Hermann Giesecke

Gesammelte Schriften

Band 6: 1967

© Hermann Giesecke

Inhaltsverzeichnis aller Bände

Register


Zu dieser Edition
Dieser 6. Band meiner gesammelten Schriften enthält Arbeiten aus dem Jahre 1967. In diesem Jahr erhielt ich einen Ruf an die Pädagogische Hochschule Göttingen als Professor für Pädagogik und Sozialpädagogik.  Nähere biographische Angaben finden sich in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen, Weinheim: Juventa Verlag  2000.

Die Edition der Schriften in diesem Band bemüht sich um Vollständigkeit.  Aufgenommen wurden nur  bereits gedruckte Texte. Nicht aufgenommen wurden Bücher ( in diesem Jahr: Pädagogik des Jugendreisens (mit Annelie Keil und Udo Perle), München 1967, und Jungsein in Deutschland, München 1967).Die Texte sind nach ihrem Erscheinungsjahr geordnet.
Die Plazierung der Fußnoten wurde vereinheitlicht; sie befinden sich nun am Ende des jeweiligen Beitrags.  Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurden die Originale jedoch nicht verändert. Nachträgliche Anmerkungen des Herausgebers sind  durch (*) oder durch ein Namenskürzel ("H.G.") gekennzeichnet. Um die Zitierfähigkeit der Texte zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.
Die Beiträge werden von  "1"  an numeriert, die  vorangehenden Arbeiten befinden sich in den früheren Bänden.


 

Inhalt von Band 6

54. Zur Didaktik der Mitarbeiterfortbildung (1967)
55. Gesellschaftliche Faktoren des sozialpädagogischen Bewußtseins (1967)
56. Didaktik der politischen Bildung im außerschulischen Bereich (1967)

54. Zur Didaktik der Mitarbeiterfortbildung (1967)

(In: deutsche jugend, H. 3/1967, S. 107-116)

 "Fortbildung" wird immer stärker zu einem Hauptproblem unserer pädagogischen Diskussion. Während man lange Zeit glauben konnte, die im Kindes- und Jugendalter erworbene "Allgemeinbildung" und "Berufsbildung" reiche im wesentlichen ein Leben lang aus, wird in allen Berufen - gerade auch in den pädagogischen - ein "Umlernen" von Zeit zu Zeit immer wieder erforderlich. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Die gesellschaftliche Entwicklung und - diese begleitend - die wissenschaftlich-technische Entwicklung verändern die äußeren Umstände und die in ihnen lebenden Menschen so sehr, daß "alte" Erfahrungen und früher einmal Gelerntes hinfällig und buchstäblich "un-praktisch" werden.

Auch in der Jugendarbeit gewinnt diese Einsicht zunehmend Raum, und es gibt wohl heute keinen Träger mehr, der nicht für seine ehren- oder hauptamtlichen Mitarbeiter "Fortbildungskurse" veranstaltet. Sucht man allerdings in den Programmen und Veröffentlichungen nach einem didaktischen Konzept für solche Fortbildungsbemühungen, das heißt nach einer Antwort auf die Frage, in welcher pädagogischen Organisation und Ordnung solche Fortbildung veranstaltet werden solle, so sucht man vergebens. Es scheint zu genügen, Tagungen mit einer Reihenfolge von Referaten und Diskussionen über ein Thema zu planen, über das mehr zu wissen zweifelsfrei sinnvoll ist. Pädagogische Probleme, das heißt Lernprobleme, scheint es für die Mitarbeiter gar nicht zu geben, sondern nur für diejenigen, mit denen diese Mitarbeiter dann anschließend wieder zu tun haben.
 

Der Begriff der Fortbildung

Wir wollen im folgenden solchen Lernproblemen nachgehen und uns dabei an Fortbildungskursen für Mitarbeiter der politischen Bildung orientieren, obwohl die grundsätzlichen didaktischen Überlegungen auch für andere Inhalte der Fortbildung gelten.

