Hermann Giesecke


Die Tagung als Stätte politischer Jugendbildung

Ein Beitrag zur Didaktik der außerschulischen Politischen Bildung

Diss. Kiel 1964 (Phil. Fak.)

IV. Teil:
Zusammenfassung und Ausblick: Hilfen der politischen Didaktik für die Tagungssituation

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© Hermann Giesecke

Zu dieser Edition:
Meine Dissertation mußte damals nicht gedruckt, sondern der Fakultät lediglich in einer Reihe von Kopien der maschinenschriftlichen Fassung  übergeben werden.  Aus dem Material entstanden  zwei Publikationen: Didaktik der politischen Bildung (München 1965) und Politische Bildung in der Jugendarbeit (München 1966). Die Dissertation habe ich teilweise bereits während meiner Tätigkeit im Jugendhof Steinkimmen (1960 - 1963) verfasst, deshalb spiegelt sie die aus dieser Arbeit erwachsenen pädagogischen Erfahrungen und Urteile unmittelbarer wider als die beiden Publikationen,  in die  Ergebnisse weiterer Diskussionen und zusätzliche Reflexionen aus größerer zeitlicher Distanz eingegangen sind.
Offensichtliche Tippfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurde das Original jedoch nicht verändert. Im Original befinden sich die Fußnoten - nach Kapiteln gezählt - auf der jeweiligen Textseite; für diese Edition wurden sie an den Schluß des jeweiligen Kapitels gesetzt, die ursprüngliche Numerierung wurde beibehalten.
Die Edition ist vollständig, es fehlen lediglich das Deckblatt und der übliche Lebenslauf.
Um die Zitierfähigkeit zu gewährleisten,  wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.
Über den damaligen politisch-pädagogischen Hintergrund finden sich nähere  Angaben in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen. (H. Giesecke, März 2003)
 


 
 

IV. Teil: Zusammenfassung und Ausblick: Hilfen der politischen Didaktik für die Tagungssituation


Aufgabe einer pädagogischen Theorie ist letztlich, eine pädagogische Praxis wissenschaftlich zu klären, ihre Bedingungen aufzuhellen, ihr So-Sein verständlich zu machen, das Verhältnis von Mittel und Zielen zu überprüfen und am Ende Hypothesen zu entwickeln, die als neue Ansprüche auf eben diese Praxis zurückwirken können. Diesen Anspruch wollten wir auch an unsere eigene Untersuchung stellen. Deshalb soll die folgende Zusammenfassung auch mehr sein als eine bloße Summierung des bisher schon Gesagten. Wir wollen vielmehr einige uns wichtig erscheinende Ergebnisse unserer Untersuchung noch einmal in einem neuen Zusammenhang aufgreifen, indem wir den Blick nun endgültig von unserem eigenen Erfahrungsmaterial auf einen größeren pädagogischen Zusammenhang richten. Zwei Problemkomplexe werden dabei noch einmal aufgegriffen:
1) Welche unserer Tagungserfahrungen können verallgemeinert werden?
2) Welche didaktischen Einsichten dürfen verallgemeinert werden?

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13. Kap.: Die spezifische Unterrichtssituation: Aspekte einer pädagogischen Theorie der Tagung

1) Tagung als "experimentelle Gesellungsform"

Die Tagung ist eine erzieherische Gesellungsform. Jugendliche und Erwachsene gehen freiwillig, auf Zeit und an ein und demselben Ort eine pädagogisch bestimmte Gesellung miteinander ein. Sie ist pädagogisch schon allein dadurch, daß sie selbst erziehende Wirkungen hat, die sich nicht allein aus der Inhaltlichkeit ableiten lassen. Diese Wirkungen kommen vor allem durch die besondere Sozialsituation zustande. Auf der einen Seite ermöglicht die geringe Zahl der Teilnehmer eine intime Sozialform wie die der "Gemeinschaft". Auf der anderen Seite sind die Partner einander zunächst nicht bekannt und deshalb auf eine distanziertere, "gesellschaftliche" Kommunikation miteinander angewiesen. Daher ist eine jede Tagung durch die Abgestuftheit der Sozialbeziehungen bestimmt. Wenn man nun die ohnehin schon vorhandenen Bedingungen der Tagungssituation durch weitere, pädagogisch intendierte, ergänzt, kann die Tagung noch stärker zum Ort eines vielgestaltigen "social-lerning" werden.
Soziales Lernen hat wie jedes Lernen zur Voraussetzung, daß Fehler gemacht werden dürfen. Die Möglichkeit, Fehler zu machen, hängt entscheidend davon ab, welche Folgen daraus erwachsen können. Im Alltag haben Meinungen und Verhalten oft weitreichende Folgen. Dafür sorgen vor allem die "Rollenerwartungen" der täglichen sozialen Umgebung. Sie dulden nur einen sehr beschränkten Spielraum. Die Tagung hat die Möglichkeit, diesen Freiheitsspielraum erheblich zu erweitern.
Darin liegt die besondere pädagogische Chance der Tagung. Sie erlaubt, sich von dem Konformitätsdruck der alltäglichen Rollen zu "verfremden", indem man die dazu gehörigen Verhaltensweisen und Meinungen

