Hermann Giesecke 

Didaktik der politischen Bildung

Neue Ausgabe (10. Aufl. München: Juventa-Verlag 1976)

Teil III:
POLITISCHE DIDAKTIK ALS PÄDAGOGISCHE THEORIE DER POLITIK

© Hermann Giesecke

Inhaltsverzeichnis

Das ganze Buch als PDF-Datei  (859 KB)

Zu dieser Edition:

Meine Didaktik der politischen Bildung erschien 1965. In der 3. Aufl. 1968 wurden sieben kritische Stellungnahmen zu diesem Buch ausführlich abgedruckt. Auf diese und andere Einwände habe ich am Schluß des Buches mit einer  "Kritik der Kritik" geantwortet.
Der Text der Originalfassung wurde mit der 7. Aufl. 1972 grundlegend verändert. Die auf dieser "Neuausgabe"  basierende, hier wiedergegebene 10. Aufl. 1976 entspricht der 7. Auflage 1972, wurde aber ergänzt durch einen  Nachtrag, der in wesentlichen Punkten die Diskussion zwischen  1972 und 1976 aufgreift. Der Text ist vollständig wiedergegeben, es fehlen lediglich 2 der Arbeit vorausgeschickte Motti und das Sachregister.
Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurde das Original jedoch nicht verändert.  Um die Zitierfähigkeit zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.
Über den damaligen politisch-pädagogischen und persönlichen Hintergrund finden sich nähere Angaben in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen.
Der Text darf zum persönlichen Gebrauch kopiert und unter Angabe der Quelle im Rahmen wissenschaftlicher und publizistischer Arbeiten wie seine gedruckte Fassung verwendet werden. Die Rechte verbleiben beim Autor.

© Hermann Giesecke


Inhalt

DRITTER TEIL: POLITISCHE DIDAKTIK ALS PÄDAGOGISCHE THEORIE DER POLITIK
 

Politische Theorie, Didaktik und Methodik
Die historisch-kritische Funktion der politischen Didaktik
Die konstruktive Funktion der politischen Didaktik
Politische Didaktik und allgemeine Didaktik


DRITTER TEIL:
POLITISCHE DIDAKTIK ALS PÄDAGOGISCHE THEORIE DER POLITIK

 

Zum Abschluß sollen noch einmal einige theoretische Fragen im Zusammenhang diskutiert werden, die bisher zum Teil zwar schon berührt worden waren, aber aus kompositorischen Gründen nicht ausführlich und systematisch behandelt werden konnten. Sie gehören zwar nicht zu den Überlegungen einer politischen Didaktik im engeren Sinne, sondern führen darüber hinaus; aber insofern eine spezifische Aufgabe der Erziehungswissenschaft wie die hier vorliegende immer auch prinzipielle Aspekte der Erziehungswissenschaft zum Thema hat, mag die nun folgende grundsätzliche Diskussion als berechtigt angesehen werden. Sie konzentriert sich vor allem auf zwei Fragenkomplexe:

Erstens: Welche Funktion hat die politische Didaktik im Rahmen der anderen Fach- bzw. Aufgaben-Didaktiken? Ist politische Didaktik nur ein anderer Terminus für "allgemeine Didaktik", so daß andere didaktische Aufgaben aus ihr abgeleitet werden könnten?

Zweitens: Welche Stellung hat die politische Didaktik in Beziehung zur politischen (gesamtgesellschaftlichen) Theorie einerseits und zur Methodik des konkreten Schulehaltens andererseits? Ist es überhaupt nötig, zwischen politischer Theorie und Methodik eine Didaktik als Zwischeninstanz einzuschieben, oder würde es genügen, die pädagogischen Überlegungen unmittelbar zu konzentrieren auf die Fragen der unterrichtspraktischen (methodischen) Umsetzungen der politischen Theorie? Beginnen wir zunächst mit diesem Komplex!
 

Politische Theorie, Didaktik und Methodik
 

Wir hatten bei der Lernzieldiskussion als politische Theorie eine solche bezeichnet, die versucht, die Totalität der gesellschaftlichen Beziehungen in historischer Dimension aufzuhellen. Daß es dabei konkurrierende Theorien geben kann, ist ebenso selbstverständlich, wie daß solche Theo-

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rien niemals "ein für allemal" fertig vorliegen, sondern im historischen Prozeß auch dann ständig neu bearbeitet werden müssen, wenn das "erkenntnisleitende Interesse" (z. B. an einer Emanzipation benachteiligter Gruppen und Klassen) über Generationen hinweg gleichbleibt. Wir haben weiter betont, daß politische Theorie in irgendeiner Form (in der Regel in einer vorwissenschaftlichen) notwendigerweise seit den frühen Sozialisationsprozessen zum Bestandteil des individuellen Bewußtseins gehört und deshalb auch als solche in der politischen Bildung bearbeitet werden muß. Im Unterschied jedoch zum gesamtgesellschaftlichen Bewußtsein, das nicht unbedingt auf einer wissenschaftlichen Theorie basieren muß, soll der Begriff politische Theorie im folgenden nur im engeren Sinne einer wissenschaftlich fundierten und reflektierten Theorie gebraucht werden.