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Gemeinhin wird "Fortbildung" im Sinne einer Art "Hausbau-Theorie" verstanden: So wie ein Haus vom Keller zum Dach und nicht umgekehrt gebaut wird, so muß sich auch die Bildung und Ausbildung stufen: auf die "elementaren" Kenntnisse bauen sich die weiterführenden und vertiefenden Kenntnisse so auf, daß die ersteren die letzteren erst möglich machen. Und die Fortbildungskurse bauen dann gleichsam nur weitere Stockwerke auf das bis dahin fertige Gebäude. Diese Vorstellung ist aus dem schulischen Modell des "Lehrgangs" entlehnt, mit dem die Schule planmäßig über lange Jahre ihre Schüler in ein Kulturgebiet einführt. Sie vereinfacht aber die Lernprobleme erheblich. Zwar kann man davon ausgehen, daß elementare Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben Voraussetzungen sind für die Erkenntnis sprachlich ausdrückbarer Kultur- und Lebenszusammenhänge. Gleichwohl aber findet das "Hausbau-Modell" sehr bald seine Grenze; denn neue Erkenntnisse, Einsichten und Erfahrungen verändern immer auch den ganzen Zusammenhang der Vorstellungen. Das erste Stockwerk verändert gleichsam die Grundstruktur des Kellers: eine Vorstellung, die architektonisch einigermaßen absurd erscheint und zeigt, wie falsch das Bild ist. Daß immer die ganze Vorstellungswelt betroffen wird, liegt an dem menschlichen Bedürfnis, Wissen und Kenntnisse mit Sinn zu versehen. "Sinnvoll" aber ist niemals eine additive "Bausteinchenstruktur" des Wissens, sondern nur ein innerer Zusammenhang des Wissens und der Vorstellungen. Mit anderen Worten: auf der Landkarte der Vorstellungen gibt es keine "weißen Flecken", die nach und nach durch Unterricht beseitigt werden, sondern immer schon mehr oder weniger primitiv und einfach strukturierte Gesamtvorstellungen - jedenfalls über solche Sachverhalte, die für "das Leben" mehr oder weniger wichtig sind. Daraus folgt: "Fortbildung" heißt nicht, neue Bausteinchen der Erkenntnis den bisherigen hinzuzufügen, sondern den immer schon vorhandenen Vorstellungszusammenhang zu verändern, entweder differenzierter auszugestalten oder an neue Erkenntnisse anzupassen. Es sind nicht zuletzt die modernen kybernetischen Informations-Modelle gewesen, die uns den Blick für diese Zusammenhänge freigelegt haben, Modelle, die davon ausgehen, daß neue Informationen nur im Rahmen bereits vorhandener Interpretationssysteme verarbeitet werden können. Nur am Rande sei vermerkt, daß das universale Problem der Fortbildung auch das Problem der "Grundbildung" neu stellt: Die Frage, was in unseren Schulen unbedingt gelernt werden muß, stellt sich in einem anderen Licht, wenn man weiß, daß eine lebenslange Fortbildung folgen wird.

So gesehen läßt sich die allgemeine Aufgabe der Fortbildung so definieren: Fortbildung ist die didaktisch geplante Teilnahme am weiteren Fortschritt der wissenschaflichen Erkenntnisse, insofern sie die eigenen sozialen Rollen und Aufgaben mittelbar oder unmittelbar betreffen. Die Unterstreichung der Wissenschaft mag in diesem Zusammenhang vielleicht zunächst überraschen. Aber wir leben in einer "wissenschaftlichen Zivilisation", und in ihr sind nur noch wissenschaftlich kontrollierbare und mit wissenschaftlichen Methoden überprüfbare Erkenntnisse "praktisch" zuverlässig. Alle Versuche, die Inhalte der Fortbildung von anderen Ansatzpunkten her zu bestimmen, müssen daher notwendig zu falschen Vorstellungen führen, die ihrerseits in der Praxis dann wieder zu falschem oder erfolglosem Handeln verleiten. Besonders betroffen von diesem Dilemma sind die zahllosen ehrenamtlichen Mitarbeiter in der Jugendarbeit, die immer wieder feststellen

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müssen, daß alte, früher einmal zutreffende und erfolgreiche Vorstellungen immer weniger Realitätswert besitzen, ohne daß es, schon aus zeitlichen Gründen - solange es keinen "Bildungsurlaub" gibt - , möglich wäre, diesen "Rückstand an Bewußtsein" durch didaktisch sauber durchdachte Fortbildung auszugleichen.

Formen der Fortbildung

Wenden wir uns nun den verschiedenen Formen der Fortbildung zu, spezialisiert im Hinblick auf die politisch-pädagogische Fortbildung. Die Aufzählung geschieht nicht aus Lust an der Vollständigkeit, sondern um zum Bewußtsein zu bringen, daß es neben der in Tagungen organisierten Fortbildung andere Formen gibt, die durchaus regelmäßig "von zu Hause aus" wahrgenommen werden können. Manche Veranstalter von Fortbildung scheinen die einfache Tatsache zu vergessen, daß es seit einigen Jahrhunderten die Erfindung der Buchdruckerkunst gibt.

1. Da ist zunächst die regelmäßige Lektüre von Zeitschriften zu nennen. Leider scheinen viele Verbandszeitschriften die Aufgabe noch nicht begriffen zu haben, wissenschaftliche Erkenntnisse in didaktisch überzeugender Weise für ihre Leser zu übersetzen. Und zugegebenermaßen ist diese Aufgabe weder von den Wissenschaften noch von der Pädagogik bisher deutlich genug gesehen worden: Es gibt zwar zahlreiche Fachzeitschriften für den, der ein bestimmtes Wissenschaftsgebiet studiert hat und nun ständig "auf dem laufenden bleiben" will. Aber für diejenigen Mitarbeiter in der Jugendarbeit, die keine wissenschaftliche Grundausbildung gehabt haben, sieht der Zeitschriftenmarkt schon sehr viel ärmer aus. Dennoch sollte jeder Mitarbeiter wenigstens eine, möglichst zwei verschiedene Zeitschriften regelmäßig kaufen und lesen, und zwar solche, die seiner Verständnisfähigkeit optimal entsprechen. Zeitschriften sind diejenigen Publikationen, in denen sich neue Diskussionen, Problemstellungen und wissenschaftliche Ergebnisse am ehesten widerspiegeln.