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"experimentell in Frage stellt". Wie notwendig eine gesellschaftlich anerkannte Möglichkeit dieser Art ist, geht aus den Zusammenhängen von Rollenverhalten, Freiheit, Individualität, Urteilskraft und Einfühlung hervor, wie sie Mitscherlich dargestellt hat. (1) Wie sehr schon die Zugehörigkeit zu einer festen Gruppe Erfahrung und Erkennen beschränkt, konnten wir im Vergleich zu unseren Klassentagungen aufzeigen. In diesem pädagogischen Verständnis käme der Tagung also nicht die Aufgabe zu, die Teilnehmer zum Austritt aus ihren Rollen zu ermuntern - was nach Mitscherlich dem Verlust ihrer Ich-Findung gleichkäme. Vielmehr käme es darauf an, neue Denk- und Verhaltenserfahrungen machen zu lassen, deren Voraussetzung eben eine Situation ist, die nicht ständig zu rollenkonformem Verhalten zwingt.
Eine große Gefahr, die eine pädagogische Tagungsplanung abstellen müßte, liegt darin, daß der Konformitätsdruck der Öffentlichkeit in die Tagung selbst hineingerät. Dies geschieht immer dann, wenn Tagungsergebnisse veröffentlicht werden. Sobald nicht mehr sicher ist, daß das, was in einer Tagung gesagt oder getan wird, nicht "veröffentlicht" wird, kann niemand mehr "experimentieren" - am wenigsten der, der eine besonders hohe und daher angreifbare gesellschaftliche Position einnimmt.
Nun sind gerade die freien Träger der Jugend- und Erwachsenenbildung immer wieder gezwungen, aus Gründen der gesellschaftlichen Reputation Tagungen zu "Repräsentativveranstaltungen" mit einem hohen Öffentlichkeitsgrad für alle Beteiligten zu machen. Wo aber solche Veranstaltungsformen dominant werden, gehen die besonderen pädagogischen Möglichkeiten notwendig verloren. Es empfiehlt sich, zwischen einer derart "gesellschaftlich" und einer "pädagogisch" motivierten und gestalteten Tagung deutlich zu unterscheiden. Denn selbstverständlich greift dieser Zusammenhang auch tief in die Planung einer

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Tagung ein. Eine Tagung ist dann besonders "repräsentativ", wenn sie Referenten mit klingendem Namen aufweist, die möglichst "universiätsnahe" Vorlesungen halten. Ob mit dieser Art der Darbietung den Teilnehmern gedient sei, darf unter diesem Aspekt schon gar nicht mehr gefragt werden. Was von den kulturkritischen Autoren wie Karl Korn mit dem Ausdruck des "Tagungsrummels" zu Recht bemängelt wird, hat in der zunehmenden Vergesellschaftung der Tagung seine Ursache. Viele freien Bildungsstätten, die in den ersten Jähren der Nachkriegszeit dadurch Aufsehen erregten, daß sie das Durchexperimentieren von Meinungen zum Programm erhoben hatten, sind nicht zuletzt dadurch in den letzten Jahren bedeutungslos geworden, daß sie den Widerspruch von pädagogischer und gesellschaftlicher Intention ihrer Tätigkeit nicht wahrhaben wollten und ihre prominenten Gäste sich schließlich nicht mehr erlauben konnten, von der "Öffentlichkeit" unermüdlich "mißverstanden" zu werden. Oder aber Politiker nutzten in nüchterner Einschätzung der besonderen Öffentlichkeitssituation die Tagung zur Abgabe halboffizieller "statements" aus, die gar nicht im Hinblick auf die anwesenden Zuhörer und Gesprächspartner, sondern im Hinblick auf die nicht-anwesende "Öffentlichkeit" formuliert wurden, womit von vornherein ein Moment der Täuschung in das Gespräch eindrang.
Selbstverständlich kann es nicht darum gehen, Öffentlichkeits-Tagungen abzuschaffen. Sie sind schon allein deshalb unersetzlich, weil von der Intensität der Öffentlichkeitsarbeit ja letztlich auch der Besuch der übrigen Veranstaltungen abhängt. Es geht vielmehr um eine Trennung. Der "Erfolg" einer Öffentlichkeits-Tagung hängt davon ab, wie konsequent Maßstäbe der public-relations angewandt werden. Der "Erfolg" einer pädagogisch durchdachten und geplanten Tagung hängt dagegen von ganz anderen Kriterien ab,

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2. Bildung als Kommunikation

Eine inhaltliche Zielsetzung ist zwar Ursache der Entstehung einer Tagung, nicht aber Richtschnur für ihren Verlauf oder gar Erfolg. In der Tagung wird das Programm ausschließlich von der Art und Weise der Kommunikation der Anwesenden bestimmt. Die "Sache", zu deren Behandlung die Tagung dienen soll, ist nur insofern gegenwärtig, als sie sich in den Anwesenden repräsentiert und in der Kommunikation realisiert und sozialisiert. Dies, so wird man einwenden, gelte ja doch für jede Form der Unterrichtung. Für die Tagung kommt aber das hohe Maß an subjektiver Beliebigkeit hinzu, mit der mit den Inhalten verfahren worden kann.
Weder Lehrplanmaximen, noch andere äußere Ansprüche beeinflussen diese Beliebigkeit. Die im engeren Sinne unterrichtlichen Teile der Tagung machen in jedem Falle nur einen Teil der Kommunikationsinhalte aus. Tagungen kann man also nur unter einem weitgefaßten thematischen Oberbegriff veranstalten, präzise Themenstellungen kennzeichnen hingegen den "Lehrgang". (2)
Unsere traditionellen Erziehungsverhältnisse, insbesondere Familie und Schule, sind dadurch gekennzeichnet, daß sie auf der möglichst stetigen Einflußnahme weniger Erwachsener auf die Jugendlichen beruhen. Die Freizeitpädagogik im allgemeinen und die Tagungspädagogik im besonderen schaffen auch in diesem Punkte eine neue Lage. Sie haben unzweifelhaft zur Folge, daß die Zahl der Personen, mit denen der Jugendliche erziehenden Kontakt hat, erheblich zunimmt, wodurch unter anderem die Intensität der jeweiligen Lehrkontakte notwendigerweise abnimmt. Diese neue Lage birgt erhebliche Gefahren