Schon die bloße Konfrontation eines vorwissenschaftlichen gesamtgesellschaftlichen Bewußtseins mit einer ausformulierten politischen Theorie (z. B. einer marxistischen) hat didaktischen Sinn: Sie stellt das empirisch vorhandene Bewußtsein in Frage, erklärt es als falsch und macht Gründe (z. B. ökonomische) für diese Falschheit geltend. Nun könnte man sagen, die Probleme der politischen Bildung seien in dem Augenblick gelöst, wo möglichst alle Menschen bereit und fähig sind, die Sätze der jeweils am weitesten fortgeschrittenen politischen Theorie zu ihren eigenen zu machen. Schon die Lebenserfahrung zeigt jedoch, daß das nicht erwartet werden kann: weil das empirisch feststellbare politische Bewußtsein eine Funktion des historisch-sozialen Standortes ist und deshalb diesem gegenüber nicht beliebig verändert werden kann; weil die intellektuellen Fähigkeiten, die Motivationen, die emotionalen Ausgangslagen und die aktuellen Interessen individuell unterschiedlich sind; weil diese Persönlichkeitsvarianten sich je nach biographischem Datum, also je nach dem Stand der lebensgeschichtlichen Entwicklung, modifizieren usw. Unter der Voraussetzung also, daß "richtiges" politisches Bewußtsein - repräsentiert in der jeweils am weitesten

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fortgeschrittenen politischen Theorie - vom jeweils empirisch vorfindbaren "falschen" aus angesteuert werden soll, thematisiert didaktische Theorie eben diesen Vermittlungsprozeß. Zu diesem Vermittlungsprozeß vermag die politische Theorie selbst nur allgemeine, nicht hinreichend genaue Hinweise zu geben. Nur sie allein kann zwar die obersten Bildungsziele inhaltlich bestimmen (z. B. Emanzipation oder Mitbestimmung), aber sie kann die Bedingungen ihrer Realisierbarkeit eigentlich nur noch negativ angeben: etwa durch Hinweis auf die Grenze des ökonomisch zugelassenen Spielraums. Insofern die politische Theorie der bestehenden Praxis als ihre bessere Idee gegenübertritt, vermag sie jene zwar zu kritisieren, nicht jedoch auch den Prozeß ihrer Verbesserung hinreichend genau zu inszenieren; die Negation einer bestehenden Praxis durch Kritik ergibt für die Etablierung einer neuen höchstens allgemeine Hinweise. Die politische Theorie vermag nicht einmal die von ihr gesetzten obersten Lernziele auch in Teilziele zu operationalisieren, weil sie - und das ist der Grund für die Grenze ihrer theoretischen Reichweite - dazu den ihr eigentümlichen allgemein-historischen Charakter ihrer Aussagen mit individuellen oder zumindest individualisierbaren lebensgeschichtlichen Dimensionen kombinieren müßte. Anders ausgedrückt: Allgemeine Aussagen über richtiges oder falsches Bewußtsein müßten auf individuelle Ausgangssituationen und Leroprozesse hin umgesetzt werden können. Ein und derselbe Kopf kann zwar beide Arbeiten verrichten - und insofern kann ein Politikwissenschaftler Didaktiker sein und umgekehrt - , aber es handelt sich dennoch um zwei ganz verschiedene Aussagestrukturen; denn die didaktische Umsetzung einer politischen Theorie ist nicht nur einfach ihre Variation, sondern schließt auch ihre inhaltliche Veränderung ein. Wenn man - wie wir es in diesem Buch versucht haben - politische Theorie aus der Perspektive von Lernprozessen bestimmter Gruppen von Menschen (z. B. Kinder, Unterschichtkinder usw.) umformuliert, dann ändert sich dabei nicht nur die Form der Aussage, sondern auch ihre inhalt-

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liche Bedeutung, und zwar in dem Maße, wie die objektive politische Theorie eine Verbindung mit den je subjektiven Lerninteressen eingeht, die ihrerseits ja nur ein Ausdruck allgemeiner sozialer Interessen sind. Marx für Oberseminaristen ist etwas anderes als Marx für Arbeiter oder für Lehrlinge oder für Grundschüler, obwohl "Marx-Philologie" in allen Fällen das gleiche sein mag. Eben diese in der didaktischen Transformation notwendigerweise erfolgende inhaltliche Veränderung ist es, die eine von der politischen Theorie unterschiedene didaktische Theorie nötig macht, es sei denn, man wolle auf Lehr- und Lernbarkeit und damit auf Praxis überhaupt verzichten. Die Tatsache nun, daß eine jede didaktische Theorie notwendigerweise abweicht von der politischen Theorie, auf die sie sich bezieht, macht sie dieser sofort verdächtig: als pädagogisch motivierte Verunreinigung und Verfälschung. In der Tat lehrt ein auch nur flüchtiger Blick in die Schule allenthalben, was auf diese Weise aus politischen und anderen wissenschaftlichen Theorien werden kann, sobald sie die Schulpforte durchschritten haben. Der Verdacht ist also grundsätzlich berechtigt. Soll er jedoch nicht zum bloßen Ressentiment werden, muß er sich seinerseits in die Form der Theorie begeben, insofern diese didaktische Theorie einerseits die notwendigen inhaltlichen Veränderungen unter Kontrolle behält, andererseits aber auch die Inszenierung von Lehr- und Lernprozessen garantiert. In den letzten Jahren hat es nicht an "Entlarvungs-Literatur" gefehlt, die solche inhaltlichen Differenzen ebenso genüßlich wie ahnungslos "aufdeckte"; sie lebt davon, daß sie das Problem, um das es geht, einfach verleugnet.

