Vorsprung, da es zunächst vor allem um den Gesichtspunkt der Kenntnisse und des Wissens geht. Dann aber fällt dem Lehrenden eine neue Rolle zu. Sein sachlicher Vorsprung ist zu Ende, und in dem Maße, wie der irrationale Raum politischer Entscheidungen sich öffnet, gilt seine Meinung nicht mehr als die seiner Schüler. Auf dieser Ebene vor allem entscheidet sich, ob aus der Beschäftigung mit politischen Aktualitäten politische Propaganda wird oder die Zone eigener Entscheidungen respektiert wird.

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Welche Probleme löst das Modell?

Mit diesem Modell scheint uns folgendes erreichbar zu sein:

1. Das Unterrichtsinteresse der Jugendlichen wird durch das Aufgreifen aktueller Streitfragen geweckt. Das Politische selbst, so wie es sich in der politischen Gemeinschaft abspielt, wird Gegenstand des Unterrichts. So werden die Jugendlichen von den Erwachsenen ins Vertrauen gezogen. Sie werden nicht mit Problemen aus zweiter Hand abgefertigt.

2. Die Jugendlichen erhalten Gelegenheit, ihre außerhalb der Schule gewonnenen Erfahrungen und Meinungen in den Unterricht einzubringen. Diese werden durch die Dominanz der unterrichtlichen Gesprächsformen ernst genommen und dennoch durch die Anwendung übergreifender Kategorien objektiviert, das heißt zu einer zweiten Erfahrung gewendet.

3. Die kategoriale Durchdringung der politischen Stoffe leistet eine Versöhnung zwischen der prinzipiellen Offenheit und Unstrukturiertheit des Gegenstandes, den zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Erkenntnissen und der subjektiven Befindlichkeit der Jugendlichen. Der hierbei zustande gekommene Kompromiß kann angesichts der politischen Wirklichkeit zwar nicht als "richtig", wohl aber als "angemessen" bezeichnet werden.

4. Unser Vorschlag enthält einen Sinn des politischen Lernens: die Ausbildung einer politischen Bewußtheit, die sich der konkreten Lösung politisch-gesellschaftlicher Streitfragen zugeordnet weiß. Die politische Verantwortung der Jugendlichen wird aus der abstrakten Appellation in die Disziplinierung der konkreten Denk-, Urteils- und Entscheidungsvorgänge selbst gewendet.

5. Unser Vorschlag nimmt den politischen Aktivitätsgehalt des politischen Denkens ernst, läßt aber gleichzeitig andere Möglichkeiten der politischen Beteiligung offen und präzisiert sie beim jeweiligen politischen Gegenstand.

6. Unser Vorschlag politisiert nicht die Bildungsgehalte, setzt ihre relative Autonomie gegenüber dem Politischen

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vielmehr voraus und macht es möglich, deren normative Ansprüche im konkreten politischen Prozeß zu identifizieren.

7. Unser Vorschlag bringt den Sinn des politischen Lernens in einen Unterrichtszusammenhang, der die jugendliche Erfahrungswelt mit der dem Umgang nicht mehr zugänglichen Dimension des Politischen einsichtig integriert.

8. Unsere Kategorien integrieren das, was wir zunächst als Bildungswissen, Orientierungswissen und politische Verhaltensweisen unterschieden haben, zu einer neuen Einheit, ohne die darin beschlossenen Mehrdeutigkeiten zu Eindeutigkeiten zu verfälschen. So erhält das, was wir zunächst nur formal als Aktionswissen bezeichnet haben, eine inhaltliche Struktur und ein Orientierungsgefüge.

Folgerungen für die Methodik des politischen Unterrichts

Wie überall im Verhältnis von Didaktik und Methodik, so ist auch hier das didaktische Modell nicht einfach in die Unterrichtspraxis übersetzbar: Es ist kein Rezept für die je konkrete Unterrichtsgestaltung, sondern nur ein theoretischer Gesamthorizont, der erst gute methodische Einfälle hervorrufen kann. Dennoch schränkt unser Modell natürlich den methodischen Spielraum in gewisser Weise ein, oder besser gesagt: es legt die Bevorzugung bestimmter Methoden nahe. Da "Methodik des politischen Unterrichts" nicht zu den Aufgaben dieses Buches gehört, beschränken wir uns hierzu auf einige Thesen.