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in sich, die schon das Wort "Kontakt" zum Ausdruck bringt. Das Maß an Flüchtigkeit und Unverbindlichkeit, das diese Bezeichnung verrät, wird sich von den Personen auch auf die Werte und Ansprüche übertragen, die durch sie repräsentiert werden . Man muß aber auch die neuen Chancen sehen. Niemand könnte heute mehr von sich sagen, das, was er an Kenntnissen, Erfahrungen und Wertvorstellungen zu bieten habe, sei für den Jugendlichen ausreichend. Die Flüchtigkeit und Unverbindlichkeit der neuen Beziehung ermöglicht auch größere Distanz, ein breiteres Feld der Aspekte, ein neues Maß an Selbstbewußtsein gegenüber den angebotenen Lebenszielen. Ist es überspitzt, daraus die Hypothese abzuleiten, daß das Niveau der jugendlichen Bildung unter anderem davon abhängen wird, wie vielen Personen - vor allem erwachsenen Personen - er in einem erzieherischen Sinne "begegnen" wird? Sicher muß es sich um Personen handeln, die ihm in irgendeinem Sinne "etwas bedeuten". Aber ein Student etwa, der auf Grund seiner "mangelhaften pädagogischen Ausbildung" an keiner Schule selbständig unterrichten dürfte, kann dennoch aus Gründen, die sich kaum erklären lassen, eine solche Bedeutung für Jugendliche gewinnen - ein Phänomen, das nicht an sich, sondern nur seinem Umfang nach neu ist. Die oft vernehmbare Klage von Eltern, sie könnten den Umgang ihrer Kinder nicht mehr kontrollieren, verweist auf denselben Tatbestand, daß nämlich unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen die Freizeit der Jugendlichen - und damit eben auch ihre Kommunikationen - prinzipiell nicht mehr lückenlos zu kontrollieren sind. Diese Verlegenheit ist zugleich eine Chance, wenn es gelingt, das zweifellos vorhandene Bedürfnis der Jugendlichen nach Begegnung mit vielen und verschiedenen Menschen unter pädagogischen Gesichtspunkten zu ermöglichen. Die Tagung ist eine solche Gelegenheit.

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3. Tagung als Variante der "pädagogischen Provinz"

Damit wird die Tagung zu einer spezifischen Bildungssituation, die sich von anderen Bildungsgesellungen, wie Schule oder Industriebetrieb, unterscheidet. Ihre allgemeinen und besonderen Bedingungen rufen besondere Chancen, aber auch Grenzen hervor. Die Chancen sind in einer besonderen Lernmotivation zu sehen sowie im Nichtfestgelegtsein des pädagogischen Umgangs; die Grenzen betreffen vor allem die unterrichtlichen Möglichkeiten.
Tagung angesichts dieser Besonderheiten ist eine Variante der "pädagogischen Provinz". Sie reicht zwar allenthalben durch die politische Repräsentanz des Trägers und die Vorstellungen, Motive und Erwartungen der Mitarbeiter und Teilnehmer in die konkreten Dimensionen der Gesellschaft hinein, und auch ihre Zielsetzungen sind ohne Reflexion auf diese Gesellschaft hin nicht vernünftig zu ermitteln,  dennoch stellt sie eine besondere, von direkten gesellschaftlichen Ansprüchen relativ freie Bildungsgemeinschaft dar. Sie vermag innerhalb des Gefüges der intentionalen und funktionalen Erziehungsfaktoren sich eine eigene Position zu setzen, wenngleich sie natürlich von den übrigen Erziehungsfaktoren nicht absehen kenn. Theorie der Tagung ist also notwendig partiell. Innerhalb der vorgegebenen objektiven Bedingungen wird sie ihre Möglichkeiten so strukturieren, daß sie keinen der anderen Erziehungsfaktoren einfach dupliziert, sondern deren Defizite zur eigenen Aufgabe erklärt. Kritik sowohl des individuellen Selbstverständnisses - die durch die Folgenlosigkeit der Tagung erleichtert wird - wie auch der konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen gelebt werden muß und von denen eine kritische Selbstbetrachtung nicht mehr absehen kann, wird zum Kristallisationspunkt der erzieherischen Einflüsse und Beziehungen auf der Tagung.

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Implizit ist damit auch schon gesagt, daß eine pädagogische Theorie der Tagung die Existenz und das reale So-Sein der übrigen Faktoren voraussetzt, sie weder beseitigen noch durch eine pädagogische Reformtheorie überhöhen oder verändern will. Augenblicklich würde sie ideologisch, wenn sie ihr partikulares Selbstverständnis aufgäbe. Die Theorie der Tagung setzt so den bestehenden Schulunterricht ebenso voraus wie die reale Existenz gesellschaftlicher Mächte. Die "pädagogische Provinz" der Tagung orientiert sich also am konkreten gesellschaftlichen Dasein ihrer Mitwirkenden, sie prägt keinen eigenen Lebensstil, der dem des Alltags entgegengesetzt würde. Sie kann aber versuchen - wie wir es im Kapitel über das Lehrer-Schüler-Verhältnis dargestellt haben - die im modernen Dasein angelegte Mehrdimensionalität des Rollenverhaltens für eine kurze Zeit so zu verdichten, daß nicht nur ihre je subjektive Integration, sondern zugleich auch die Distanz zu ihnen erlebbar und bedenkbar wird. Der eigentümliche Lebensstil der Tagung ist u.a. Mittel der Distanzierung vom Alltag, aber nur um ihn selber kritischer bedenken zu können. Er ermöglicht die "Distanz von der Unmittelbarkeit des Daseins" (Mannheim). Die pädagogische Aufgabe des jeweiligen Trägers wäre, diese pädagogische Provinz gegen unangemessene gesellschaftliche Ansprüche zu garantieren.
A. Flitner hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß eine eigenständige Jugendphase gerade unter dem Aspekt des relativen Freiseins von gesellschaftlichen Ansprüchen erzieherisch unabdingbar sei. (3) In einer Gesellschaft aber mit hoher vertikaler Mobilität, in der unter dem Begriff der Erwachsenenbildung die Forderung nach permanenter Erziehung und Selbsterziehung mit Recht erhoben wird, muß