Geht man davon aus, daß "Emanzipation" das erkenntnisleitende Interesse sowohl der politischen wie der didaktischen Theorie ist, so kann man sagen: Beide beschäftigen sich zwar in diesem Sinne mit derselben "Sache", aber eben doch unter verschiedenen Aspekten. Und gerade dann, wenn man wie viele "linke" Theoretiker den Prozeß der Emanzipation als einen "materialistischen" versteht und nicht als einen "idealistischen", der sich nach gutgemeinten

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ideellen Postulaten vollziehe, muß man einräumen, daß erst die dialektische Kombination von politischer und didaktischer Theorie praktische Strategien eröffnet. Auf unser didaktisches Modell bezogen heißt das: Die Frage ist nicht, ob unsere Definition des Politischen als Konflikt in jeder Hinsicht zureichend ist. Für eine politische Theorie, insbesondere für ihre philosophische Dimension, muß diese Frage vielmehr verneint werden. Die Frage kann jedoch nur lauten, ob unter didaktischem Aspekt, d. h. unter dem Aspekt des organisierten Lehrens und Lernens, diese Definition ergiebig ist und als eine in diesem Sinne operationale von der politischen Theorie und von den politischen Einzelwissenschaften toleriert werden kann. Die hier einzig angemessene Kritik könnte nur in dem Nachweis bestehen, daß dieses didaktische Modell wichtige Lernleistungen nicht erfaßt oder sie gar ausschließt, wobei deren Wichtigkeit ihrerseits nachgewiesen und begründet werden müßte.

Damit ist die Frage nach der theoretischen "Reichweite" einer politischen Didaktik gestellt. Daß sie kein Ersatz für politische Theoriebildung oder für sozialwissenschaftliche Studien sein kann, wurde bereits betont; dieses und manches andere muß sie vielmehr voraussetzen, und zwar sowohl im Hinblick auf das je einzelne Bewußtsein wie auch hinsichtlich der institutionellen intellektuellen Arbeitsteilung. Was die letztere angeht, so muß beachtet werden, daß "politische Theorie" eine akademische Disziplin ist, die von Personen für solche Personen betrieben wird, die zumindest für einen gewissen Zeitraum von der politischen und pädagogischen Realisierung und Bewährung ihrer Studien suspendiert sind. Dies ist Chance und Grenze zugleich. Chance, weil nur durch eine solche gesellschaftliche Distanz theoretische Überlegungen zu Ende gearbeitet werden können; Grenze, weil die soziale Ausgangssituation, als deren Prototyp das universitäre Oberseminar gelten kann, auch den Inhalt der Theorien notwendigerweise mitbestimmt. Daß z. B. marxistische Theoreme in den letzten Jahren in einer Form adaptiert wurden, die zwar zur radikalen Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse taugte,

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kaum jedoch auch zur Inszenierung praktischer Politik und Pädagogik, geht wesentlich darauf zurück, daß der Neo-Marxismus in Oberseminaren und nicht z. B. in Gewerkschaften oder Betriebsgruppen wiedererstand. Diese gesellschaftliche Distanz der wissenschaftlichen politischen Theorie wird inzwischen von einer ganzen Reihe von Hochschulangehörigen als Mangel empfunden, der unter Schlagworten wie "praxisnahes" oder "berufsnahes" Studium beseitigt werden soll. Unbeschadet der Frage jedoch, ob Studiengänge nicht tatsächlich praxisnäher sein können - und unbeschadet der weiteren Frage, was das eigentlich heißt - , muß grundsätzlich davor gewarnt werden, die politische Bedeutung der in relativer Distanz zur gesellschaftlichen Realität produzierten Theorie zu unterschätzen. Wichtig bleibt nämlich, daß praktische Theorien, z. B. didaktische, auf sie zurückgreifen können. Ohne die in bewußter Distanz zur gesellschaftlichen Praxis entwickelten theoretischen Arbeiten der "Frankfurter Schule" z. B. wäre - wie wir im ersten Teil am Beispiel des Habermas-Textes gezeigt haben - ein Fortschritt der politisch-didaktischen Diskussion gar nicht möglich gewesen.

Nun ist die didaktische Theorie zwar wie die politische auch eine akademische Disziplin, insofern sie im allgemeinen in Hochschulen produziert wird. Aber sie dient einem ganz bestimmten Zweck: Personen, deren Beruf das I.ehren ist, einen rational kontrollierbaren und praxisrelevanten Vorstellungszusammenhang über die inhaltliche Problematik des Lehrens selbst zu vermitteln; Didaktik ist also eine spezifische Berufswissenschaft. Daraus ergibt sich nicht nur die schon erwähnte inhaltliche Strukturdifferenz zur politischen Theorie, sondern auch eine weitere Begrenzung der Reichweite - nämlich hinsichtlich ihres Umfanges. Wenn man nämlich davon ausgehen darf, daß von einem bestimmten Umfang an (z. B. von einer bestimmten Zahl gedruckter Seiten an) ein theoretischer Entwurf nicht mehr "in den Kopf paßt", so ist er unpraktisch und überflüssig. Für eine praktische Theorie ist immer auch ihr Umfang ein wichtiges Kriterium.