1. Unser didaktisches Modell legt die Bevorzugung von Unterrichtsprojekten nahe, die sich an wichtige, auch den Jugendlichen interessierende politische Kontroversen anschließen. Innerhalb eines solchen Projektes könnten alle Ebenen des politischen Wissens zu ihrem Recht kommen, ohne daß sie aus systematischen Gründen allzusehr voneinander isoliert würden. Da man in der Schule nur einige

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wenige Projekte innerhalb eines Jahres durchführen könnte, behielte man die Chance, dafür auch die wichtigsten politischen Kontroversen zugrunde zu legen.

2. Die herkömmliche Weise, den Stoff von Jahrgang zu Jahrgang im Sinne des Lehrgangs zu schichten und damit auch irgendwie zu systematisieren, müßte ergänzt werden. Mit diesem Verfahren allein würde man den Gegenstand Politik bedenklich verfälschen. Innerhalb eines Projektes allerdings hätte diese Methode bei der Erarbeitung des Orientierungswissens durchaus ihren Sinn. Wenn Politik lediglich in der schulischen Weise des Lehrgangs gelehrt wird, erweckt das in den Schülern - gewollt oder ungewollt - die Vorstellung, als ob sich ihnen im Laufe der Jahre die politische Welt systematisch erschließe und ihnen damit fertig "zuhanden" werde. Sosehr die schulische Planung vielleicht auf dieser Unterrichtsorganisation bestehen muß, so sehr muß im Blick bleiben, daß damit die politische Welt vorfabriziert wird, daß damit ein Zusammenhang gestiftet wird, der nur deshalb existiert, weil er so und nicht anders hergestellt wurde. Die Methode des Unterrichtens schafft also eine Art zweiter Wirklichkeit. Politik ist aber eine zu ernste Sache, als daß es gleichgültig bleiben könnte, inwieweit diese zweite Wirklichkeit ihrem Original entspricht.

3. Damit taucht nun aber die Frage auf, ob man dann überhaupt noch Lehrpläne für die auf Langfristigkeit angelegten Schulen schaffen könne. Politische Kontroversen können ja nicht im voraus von den Kultusministerien berechnet werden. Ich glaube in der Tat, daß man für den politischen Unterricht Stoffpläne nicht mehr für Jahresklassen, sondern allenfalls noch für mehrere Jahre zusammen aufstellen kann. Man könnte zum Beispiel festlegen, daß die vier Systeme des Orientierungswissens im ganzen Zeitraum der Volksschuloberstufe zu behandeln seien.

Damit geraten die Schulen natürlich in eine gewisse Verlegenheit. Einerseits sind sie auf eine über Jahre hinaus geplante Unterrichtsorganisation angewiesen, also auf Lehrgänge. Andererseits müssen sie sich nun sagen lassen,

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daß sie auf diese Weise das Politische nicht angemessen lehren können. Einerseits fürchten sie den sozialkundlichen Wissenspositivismus und suchen ihn durch allerhand Fracht aus der Bildungsideologie aufzuwerten. Dadurch erst, so haben wir gesehen, wird aber der Positivismus problematisch, denn nun kann er unerkannt und unangefochten im Schafspelz der Bildung einherschreiten. Andererseits würde eine Organisation der Stoffe von politischen Konflikten her, wie wir es vorschlagen, kaum lösbare schulorganisatorische Schwierigkeiten heraufbeschwören - von den bildungsideologischen Einwänden ganz zu schweigen.

Vielleicht könnte die Lösung lehrplantechnisch so aussehen, daß man zwischen zwei verschiedenen Unterrichtsveranstaltungen unterscheidet. Einmal würde es weiterhin um fachgebundenen Geschichts- und Sozialkundeunterricht gehen, für den es Lehrgänge und Stoffpläne gibt, zum Beispiel auf der Grundlage der vier Systeme des Orientierungswissens. Darüber hinaus aber könnte man eine Unterrichtsveranstaltung einrichten, die man vielleicht am besten "Politische Arbeitsgemeinschaft" nennt. Lehrgangsgerecht im Sinne des Fachunterrichts wäre ein Thema wie "Die westlichen und östlichen Bündnissysteme". Ein vergleichbares Thema für die Arbeitsgemeinschaft würde dann etwa "Der Krieg in Vietnam" lauten. Bei einem solchen Thema - aber keineswegs bei dem anderen - wäre all das nötig, was bei den Überlegungen zur Fächerkombination eine Rolle gespielt hat: Hier ist die Sache tatsächlich ein fächerübergreifender Gehalt; hier verlangt die Sache, daß möglichst mehrere Lehrer gemeinsam unterrichten, weil die fachliche Zuständigkeit des einzelnen begrenzt ist; hier verlangt die Sache nicht mehr nur logisch-systematisches Denken wie beim fachgebundenen Lehrgang, sondern mehr ein komplex-operatives, also problemorientiertes Denken.