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Flitners Forderung sinngemäß auch für das Erwachsenendasein gelten. Auch der Erwachsene braucht Felder des "sozialen Unterdrucks", um sich von der Unmittelbarkeit des alltäglichen Daseins produktiv verfremden zu können.

4. Der philosophische Gehalt des Gesprächs

In einem prägnanten Sinne ist Tagung eine philosophische Bildungsgesellung auf Zeit, insofern sie nämlich weniger neue Kenntnisse, Stoffe und Techniken anbietet - was von den
übrigen Erziehungsfaktoren viel sinnvoller und nachhaltiger bewirkt werden kann - als vielmehr die vorhandenen konkreten Erfahrungen, Kenntnisse, Informationen, Meinungen und Urteile auf ihren Grund, ihre Ursache und Zusammenhange hin befragt und sie so mit neuen subjektiven Bedeutsamkeiten zu versehen sucht. Der philosophierende Stil der Kommunikation spiegelt sich insbesondere in den mannigfachen Gesprächsformen wider. Das entscheidende Unterrichtsergebnis der Tagung - die Mehrdeutigkeiten der Erscheinungen und Werte zu einer vorläufigen Entscheidung zu integrieren - ist nicht dadurch zu gewinnen, daß der Lehrende durch Fragen das jugendliche Denken auf einen vorweg bekannten und gewissen Wertinhalt hin aktiviert. Wo aber die Inhalte grundsätzlich ungewiß sind, hat nur das Gespräch zwischen gleichgestellten Partnern einen methodischen Sinn. Die Kategorien, die wir zu entwickeln versuchten, bieten dabei nicht mehr als eine Art Meilensteine des Gesprächshorizontes, die den Gesprächsverlauf aber niemals eindeutig vorherbestimmen können.

5. Der Zusammenhang von Lerninhalt und Lernsituation

Im ersten Teil unserer Untersuchung ging es zunächst um die spezifische Unterrichtssituation der Tagung; wir lösten sie in einzelne Faktoren auf, deren Beitrag zum konkreten Unterrichtsgeschehen im einzelnen dargestellt wurde. Der Inhalt des Politischen selbst spielte dabei noch keine Rolle. Dennoch wur-

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de er, wie wir nachzuweisen versuchten, durch diese Faktoren wesentlich mitbestimmt: Durch die Organisationsstruktur, die zur Verfügung stehenden technischen und finanziellen Mittel, den Habitus und das Gruppenbewußtsein der Mitarbeiter, den Habitus und die Erwartungen der Teilnehmer, die objektiven und subjektiven Freizeitbedingungen der Tagung und nicht zuletzt durch die Art und Weise, wie die Mitarbeiter dann diese Bedingungen intentional zusammenfügten. All dies machte die "Unterrichtssituation Tagung" aus. Obwohl die Lehrinhalte des Politischen auf dieser Ebene der Erörterung noch gar nicht zur Debatte standen, waren sie schon weitgehend vorgeprägt, objektiv etwa durch das Bewußtsein der Vermittelnden und die pädagogische Traditionslosigkeit der Institution, subjektiv etwa durch die Freizeiterwartungen der Teilnehmer oder durch den spezifischen pädagogischen Umgangsstil. Die Verallgemeinerung, die hieraus abzuleiten wäre, lautet: Es gibt keine politischen Lehrinhalte außerhalb der Situationen, in denen sie gelernt werden. Eine Didaktik, die sich als eine Theorie der Lehrinhalte versteht, kann bei der Ermittlung dieser Inhalte nicht von der jeweiligen Lernsituation absehen. Die Unterrichtssituation ist dabei nicht nur Technisches, das auf die vorweg ermittelten Lehrinhalte hin zu organisieren wäre, sondern da sie selbst nur bedingt zu organisieren und mit viel unabänderlichen Bedingungen verflochten ist, bestimmt sie gleichsam funktional die Inhalte mit: Sowohl was gelehrt wird, wie vor allem wie das Gelehrte verstanden wird, wird von daher entscheidend mitbestimmt.
Zur Problemebene der Unterrichtssituation gehört auch die emotionale Seite des politischen Lernens. Den häufig formulierten Satz, nur in Freiheit könne zur Freiheit erzogen werden, können wir nun für unseren Fall präzisieren. Die Freiheit unserer Unterrichtssituation bestand zunächst darin, daß die