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Eine andere Frage ist jedoch, ob es ebenfalls zwingend ist, Didaktik und Methodik weiter zu unterscheiden. Auf den ersten Blick müßte es eigentlich genügen, Methodik als Teil der Didaktik zu betrachten und beide als berufsspezifische Modifikationen der politischen Theorie einerseits und der Sozialisationstheorie andererseits zu bestimmen. Abgesehen von praktischen Erwägungen jedoch kommt bei der methodischen Reflexion neben der politischen Theorie und der Sozialisationstheorie noch mindestens ein weiteres theoretisches Moment ins Spiel: die Kommunikationen der miteinander Agierenden. Wenn man sich fragt, was im Unterricht der Schule oder in jedem anderen pädagogischen Feld wirklich geschieht, dann ist "Kommunikation" der allgemeinste deskriptive Begriff dafür. Die realen Prozesse, Ziele, Hindernisse, Schwierigkeiten, emotionalen Dimensionen usw. dieser Kommunikationen sind aber weder unter eine politische Theorie noch unter eine Sozialisationstheorie vollständig subsumierbar, obwohl beide zur Erklärung wichtige Gesichtspunkte liefern können. Aufgabe der Methodik ist also, die Ergebnisse der didaktischen Theorie in zeitliche Prozesse zu übersetzen: in Unterrichtsprozesse, die parallel zu biographischen Prozessen verlaufen.

Für eine relative Autonomie methodischer Reflexion spricht aber auch noch ein praktischer Grund. Sieht man nämlich auf den sozialen Standort der methodischen Reflexion, so handelt es sich hier um die Berufsrolle dessen, der Tag für Tag Unterrichts-Kommunikationen organisieren und steuern muß, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob objektiv oder auch nur in seinem subjektiven Bewußtsein die theoretischen Vorentscheidungen hinreichend geklärt sind oder nicht. Er kann im Zweifelsfalle seinen Unterricht nicht einfach eine Zeitlang aussetzen. "Methodik" als Theoriezusammenhang wäre also dadurch zu definieren, daß sie - anders als die bisher behandelten Dimensionen - die Leitziele Emanzipation und Mitbestimmung aus der Perspektive der alltäglichen Berufspraxis thematisiert, und d. h.: aus der Perspektive der alltäglichen Lehr- und Lern

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kommunikationen. Geschieht dies nicht ausdrücklich, so schrumpft "Methodik" zu einem Set von Manipulationsregeln zusammen, deren Zielbedeutung unerkannt bleibt, und die vorher in der Ausbildung gelernten Reflexionen der "politischen Theorie" und der "didaktischen Theorie" gelten entweder als unpraktisch oder werden zur Renommiersprache, mit der die unvollkommene Praxis nicht verändert, sondern nur legitimiert wird; oder aber Methodik wird a priori verstanden als Unterrichts-Technologie, die für ihr vorgegebene Ziele die optimale Realisierung sucht. Es käme aber im Rahmen unserer Überlegungen gerade darauf an, die methodischen Reflexionen mit denen der politischen und didaktischen Theorie zu verschränken und umgekehrt die praktischen Erfahrungen an jene anderen Theorie-Modi gleichsam zurückzumelden; denn im Prozeß der methodischen Umsetzung jener anderen Theorie-Modi tritt möglicherweise die Erfahrung zutage, daß bestimmte Theoreme oder Anweisungen sich in der tatsächlichen Unterrichts-Kommunikation gar nicht realisieren lassen. Es kann z. B. ganz einfach so sein, daß das entworfene didaktische Modell sich als zu kompliziert erweist.

Je nach dem sozialen Handlungsstandort des jeweiligen Bewußtseins erweist es sich also als nötig, spezifische Modi der theoretischen Struktur geltend zu machen. Wie die Verschränkungen dieser Modi zueinander näher bestimmt werden müssen, konnte hier nur angedeutet werden; da es sich hier um ein theoretisches Grundproblem der Erziehungswissenschaft überhaupt handelt - nämlich um das alte Problem des Verhältnisses von Theorie und Praxis— kann es hier nicht weiter systematisch abgehandelt werden.

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Die historisch-kritische Funktion der politischen Didaktik
 

Indem die politische Didaktik jedoch gerade die "Unbestimmtheitsrelation" zwischen politischer (gesamtgesellschaftlicher) Theorie und pädagogischer Praxis - nun verstanden als Zusammenhang der tatsächlichen Kommunikationen - thematisiert, kann sie nicht so vorgehen, daß sie der Praxis idealistische Alternativen vorhält in der Hoffnung, daß diese durch guten Willen oder durch die Techniken des Human-Engineering auch realisiert werden können. Vielmehr findet die politische Didaktik immer schon eine bestimmte, historisch entstandene "Erziehungswirklichkeit" vor, die sie zunächst einmal als solche aufzuklären und am Maßstab zunehmender Emanzipation und Mitbestimmung zu kritisieren hat. Sie geht also davon aus, daß in unserer Gesellschaft allenthalben politische Bildung und Erziehung geschieht, daß das, was da geschieht, zwar ideologisch begründet wird, aber gleichwohl umstritten ist und nicht mehr selbstverständlich auf Übereinstimmung beruht. Schon früher hatten wir betont, daß Didaktik in dem hier verwendeten Sinne nur die theoretische Konsequenz aus der historisch-politisch bedingten Verunsicherung der Lernziele, Bildungsziele und des Selbstverständnisses der professionell Lehrenden ist. Sie ist also selbst eine "Konflikt-Wissenschaft", d. h., sie versucht, die real und ideologisch fortschrittlichen Tendenzen der vorgegebenen Wirklichkeit herauszufinden und im Sinne zunehmender Emanzipation und Mitbestimmung weiterzutreiben. Im Ersten Teil dieses Buches haben wir am Beispiel repräsentativer Texte dieses Verfahren angewendet.