Was also in unserem didaktischen Modell als ein Zugleich von Bildungs-, Orientierungs- und Aktionswissen erscheint, läßt sich bis zu einem gewissen Grade durchaus auf verschiedene Unterrichtsveranstaltungen wieder auf-

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teilen. Eine solche Unterscheidung zwischen "Fachunterricht" und "Arbeitsgemeinschaft" wäre auch aus einem weiteren Grunde gerade in den Schulen zwingend notwendig. Im Fachunterricht herrscht ein unbestreitbares Kompetenzgefälle vom Lehrer zum Schüler. Im Verhältnis zum Politischen spielt dieses Gefälle aber keine entscheidende, sondern nur noch eine partielle Rolle: Die Fachkenntnis eines Lehrers wird hier in Dienst genommen für die Lösung eines alle gemeinsam betreffenden Problems. Pathetischer ausgedrückt: Angesichts eines drohenden Atomkrieges sind alle Menschen gleich. Die Sache Politik verlangt also einen anderen Unterrichtsstil als die Sache eines die Politik betreffenden Faches in der Schule. Nur wenn dieser Unterschied schon in der Veranstaltungsform deutlich wird, kann der Lehrer sicher gehen, daß seine Schüler sein fachliches Wissen und sein politisches Engagement zu trennen vermögen.

"Aufhänger", "Illustrationen" und "Einstiege"

Ein politischer Konflikt ist der geeignete Einstieg für den politischen Unterricht, so hieß es bei unserem didaktischen Modell. Aber das ist noch zu ungenau gesagt. Man kann nämlich die Spiegel-Kontroverse nicht zum Gegenstand des Unterrichts machen, ohne daß sie vorher dafür präpariert worden wäre. Man kann zwar von den Meinungen einer Schulklasse, von einem Referat, von einem Fernsehfilm, von einem Leitartikel oder von einer Dokumentation ausgehen - also von Bearbeitungen eines politischen Ereignisses - , aber niemals von diesem Ereignis als solchem. Bisher haben wir gesagt, ein politischer Konflikt sei ein Einstieg für den politischen Unterricht; nun müssen wir präziser definieren: "Einstieg" ist eine Bearbeitung eines politischen Konfliktes zum Zwecke des Lernens und der Unterrichtung. Mit dieser Definition grenzen wir den Einstieg vom "Aufhänger" einerseits und von der "Illustration" andererseits ab.

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Der "Aufhänger" täuscht die Lernenden: Man will etwas bestimmtes lehren, weiß aber, daß die Jugendlichen daran nicht interessiert sind. Also greift man zu einem Stoff, der mit dem, was man unterrichten will, zwar nicht viel zu tun hat, aber das Interesse der Jugendlichen trifft ("Film zieht immer ..."). Wenn der Aufhänger dann das Interesse gebührend mobilisiert hat, geht man zum "Eigentlichen" über, in der Hoffnung, daß das mobilisierte Interesse diesen Übergang mitvollziehe. Auf diese Weise nimmt der Pädagoge weder das Interesse der Jugendlichen ernst, noch die Sache, der das Interesse gilt. Er verhindert damit etwas, was er eigentlich vermitteln sollte: eine kulturelle Erfahrung.

Die "Illustration" hingegen dient innerhalb eines Unterrichtsganges der Veranschaulichung komplizierter Sachverhalte und Gedankengänge. So kann etwa die Spiegel-Affäre bestimmte Stoffe eines verfassungspolitischen Lehrgangs verdeutlichen. Die Spiegel-Affäre kann also einmal dazu dienen, einen systematisierten Stoff zu veranschaulichen; dann ist sie Illustration und wird nur insofern herangezogen, als sie bestimmte Stoffe erklären soll. Oder sie ist selbst Ausgangspunkt des Unterrichts, dann hat umgekehrt ein eingeschobener Lehrgang über verfassungspolitische Fragen die Funktion, bestimmte Aspekte dieses Konfliktes zu erklären; in diesem Falle ist die Spiegel-Affäre ein Einstieg.