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jugendlichen Partner jederzeit die Möglichkeit hatten, aus ihr wieder auszutreten. Zweitens hatten die Erwachsenen der Tagungsleitung keine Macht über den Alltag der Jugendlichen bzw. sie verzichteten auf die objektiv vorhandene Möglichkeit dazu. Und drittens schränkten sie die ihnen zustehende "Amtsautorität" in der Tagung selbst auf das unumgängliche Maß ein, indem sie den Jugendlichen in verschiedenen "Rollen" gegenübertraten. Wir haben gesehen, daß dadurch erhebliche emotionale Kräfte offenbar wurden. Unsere These, daß die Unterrichtssituation weitgehend die Lerninhalte mitbestimmt, stellt sich unter diesem Aspekt folgendermaßen dar:
Wenn der politisch Unterrichtende denselben Stoff in derselben didaktischen und methodischen Weise in einer "autoritären" und einer "demokratischen" Unterrichtssituation lehrt, so wird vermutlich selbst dann etwas Verschiedenes verstanden, wenn anschließend dieselben Kenntnisse abgefragt werden könnten. Die subjektive Bedeutung desselben Wissens wäre vermutlich je nach der emotionalen Dimension der Situation verschieden.

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Anmerkungen zu Kap 13:

1) Alexander Mitscherlich, Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, München 1963, vor allem S. 81 ff.
2) Ähnlich die Unterscheidung bei Schepp, a,a,0., S. 165: "Das Wort 'Tagung' erweckt die Vorstellung einer kurzen Zusammenkunft mit relativ offener Gesamtthematik und scheinbar 'unmethodischer Arbeitsweise'".
3) Andreas Flitner, Soziologische Jugendforschung ..., vor allem S. 134 ff.

 

14. Kap.: Die Kontrollfunktionen der politischen Didaktik

Aus den letzten Überlegungen können wir schon auf die zentrale Aufgabe einer politischen Didaktik schließen. Politische Didaktik übernimmt offensichtlich die wissenschaftliche Kontrolle über eine Reihe von Zusammenhängen, die im Vorgang des politischen Unterrichtens eine Rolle spielen. Indem wir nun aufzuzeigen versuchen, an welchen Schwerpunkten sich diese Kontrolle orientieren muß, greifen wir weit über unser eigenes Material hinaus. Die folgenden "Kontrollfunktionen" formalisieren einen allgemein gültigen Zusammenhang. Allerdings wäre er für jeden konkreten Fall neu mit Inhalt zu füllen.
Von der didaktischen Bedeutung der Unterrichtssituation war soeben schon die Rede. Auch sie dürfte für alle politischen Unterrichtssituationen gelten. Weder in der Schule, noch in der Universität oder der Erwachsenenbildung dürfte die Lernsituation unerheblich für den Inhalt des Gelernten sein.

1. Die Verpflichtung gegenüber dem Politisch-Objektiven

Wir sind im II. Teil unserer Untersuchung von Problemen ausgegangen, die bei der Festsetzung der politischen Lehrgehalte berücksichtigt werden müssen. Die Hauptschwierigkeit bestand immer wieder darin, den Ernstcharakter des Politischen zu bewahren und es zugleich für Jugendliche noch lehrbar zu machen. Die dabei überprüften didaktischen Lehrmeinungen konnten zwar meist die Lehrbarkeit retten. Ob aber das Gelehrte dann noch politische Qualität besaß, mußte in unterschiedlichem Maße zweifelhaft bleiben.
Die politische Didaktik muß also unter anderem kontrollieren, ob der Sachverhalt, der gelehrt wird, wirklich politisch ist. Die größte Gefahr, diesem Anspruch nicht gerecht zu werden, geht von allen

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Vorstellungen aus, die das Politische nach einem "Bildungsgehalt" absuchen wollen. Zu sehr hat uns die politische Geschichte unseres Jahrhunderts gelehrt, daß es in all den Fällen, wo die politische Aufmerksamkeit der Bürger versagte, nicht um "Bildungsgehalte" im Sinne einer zweiten Wirklichkeit des Politischen ging, sondern um eine Kette an sich banaler politischer Tagesentscheidungen, die versäumt wurden und deren Quantität schließlich in die neue Qualität der Diktatur umschlug. Was immer das "Wesen" des Politischen sein mag, sicher ist, daß Politik sich in eben solchen Tagesereignissen von mehr oder minder großem Gewicht manifestiert und daß politisches Lernen letztlich nur das Ziel haben kann, sich in solchen Ereignissen vernünftig zu engagieren. Was im konkreten Dasein einer politischen Gesellschaft Politik ist, kann nicht von der politischen Didaktik entschieden werden, sondern ist ihr vorgegeben.
Wir haben in unserer Untersuchung den politikwissenschaftlichen und soziologischen Einwänden gegen die politische Pädagogik deshalb so großen Raum gegeben, weil gerade sie auf die falschen und illusionären politischen Implikationen der politischen Pädagogik mit Nachdruck hingewiesen haben. Ihre Kritiken und Forderungen wurden nur dort unangemessen, wo sie sich einer einfachen Subjekt-Objekt-Trennung bedienten und die Komplikationen der Vermittlung, also eben des Lernens selber, glaubten außer Acht lassen zu können.
Leider fehlt uns bisher eine sorgfältige politisch-ideologische Analyse der verschiedenen politisch-pädagogischen Vorstellungen, mit denen bei uns unterrichtet wird. Dafür wären die theoretischen Aussagen der politischen Pädagogen wohl weniger nützlich als die vielen publizierten Unterrichtsbeispiele. Ohne eine sorgfältige Analyse dieser Art wird die politische Didaktik diesen Teil ihrer Kontrollfunktion kaum hinreichend erfüllen können.