Es handelt sich vor allem um folgende Aspekte der Kritik:

1. Kritik der politischen Entscheidung. Jede vorgegebene Erziehungswirklichkeit beruht auf politischen Entscheidungen, z. B. hinsichtlich der Stundenzahlen für ein bestimmtes Fach oder hinsichtlich der Richtlinien und Lehrpläne. Die politische Didaktik muß also kritisch überprü-

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fen, was da festgesetzt wird, wer das festsetzt, mit welcher Legitimation und wie, d. h. in welchem institutionellen und kommunikativen Rahmen, so etwas festgesetzt wird. Insofern es sich um politische Entscheidungen handelt, müssen sie in einer demokratischen Gesellschaft als solche deklariert, öffentlich, mit der Möglichkeit der Kontrolle und in einer klar institutionalisierten Form getroffen werden. Vor allem gegenüber manchen Verfahrensvorschlägen zur Curriculum-Konstruktion wäre darauf zu bestehen, daß der politische Entscheidungscharakter solcher Verfahren nicht verschleiert und damit der öffentlichen Diskussion entzogen wird.

Die hier in Frage stehenden politischen Entscheidungen sind grundsätzlich methodisch so zu überprüfen wie andere politische Entscheidungen auch. Ihre Erforschung kann zwar nur im Rahmen der dafür zuständigen Fachwissenschaften erfolgen, aber innerhalb der politischen Didaktik bekäme die Interpretation der Ergebnisse erst einen für die Aufhellung der Lehrinhalte bedeutsamen Stellenwert: Ohne Berücksichtigung des politischen Zusammenhanges können die jeweils vorliegenden Lehrinhalte überhaupt nicht verstanden werden. Aus diesem Grunde haben wir im Ersten Teil dieses Buches auch die politisch-pädagogische "Grundsatzdiskussion" so ausführlich verfolgt.

2. Kritik der Lehrinstitutionen. Politisches Lernen geschieht immer in irgendwelchen Lehrinstitutionen oder Lernsituationen, also in pädagogisch geplanten oder ungeplanten Institutionen der politischen Sozialisation. Man könnte deshalb diesen Aspekt auch "Kritik der politischen Sozialisation" nennen. Sie untersucht die Institutionen darauf hin, welche Chancen und Behinderungen sie jeweils für das politische Lernen enthalten. Den pädagogisch geplanten Lernfeldern zeigt sie, welche Lerngrenzen in ihren institutionellen und organisatorischen Bedingungen liegen. (Als Beispiel für eine solche Analyse vgl. meine "Jugendarbeit", 1971.) Schließlich überprüft sie, was einzelne Schularten im Zusammenhang ihres Bildungsauftrages unter Mitbestimmung und Emanzipation verstehen.

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In diesen Zusammenhang gehört auch die Kritik dessen, was die Lehrer in den einzelnen Schularten unter ihrer Aufgabe verstehen. Die im Ersten Teil unseres Buches referierten Lehreruntersuchungen hatten ja den grundsätzlichen Ideologieverdacht gegen die politische Weltvorstellung der Lehrer schon aufgeworfen.

3. Kritik der anthropologischen Grundlagen. Unter diesem Aspekt müssen die Vorstellungen über den jugendlichen Partner kontrolliert werden. Stimmt das, was über seine Fähigkeiten, Interessen und Möglichkeiten vermutet wird, mit den Erkenntnissen der Jugendforschung überein? Kann der Jugendliche das, was ihm in der politischen Bildung angesonnen wird, in seiner Umwelt auch praktizieren? Trifft es zu, daß bestimmte Unterrichtsmethoden im Unterschied zu anderen das Lernen erleichtern? Wird das Politische dort aufgesucht, wo es dem Jugendlichen selbst begegnet, nämlich vor allem in seinen täglichen Konflikten? Helfen die Lehrinhalte dem späteren Erwachsenen zur politischen Mitbestimmung?