Wenn also nach unserer Definition der Einstieg die Bearbeitung eines politischen Konfliktes zum Zwecke des Lernens ist und wenn andererseits das Politische eine "Implikation aller Seinsbereiche" ist, dann folgt daraus, daß es niemals nur einen einzigen Einstieg für einen bestimmten politischen Konflikt gibt. Hier findet vielmehr der Lehrer von der Sache selbst her einen gewissen Spielraum vor. Selbst bei einem Ereignis wie der Spiegel-Affäre, das sich verhältnismäßig leicht didaktisch bearbeiten läßt, ist immer noch die Frage, ob als Einstieg eine Dokumentation oder ein Leitartikel geeignet ist. Noch schwieriger wird die Aufgabe für den Didaktiker, wenn er einen

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kulturellen Einstieg wählt, zum Beispiel einen Spielfilm. Jetzt muß er nämlich außer an die politischen noch an die immanenten ästhetischen Kategorien denken. Versäumt er das, so degradiert er seinen Film von vornherein zum "Aufhänger".

Der beste Einstieg ist derjenige, bei dem nach Möglichkeit viele der im folgenden angeführten Kriterien zusammentreffen:

1. Er muß vom Gehalt und von der sprachlichen und ästhetischen Form her so gut sein, daß es sich von der Sache her lohnt, sich mit ihm zu beschäftigen. Banale Texte, formal schlechte Filme sind immer auch schlechte Einstiege. Sie üben nur einen vordergründigen Reiz aus, bald aber sinkt das Interesse in sich zusammen, und man muß in neue Einstiege flüchten. Lohnende Einstiege sind also entweder Konflikte, von deren Lösung etwas abhängt, oder aber ästhetisch anspruchsvolle Produkte.

2. Der Einstieg muß spontan interessieren, sonst wird auch meistens für seine Ausdeutung kein Interesse zu gewinnen sein.

3. Er muß überschaubar bleiben; er darf nicht so umfangreich sein, daß er nicht mehr als Ganzes im Blick bzw. in der Vorstellung behalten werden kann. Wenn der Unterrichtsgang komplizierter wird, muß der Rückgang auf den Einstieg immer wieder den Zusammenhang herstellen, dem Komplizierten seinen Ort zuweisen können.

4. Er muß unvollständig, "imperfekt" sein, nur dann bietet er genug Anreiz, ihn so vollständig wie möglich zu machen. Eine gute graphische Darstellung über "Die Gewaltenteilung in der Bundesrepublik" ist ein schlechter Einstieg für die Spiegel-Affäre, weil sie die Suche nach dem Zusammenhang mit einer gewissen Perfektion vorwegnimmt. Sie wäre als Illustration erst im Verlaufe des Unterrichtsganges nützlich. Die Unvollständigkeit des Einstiegs ist kein pädagogischer Trick, sondern der Sache angemessen: Politische Informationen erreichen uns immer diffus und unvollständig. Wenn wir im politischen Unterricht vernünftige Urteilsbildung üben wollen, dann muß

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man diese Normalsituation auch zum Ausgangspunkt des Unterrichts machen.

5. Der Einstieg muß verfremden; wenn er im Vergleich zu dem, was man sowieso schon denkt, meint und fühlt, nichts Ungewöhnliches und Neues enthält, kann er nur schwerlich auch zu neuen Erfahrungen führen.

6. Ein Einstieg, der verfremdet, ruft immer auch vorgefaßte Meinungen und Urteile, vielleicht sogar regelrechte Vorurteile hervor. Einstieg ist also niemals nur die Sache, sondern auch das Bündel an Vorurteilen und Affekten, das er hervorlockt. Wenn es also Ziel des politischen Unterrichtes ist, den Einstieg zu entfalten, auszufüllen und zu erklären, so gilt das auch für seine subjektiven Momente: auch sie sind Stoff des weiteren Unterrichts.

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 URL des Dokuments: : http://www.hermann-giesecke.de/poldi2.htm

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