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2. Die Verpflichtung gegenüber dem jugendlichen Partner

Es ist verständlich, daß die meisten politikwissenschaftlichen und soziologischen Kritiken der politischen Pädagogik in ihrem Bemühen, den Anspruch des politisch Objektiven zu retten, leicht einem didaktischen Materialismus und Objektivismus verfallen, der sich auf die Erfahrungen der Universitätslehre stützt. Eine recht verstandene politische Didaktik muß aber auch der Frage nachgehen, ob und in welcher Weise das Politisch-Objektive überhaupt in den Fragehorizont der Jugendlichen gebracht werden kann und soll. Eine pädagogische Beziehung besteht niemals zu "Merkmalsträgern", sondern zu individuellen Partnern.
Die politische Didaktik würde dieser Verpflichtung nicht gerecht, wenn sie allein von den vorfindbaren Bedürfnissen und Wünschen der Jugendlichen ausginge. Wenn der politischen Didaktik etwa gesagt wird, die meisten Jugendlichen interessierten sich nicht für Politik oder hätten nur geringe Chancen, sich in der Gesellschaft politisch zu beteiligen, dann kann die politische Didaktik nur den Gründen für diese Tatbestände nachgehen und für ihre Aufhebung eintreten, falls sie möglich ist. Denn der politische Erzieher weiß im Gegensatz zum Jugendlichen, daß dem späteren Erwachsenen die Wahl, sich politisch zu interessieren oder nicht, in dieser Form nicht mehr freisteht. Wenn er seine eigenen Interessen nicht wahrnimmt, dann werden es andere für ihre Zwecke tun.
Die Verpflichtung gegenüber dem jugendlichen Partner zeigt sich vor allem in folgenden Punkten:

1) Der politische Unterricht muß dem Jugendlichen als Jugendlichem helfen. Das heißt, daß er das Politische dort aufsuchen muß, wo es dem Jugendlichen selbst begegnet, - nämlich vor allem in seinen täg-

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lichen Konflikten. Wenn etwa der Jugendliche dazu neigt, den Konflikt zwischen seinen Berufserwartungen und der Berufswirklichkeit zu subjektivieren, als sei er nur falsch ansepaßt, muß der Erzieher die objektive Konstellation dieses Konfliktes bewußt machen. Daß unsere Gesellschaft heute für den größten Teil ihrer Jugend den "Schonraum" schon so früh aufgibt und damit die Jugendlichen selbst nicht nur in vermeidbare Konflikte stürzt, sondern auch in einer relativ primitiven kulturellen Erfahrung beschränkt, ist ein Politikum ersten Ranges, und zwar eines, daß sich objektiv gegen die Jugendlichen richtet. Von den "Aufgaben des Staatsbürgers" darf nur dann gesprochen werden, wenn auch von den ihm vorenthaltenen Rechten und Möglichkeiten gesprochen wird. Indem man diese alltäglichen Interessen des Jugendlichen ernst nimmt, ihnen eine auch für das ganze politische Gemeinwesen verbindliche Bedeutsamkeit verleiht, gibt man auch erst diesem Gemeinwesen selbst die Qualität, die es für den jugendlichen Menschen attraktiv macht.
2) Der politische Erzieher muß den Jugendlichen als potentiellen Erwachsenen ernstnehmen. Das geschieht vor allem dadurch, daß der Erzieher den politischen Standort des späteren Erwachsenen und das, was zum Ausfüllen dieses Standortes gehört, vorwegdenkt. Diese Verpflichtung ist leichter formuliert als erfüllt. Denn welches wird der spätere politische Standort sein? Wir haben auf den notwendigen Zusammenhang von politischer Begrifflichkeit und politischer Beteiligung hingewiesen. Wenn also die politische Pädagogik nicht dafür sorgt, daß die späteren Erwachsenen eine hinreichende Kenntnis der gesellschaftlichen Strukturen besitzen, in denen sie sich zu bewegen und zu "orientieren" haben, dann verfehlt sie nicht nur die "Sache" Politik, dann trägt sie vielmehr auch dazu bei, den Status der politischen Unmündigkeit weiter zu ver-

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festigen,
5) Die politische Didaktik muß den Vorgang des politischen Lernens selbst so weit wie eben möglich erleichtern. Das leistet sie sicher nicht, indem sie lediglich politische Lerninhalte formuliert und dem Jugendlichen gegenüberstellt. Sie muß vielmehr versuchen, das Politisch-Objektive mit den recht verstandenen Bedürfnissen der Jugendlichen durch ein didaktisches Grundmodell in Zusammenhang zu bringen. Unser eigenes didaktisches Modell ist ein solcher Versuch.

3. Der Zusammenhang von Aktionswissen, Orientierungswissen und Lerninhalt

Die schwerwiegenden Einwände gegen eine Aktualisierung des politischen Unterrichts durften nicht übergangen werden. Wie kann eine Distanz zur Unmittelbarkeit der politischen Aktualität trotzdem erhalten bleiben, ohne die schließlich kein Urteil zu gewinnen ist? Die Antwort, die wir darauf versuchten, ging in zwei Richtungen. Durch die Unterscheidung von Aktionswissen, Orientierungswissen und Bildungswiesen sollte von der subjektiven Seite her der Widerspruch von sinnvollem Kenntnis- und Bewertungszusammenhang und aktuellem Engagement gelöst werden. Die wesentliche These war dabei, daß im realen politischen Denkprozeß sich Orientierungs- und Bildungswissen vom Aktionswissen her neu strukturieren, ja, daß die Einsicht in die Notwendigkeit eines breit angelegten politischen Wissenszusammenhangs nur so bei den Jugendlichen zu erreichen ist. Diese Art und Weise, sich politisches Wissen zu erwerben, ist nicht nur Methode, sondern wirkt entscheidend auf die inhaltliche Qualität des dann Gewußten ein. Wenn sich politisches Wissen aufbaut von aktuellen politischen Kontroversen her, dann ist dies nicht irgendein Wissen, sondern ein bestimmtes, mit bestimmten Bedeutungen versehenes. Es unterscheidet sich z.B. selbst dann vom Wissen des