Solange die Pädagogik ihre Erfahrungen mit Jugendlichen vorwiegend aus der Schule bezog, war sie immer einem geradezu beruflich bedingten Irrtum ausgeliefert. Er schien zu genügen, den Sinn, die Aufgabe, die Inhalte und Methoden des Lernens aus den Grundsätzen der Entwicklungspsychologie abzuleiten. Pädagogische Jugendkunde war vor allem entwicklungspsychologische Jugendkunde. Sowohl die jüngste sozialwissenschaftliche Jugendforschung wie auch Untersuchungen und praktische Erfahrungen in außerschulischen Bereichen wie in der freien Jugendarbeit oder im Tourismus haben gezeigt, daß gerade die sozio-kulturellen Bedingungen der Umwelt den entwicklungspsychologischen Merkmalen erst die konkrete Ausprägung geben. "Pubertät" etwa ist auch heute noch ein Luxus, den sich die wenigsten Jugendlichen leisten können. Insbesondere die "politische Existenz" des Kindes und Jugendlichen mußte neu entdeckt werden. Indem Kinder und Jugendliche heute einer bestimmten Familie mit einem bestimmten sozio-ökonomischen Status angehören, oder indem sie eine

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Schule besuchen oder in einem Betrieb arbeiten, führen sie objektiv eine politische Existenz und stehen bereits durchaus im Ernst der politischen Auseinandersetzung. Die Konflikte der Umwelt muß man ihnen nicht mehr mühsam elementarisieren.

4. Wissenschalliche Kritik der Lehrinhalte. Daß in Lernprozessen die jeweiligen fachwissenschaftlichen Aspekte nicht ungebrochen zum Thema werden können, wurde bereits mehrfach erwähnt und ist auch kaum noch umstritten. Das kann jedoch nicht heißen, daß die tatsächlichen Lehrinhalte einer fachwissenschaftlichen Kritik unzugänglich wären. Zwar kann die Didaktik, definiert als Theorie von der Totalität der zur Debatte stehenden pädagogischen Sachverhalte, nicht einfach einzelwissenschaftliche Perspektiven und Ergebnisse addieren; vielmehr hat sie die Veränderungen im Forschungs- und Diskussionsstand dieser Wissenschaften als Symptom und Ausdruck gesellschaftlicher Veränderungen selbst zu verstehen, gleichsam als deren ideologische Begleitung, und hier ebenfalls im Sinne ihrer Leitperspektiven Emanzipation und Mitbestimmung die fortschrittlichen von den rückschrittlichen Momenten zu trennen. Dies kann sie jedoch nur, wenn sie im Namen der jeweils fortschreitenden einzelwissenschaftlichen Erkenntnisse die daran gemessen "rückschrittliche" Praxis des Unterrichts kritisiert und für eine Übersetzung des Erkenntnisfortschritts in die Schule sorgt. Erst als z. B. die didaktischen "Demokratie-Diktatur-Modelle" und die "Totalitarismus-Modelle" von den politischen Wissenschaften kritisiert und revidiert wurden, konnten diese Korrekturen auch den didaktischen Konstruktionen als Kritik vorgehalten werden.

5. Kritik des Vermittlungsprozesses. Dieser kritische Aspekt gilt dem Unterrichtsprozeß, der Unterrichtskommunikation, im engeren Sinne. Gemäß den vorangegangenen Überlegungen zum Verhältnis von Didaktik und Methodik können wir diesen Aspekt auch "Kritik der Methodik" nennen. Weitere Überlegungen dazu müssen einem eigenen Band vorbehalten bleiben.

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Die konstruktive Funktion der politischen Didaktik
 

Der Ausgangspunkt aller didaktischen Überlegungen ist also die Kritik, aus ihr nur können bessere Perspektiven entwickelt werden. Und nur ein Teil der kritischen Aufgaben konnte in diesem Buch geleistet werden. Vom Ansatz her versteht sich also die politische Didaktik als kritisches Gegenüber einer immer schon vorhandenen und vorgegebenen Erziehungswirklichkeit, die sie zwar durch kritische Aufklärung verbessern, nicht aber im ganzen faktisch oder auch nur im geistigen Entwurf eindeutig herstellen kann. In diesem kritischen Sinne schafft sie gleichsam unentwegt das schlechte Gewissen für eine verbesserungswürdige und verbesserungsfähige Praxis.

Geht sie jedoch zu konstruktiven Vorschlägen für die Verbesserung der Praxis über, so kann sie diese nur mit jeweils geringer Reichweite aus der dialektischen Analyse der bestehenden Wirklichkeit entwickeln; denn ihre Ortsbestimmung im Rahmen historisch-dynamischer Kontexte erlaubt es ihr nicht, der verbesserungswürdigen Gegenwart in idealistischer Antithetik die wünschenswerte Zukunft nur gegenüberzustellen. Konstruktive Vorschläge zur Verbesserung der Praxis können nur im Vergleich zur bestehenden vorgenommen werden und müssen sich auf erreichbare Maßnahmen und Strategien erstrecken. Derartige didaktische Konstruktionen können also immer nur als begründete Vorschläge verstanden werden, nicht etwa als eindeutige und unbestreitbare Ableitungen und Anweisungen. Immer muß man vielmehr mit der Möglichkeit rechnen, daß aus derselben kritischen Analyse auch andere didaktische Vorschläge erwachsen können. Die Berufung auf die kritische Analyse vermag den offenen Diskussionscharakter der Vorschläge nicht aufzuheben. So ist auch unsere eigene didaktische Konstruktion nur ein möglicher, keineswegs der einzig mögliche Vorschlag. Sein operativer, fragmentarischer Charakter erwächst notwendig aus dem ihm zugrunde liegenden Typus des historisch-dynamischen Den-

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kens selbst. Dies ist auch der Grund dafür, daß didaktische Konstruktionen dieser Art von Zeit zu Zeit immer wieder neu überarbeitet werden müssen.
 