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Wissenschaftlers, wenn es sich um dieselben Kenntnisse handeln sollte, wie es sich ebenso von einer formalen politischen Kunde unterscheiden würde. Deshalb ist die Bedeutung eines Wissenskanons, den die zuständigen Fachwissenschaften aufstellen mögen, grundsätzlich begrenzt. Ob das Wissen nach der Vermittlung noch das zu Vermittelnde ist, können die Fachwissenschaften nicht mehr entscheiden. Die politische Didaktik vermittelt also politische Kenntnisse und Einsichten und hält dabei nicht nur die Bedingungen der Vermittlung (Unterrichtssituation), sondern auch den Akt der Vermittlung selbst unter Kontrolle: Einmal setzt sie diesen Akt selbst fest, sie nimmt dabei jene inhaltliche Vorprägung des Wissens und Bewußtseins in Kauf, wie sie etwa in unserem Dreischritt Aktions- Orientierungs- und Bildungswissen angelegt ist. Zugleich aber kontrolliert sie dabei, ob das Wissen auch als das Gemeinte verstanden wird. Könnte man eine Identität von Lehre und Lernen als selbstverständlich voraussetzen, dann käme es lediglich darauf an, Fachwissenschaftliches zu vermitteln. Vor allem die Massenmedien haben uns aber gezeigt, daß das Vermittelte durch seine Vermittlung seinen Charakter ändert. Politische Fachdidaktik ist also der Versuch, diese Änderung unter wissenschaftlicher Kontrolle zu behalten.
Unser zweiter Ansatz zu einer didaktischen Theorie des Politischen war der Verbuch, politische Kategorien, d.h. Fragestellungen zu finden, die einerseits allen politischen Kontroversen wenn auch im unterschiedlichen Maße immanent sind, andererseits aber eben jene notwendige Distanz von der Unmittelbarkeit der politischen Aktualität erlauben und zum Aufbau eines ständig differenzierteren Kenntnis- und Bewertungszusammenhangs führen können. Auch hier handelt es sich um einen spezifisch didaktischen Denkakt. Dies nicht nur deshalb, weil

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das Zugleich von Bewertung und Sachanalyse für die Fachwissenschaften nicht nachzuvollziehen, für die Pädagogik aber ein anthropologisch notwendiger Vorgang ist. Hinzu kommt vielmehr die Notwendigkeit der Beschränkung. Wenn nach unserer Definition politische Didaktik auf die Kontrolle der Vermittlung zielt, dann gehört dazu immer auch die Festsetzung des Umfangs der Lerninhalte. Eine solche Beschränkung wird nicht nur von der Aufnahmefähigkeit der einzelnen her bestimmt, sondern auch von der Frage, welche Stelle im gesamten geistigen Haushalt des Jugendlichen das Politische einzunehmen habe. Daß mit einer solchen Beschränkung eine weitere - die dritte - inhaltliche Vorentscheidung getroffen wird, liegt auf der Hand. Die notwendige Beschränkung wird in einem Akt des politischen Philosophierens getroffen. Je umfassender dieser Akt angelegt ist, je mehr Forschungsergebnisse und methodische Probleme der politischen Wissenschaften dabei berücksichtigt werden, je vorurteilsloser sich sein Ergebnis ideologiekritischen Einwänden stellt, umso angemessener wird dieser Kompromiß zwischen Wünschbarem und Möglichem sein.

4. Politische Fachwissenschaft und politische Didaktik

Die politische Didaktik ist für die Erfüllung ihrer Aufgabe auf die Hilfe der wissenschaftlichen Fachdisziplinen angewiesen, die sich unter ihren spezifischen Fragestellungen mit dem Politischen beschäftigen. Das gilt zunächst für die politischen Kenntnisse der Lehrenden selbst. Keine noch so gründlich durchdachte didaktische Theorie des Politischen kann den politischen Sachverstand und das politische Bewußtsein des Lehrenden ersetzen. Nicht irgendwelche politischen Kenntnisse sind Voraussetzung einer sinnvollen Anwendung unseres didaktischen Modells, sondern eine planmäßig wissenschaftlich-kri-

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tische Beschäftigung mit wenigstens einer politischen oder sozialen Wissenschaft. Wenn etwa unsere politischen Kategorien an einen Konflikt angelegt werden, so ist für die Beantwortung der in ihnen beschlossenen Fragen ein Höchstmaß an Kenntnissen notwendig, die sich zudem ständig ändern. Außerdem können die für den politischen Unterricht notwendigen Fachkenntnisse nicht in einem einmaligen, zeitlich begrenzten Ausbildungsgang erworben werden. In dem Maße, wie sich der politische Prozeß ständig weiterentwickelt, bedarf auch der politische Erzieher einer ständigen Weiterentwicklung seiner Kenntnisse. Politischen Unterricht im Sinne unseres didaktischen Modells kann nur erteilen, wer über hinreichende fachwissenschaftliche Kenntnisse verfügt. Ist diese Voraussetzung nicht erfüllt, so kann politischer Unterricht nur zu jenem "Geschwafel" führen, das v. Kempski für die Rahmenvereinbarung befürchtet.
Aber auch für die Kontrollfunktionen, die wir der politischen Didaktik zuweisen, ist die Mithilfe der politischen Wissenschaften unentbehrlich. Wie sollte ohne sie die Angemessenheit der politischen Lehrinhalte kontrolliert werden können? Wie könnten ohne sie die gesellschaftlichen Hemmnisse politischen Lernens - die eben nicht mehr allein von der je subjektiven Motivation her zu erklären sind - zutreffend erkannt werden?

5. Das politische Engagement der politischen Didaktik

Die politische Didaktik kann ihre Kontrollfunktionen nicht erfüllen, wenn sie sich nicht zugleich immer gesellschaftskritisch versteht. Sowohl auf der objektiven, wie der subjektiven und situativen Problemebene hat die politische Didaktik eine gesellschaftskritische Dimension. Auf der objektiven Ebene stellt sie der politischen Wirklichkeit mit ihren Kategorien normative Ansprüche gegenüber;

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auf der subjektiven Ebene reflektiert sie die Bedingungen des politischen Interesses und Desinteresses unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Voraussetzungen, - mit einem Material, das andere Wissenschaften ihr als Hilfswissenschaften zur Verfügung stellen; auf der situativen Ebene schließlich reflektiert und kritisiert sie die Bedingungen, die die jeweilige Unterrichtssituation bestimmen, unter ihnen wiederum gesellschaftliche. Wir haben unter diesem Aspekt etwa die gesellschaftlichen Bedingungen der freien Träger der Jugendarbeit berücksichtigt.
Die politische Didaktik steht immer wieder in der Gefahr, unter dem Begriff der "Demokratie", zu der hin sie erziehen will, die je vorhandene politische Wirklichkeit als einzig gerechtfertigte Möglichkeit zu begreifen. Diese Haltung, die wir nicht nur in der "Rahmenvereinbarung", sondern auch in allen Versuchen der Demokratie-Diktatur-Alternative vorfanden, beweist damit nicht nur ihren Mangel an politikwissenschaftlicher Fundierung, sondern auch ihre historische Herkunft aus obrigkeitlichen Verständniszusammenhängen. Die politische Didaktik steht aber nicht außerhalb der politischen Kategorien, die wir für den politischen Unterricht vorgeschlagen haben. Indem sie das "Interesse" des jugendlichen Partners bzw. seiner sozialen Umgebung als politische Kategorie ernst nimmt und ebenso mit ihm die Kategorie der "Solidarität", also seine gesamtgesellschaftliche Interessenvertretung, aufschlüsselt, engagiert sie sich bereits gesellschaftlich partikular. Indem sie andererseits mit der Kategorie der "Ideologie" politische Aussagen und Selbstrechtfertigungen überprüft, nimmt sie sie nicht mehr einfach hin, sondern bezieht Stellung gegen sie, sobald sie manipulativen Charakter annehmen.
Die politische Didaktik kann also ihrer eigenen politischen Qualität nicht mehr ausweichen. Selbst

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wenn sie versucht, eine über den gesellschaftlichen Partikularitäten sich erhebende politische Pädagogik zu formulieren, hat sie sich bereits engagiert. In diesem Falle unterstützt sie objektiv diejenigen, die von einer bestimmten Wirklichkeit den größeren Vorteil haben.
Die politische Didaktik ist selbst auch Politisches, ist selbst eingebettet in das komplizierte Kräftespiel der politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit. Je genauer sie in diesem Zusammenhang ihre Ortsbestimmung vornimmt, um so wirkungsvoller kann sie ihre Ansprüche im gesellschaftlichen Ganzen vertreten. Die Kontrolle ihres politischen Standortes ist vielleicht die schwierigste Kontrollfunktion, die sie immer wieder zu lösen hat; denn sicherlich ist sie nicht nur einer bestimmten gesellschaftlichen Partikularität verpflichtet, der ihre Partner angehören, sondern auch dem Gesamtzusammenhang dessen, was man unter dem Begriff der "Demokratie" zusammenfassen kann. Wir haben versucht, auch dieses Engagement zu bezeichnen, nämlich durch die moralischen Implikationen unserer Kategorien.

6. Politische Didaktik als kontrollierende Integrationswissenschaft

Wenn wir die bisher dargestellten Kontrollfunktionen noch einmal zusammenschauen, dann können wir die politische Didaktik am zutreffendsten vielleicht als "kontrollierende Integrationswissenschaft" bezeichnen.
Sie kontrolliert nicht nur die Bedingungen und den Akt der Vermittlung politischen Wissens und übernimmt damit für den Bereich des Politischen die Rückübersetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis des gesellschaftlichen Lebens. Sie integriert damit auch die Fülle der Aspekte, die im Unterrichtsakt zusammenlaufen, in wissenschaftsspezifischer Weise zu einer neuen Einheit. Sie hat also keinen eigenen Gegenstand wie die Fachwissen-

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schaffen, vielmehr fügt sie Ergebnisse und Aspekte der zuständigen Fachwissenschaften unter ihrem spezifischen Fragehorizont zusammen - unselbständig in Bezug auf diese Ergebnisse, selbständig allein im Vollzug der Integration.
Vielleicht läßt sich dieser Zusammenhang wiederum am eindrucksvollsten im Bild des "Faktorenmodells" erfassen. Dann wären u.a. Lernsituation, "Individuallage", das Politisch-Objektive, Aktionswissen, Orientierungswissen, Bildungswissen und das politische Bewußtsein der politischen Didaktik die Faktoren, deren Interaktionen zu kontrollieren und schließlich im konkreten Unterrichtsfall zu integrieren wären.

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