Politische Didaktik und allgemeine Didaktik
 

Die letzten Überlegungen legen die Vermutung nahe, daß politische Didaktik in unserer Vorstellung eine Neuformulierung dessen enthalte, was herkömmlich "allgemeine Didaktik" genannt wurde. Wolfgang Klafki (1959 und 1964), dem wir vor allem die neuentstandene theoretische Diskussion über die Didaktik verdanken, hat darauf hingewiesen, daß alle didaktischen Einzelentscheidungen so lange unvollständig reflektiert werden, wie man sie nicht auf das wünschenswerte Gesamtergebnis des Bildungs- und Erziehungsprozesses hin bedenkt. Für dieses wünschenswerte Gesamtergebnis steht bei ihm der Begriff der "Bildung".

Wie wir schon bei der Erörterung der politischen Lernziele dargelegt haben, besteht die Schwierigkeit nun darin, diese "Endgröße" Bildung so konkret wie möglich zu operationalisieren und damit zu verhindern, daß Bildung nichts weiter ist als eine idealistische Sammlung von wünschbaren menschlichen Verhaltensweisen, die aber mit der gesellschaftlichen Realität nicht mehr zu vermitteln und insofern eben "idealistische" sind. Nun könnte man im Sinne unseres Ansatzes den formalen Begriff der Bildung so inhaltlich füllen, daß die politisch-didaktischen Leitvorstellungen der Emanzipation und Mitbestimmung - in jeweils realisierbarer Begrenzung - gleichsam die obersten Lernziele darstellen, aus denen alle anderen abzuleiten sind oder denen alle anderen unterzuordnen wären Aber ein solcher Vorschlag wäre auch nur höchstens auf den ersten Blick plausibel.

Wenn man nämlich davon ausgeht, daß Emanzipation und Mitbestimmung die leitenden politischen Lernziele sind,

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die auch nur im Rahmen einer bestimmten politisch-historischen Theorie formuliert werden können, dann folgt daraus zwar, daß solche Lernziele "fächerübergreifenden" Charakter haben, daß sie also nicht nur die Lernziele eines bestimmten Unterrichtsfaches sind, sondern eine Zieldimension aller Unterrichtsfächer darstellen, die in einem bestimmten Fach nur mit Vorrang angestrebt und dort vor allem für die anderen Fächer thematisiert wird. Würde man sich jedoch in der geplanten Pädagogik ausschließlich auf die Ziele des politischen Unterrichts kaprizieren, so ginge der Zweck verloren, dem Emanzipation und Mitbestimmung letzten Endes dienen sollen. Die politischen Ziele der Emanzipation und Mitbestimmung werden ja nicht "als solche" angestrebt, als Selbstzweck, sondern sie sollen möglich machen, was ohne ihre Realisierung nicht oder nur erheblich eingeschränkt möglich wäre, z. B. die Optimalisierung menschlicher Bedürfnisse (etwa ästhetischer oder kommunikativer Bedürfnisse). Ästhetische Phänomene und Bedürfnisse z. B. sind aber nicht ohne Rest unter politische Kategorien subsumierbar; versucht man dies doch, so geht der Sinn politischer Emanzipation selbst verloren. Ästhetische Kategorien (Fragen) sind nicht identisch mit politischen, obwohl sie auch an politische Gegenstände gerichtet werden können wie umgekehrt politische Fragen an ästhetische Gegenstände (wobei die Frage, welche Zusammenhänge zwischen ästhetischen und politischen Kategorien bestehen, hier unerörtert bleiben soll).

Im Hinblick auf das Beispiel der ästhetischen Erziehung können wir also folgern: Zwar kann der Sinn ästhetischer Erziehung offenbar nur im Rahmen einer an zunehmender Emanzipation und Mitbestimmung orientierten politischen Erziehung ermittelt werden, aber gleichwohl ist die eine didaktische Aufgabe nicht unter die andere einfach zu subsumieren.

Die Frage stellt sich jedoch etwas anders, wenn man den Gesichtspunkt des sozio-ökonomischen Status bzw. der Klassenzugehörigkeit mit einbezieht. Wenn es auch prinzipiell nicht möglich ist, die übrigen didaktischen Aufgaben

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unter die politische Didaktik zu subsumieren, so schließt das die Setzung bestimmter Schwerpunkte nicht aus. Sieht man etwa auf den unterprivilegierten Status der Arbeiterkinder, dessen Abstand zu den Versprechungen des Grundgesetzes relativ groß ist, so muß daraus durchaus eine gewisse - auch quantitative - Bevorzugung des politischen Unterrichts in den Schulen abgeleitet werden; denn solange der unterprivilegierte Status nicht wenigstens relativ behoben ist, kommt in diesem Falle (und für diesen geschichtlichen Zeitpunkt) der politischen Bildung eine Vorrangstellung zu, wie sie in den Stundenverteilungen tatsächlich jedoch nicht annähernd in Erscheinung tritt. Vielmehr kommt in der unangemessenen quantitativen Geringfügigkeit des politischen Unterrichts nur die Tatsache zum Ausdruck, daß den für das Schulwesen zuständigen Institutionen an einer Steigerung der politischen Mitbestimmung dieser Bevölkerungsgruppen nicht gelegen ist. Aus diesem Grunde ist auch verständlich, daß von politisch engagierten Lehrern bestimmte Fächer (z. B. Kunstunterricht) in Richtung auf eine politische Didaktik "umfunktioniert" werden, obwohl dieser Ausweg auf die Dauer keine didaktisch überzeugende Lösung sein kann (vgl. z. B. Giffhorn 1971). Zu fordern wäre, daß für die Sekundarstufe II der Anteil des politischen Unterrichts auf die Dauer mindestens ein Fünftel der Gesamtstundenzahl beträgt, ohne Hinzurechnung der "Arbeitslehre".

Die politisch-didaktischen Kategorien, die das didaktische Kernstück des politischen Unterrichts bilden, markieren also das Zentrum der didaktischen Überlegungen im politischen Unterricht selbst; sie können (und sollen) jedoch auch Leitgesichtspunkte für andere Fächer sein - in Ergänzung zu deren jeweils spezifischen didaktischen Kategorien. Denn wenn z. B. bei einem Fach wie "Arbeitslehre" die in den zur Debatte stehenden Sachverhalten beschlossenen politischen Momente nicht berücksichtigt werden, so werden damit auch Chancen politischer Emanzipation vorenthalten, was - wie in allen solchen Fällen - objektiv nur zu deren Gunsten geschehen kann, die von der

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Unaufgeklärtheit der anderen ökonomisch und politisch profitieren.

In diesem Sinne ist die politische Didaktik eine "Aufgaben-Didaktik"; sie thematisiert einen Komplex von Lernaufgaben, der aus dem Sinn unserer politischen Verfassung erwächst und den Unterrichtsfächern - und den auf diese bezogenen Hochschulfächern - vorgegeben ist. Aus diesem Grunde gehört die politische Didaktik auch nicht als "Fachdidaktik" in das Fach Politik oder Soziologie, sondern in die allgemeine Erziehungswissenschaft.

Eine Identität von politischer Didaktik und allgemeiner Didaktik läßt sich also nicht plausibel begründen, wohl aber, daß der politischen Didaktik im Rahmen anderer didaktischer Aufgaben eine Vorrangstellung gebührt, weil erst ein möglichst "richtiges" politisches Bewußtsein diejenigen gesellschaftlichen Verhältnisse schaffen kann, die den übrigen Lernaufgaben zu ihrem eigentlichen Sinn verhelfen. Aber vielleicht heißt das auch, daß die Frage nach einer allgemeinen Didaktik überhaupt zu einer falschen Frage geworden ist, daß es nicht zwingend ist - wie Klafki annimmt - , das wünschenswerte Gesamtergebnis des Sozialisationsprozesses immer im Blick zu haben. Soll nämlich ein solches Gesamtergebnis mehr sein als eine bloß formale Abstraktion, die keine Wirkung auf praktische Entscheidungen haben kann, so müßte sie ihrerseits wieder kontrovers sein - so wie die Gesellschaft selbst kontrovers ist. In einer Klassengesellschaft kann es ebensowenig in der Pädagogik wie in der Politik inhaltliche Endziele geben, die des Beifalls aller sicher sein können. Ebenso wie in der Politik kann es in der Pädagogik vielmehr nur konkurrierende Endzielvorstellungen geben, sowie der jeweiligen geschichtlichen Situation angemessene, mehr oder weniger ebenfalls konkurrierende kurzfristige Zielstrategien, die im Laufe der Zeit ständig überprüft und gegebenenfalls revidiert werden müssen. Es kommt nicht auf "Endziele" eines Sozialisationsprozesses an, sondern auf die Ermittlung der jeweils nächstmöglichen Teilziele im geschichtlichen und biographischen Prozeß.

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Selbst im Hinblick auf gesellschaftlich partikulare Endziele gilt unser Einwand: Welchen Sinn kann es haben, heute z. B. das wünschenswerte Endergebnis der Sozialisation eines Arbeiterkindes sich auszumalen, wenn die gesellschaftliche Entwicklung bis zu seiner Volljährigkeit nicht ebenfalls antizipierbar ist? Plausibler erscheint es da schon, unsere Leitgesichtspunkte zunehmender Emanzipation und Mitbestimmung mit dem von der Curriculum-Theorie entwickelten Begriff der "Situationsanalyse" und unseren früheren Überlegungen zur "Rollen-Erweiterung" zu verbinden. Aufgabe der Zielanalyse wäre dann, charakteristische Situationen für Mitbestimmung zu ermitteln, die dort vorhandenen Mitbestimmungsmöglichkeiten zu analysieren und für deren Vergrößerung Rollen-Erweiterungen zu lernen. Dieses Verfahren wäre nicht nur praxisnäher, sondern auch schneller revidierbar. Im Rahmen historisch-dynamischer Konzepte wie des unseren, eines Konzeptes also, das vom Standpunkt des jeweils erreichten historischen Entwicklungsstandes aus argumentiert, hat die Frage nach einer "allgemeinen Didaktik" keinen zwingenden theoretischen Stellenwert mehr. Sie scheint vielmehr gebunden an eine "idealistische" Position, die mit der Antithetik von Sein und Sollen anstatt von einer materiellen Ana]yse historischer Prozesse ausgehend dialektisch operiert.

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 URL des Dokuments: : http://www.hermann-giesecke.de/76pd3.htm

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