2. Die billigen Ausgaben der Taschenbücher und Paperbacks haben im Unterschied zu früheren Zeiten die Fortbildung durch die eigene Lektüre erheblich erleichtert. Hier besteht das Problem vor allem darin, in dem unübersehbaren Angebot das Wichtigste herauszufinden. Dieser didaktischen Aufgabe kommen die Besprechungsteile der in der Jugendarbeit verbreiteten Zeitschriften nur unvollkommen nach. Die Auswahl der besprochenen Bücher ist meist noch sehr zufällig, und die Besprechungen selbst lassen nicht immer erkennen, daß es in erster Linie nicht auf wissenschaftliche Detail-Auseinandersetzungen ankommt, sondern darauf, ein dem Leser vermutlich unbekanntes, aber für ihn wichtiges Buch gründlich vorzustellen und ihn zur Lektüre zu ermuntern.

3. Gerade für die politische Bildungsarbeit ist die regelmäßige Benutzung der anspruchsvollen Presse und vor allem auch des Fernsehens unerläßlich. Die großen politischen Magazinsendungen des Fernsehens wie "Panorama", "Report", "Monitor" und "Weltspiegel" sind wichtige Möglichkeiten der Fortbildung, zumal die didaktische Struktur dieser Sendungen aktualitätsbezogen ist, das heißt, daß sie nicht "an sich" irgendwelche Informationen vermitteln, sondern solche, die

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zur Klärung und Lösung eines jeweils bestehenden Problems jetzt und hier gebraucht werden.

Erst wenn wir uns diese jedermann zugänglichen und zum Teil noch verbesserungsfähigen Fortbildungsmöglichkeiten klargemacht haben, können wir näher bestimmen, welchen Sinn eigens geplante Fortbildungstagungen haben können. Sie müssen sinnvollerweise etwas leisten, was die übrigen Möglichkeiten nicht oder nur unvollkommen leisten können.

Didaktische Grundprobleme

Für die didaktische Planung solcher Tagungen müssen wir uns zwei allgemeine didaktische Grundprobleme bewußtmachen, die zwar für alle Vorgänge des Lehrens und Lernens gelten, aber für unseren Fall spezifische Konsequenzen haben.

1. Das erste Problem könnte man als die "Quadratur des Kreises in der Pädagogik" bezeichnen: das Problem des Widerspruchs von Lernen und Anwendung des Gelernten. Wir lernen im Grunde nur dadurch dauerhaft, daß wir innerhalb eines Sachbereiches seiner inneren Logik gemäß systematisch vorgehen. So kann ich die Bedeutung der politischen Parteien in unserer Gesellschaft nur dann verstehen lernen, wenn ich mir systematisch den ganzen Prozeß der politischen Willensbildung klarmache, innerhalb dessen die politischen Parteien einen bestimmten Ort haben. Und diese Systematik muß sich - bis weit in die wissenschaftliche Terminologie hinein - zumindest "anlehnen" an die systematische Darstellung der politischen Wissenschaften. Daraus folgt ganz praktisch: Das systematische Referat desjenigen, der für die zur Debatte stehende Sache kompetent ist, ist keineswegs didaktisch "unmodern" geworden, wie die einseitige Bevorzugung gruppenpädagogischer Methoden glauben machen könnte. Auch heute bleibt es dabei: Gelernt wird letztlich nur dort, wo ein Sachverhalt systematisch erschlossen wird, und das hat ein Informationsgefälle zur Folge: Es gibt Leute, die diese systematische Kenntnis haben, und andere, die sie von ihnen lernen müssen. Nichts wäre heute gefährlicher als eine falsche Romantik, die die Bedeutung der Sachverhalte und ihrer begrifflich-systematischen Erschließung zugunsten bloß kommunikativer Regeln zu kurz kommen ließe. Aber das ist nur die eine Seite des Problems; denn der in einer solchen Systematik erworbene Wissenszusammenhang ist nicht ohne weiteres anwendbar auf ein bestimmtes, zur Entscheidung anstehendes Problem. Aus einer systematischen Kenntnis des Prozesses politischer Willensbildung folgt noch nicht, ob ich für oder gegen eine staatliche Parteienfinanzierung bin. Um in dieser Frage zu einer vernünftigen Entscheidung zu kommen, muß ich mein Wissen "umstrukturieren", in eine neue Ordnung bringen. Mit einem Wort: Wenn ich etwas lerne, hat das Wissen eine andere innere Ordnung, als wenn ich es anwende. Das eine folgt nicht unbedingt aus dem anderen, sondern ich muß beide Formen der Wissensorganisation eigens trainieren.

Dieses Problem schlägt sich in unserer Fortbildungspraxis unter anderem in der Weise nieder, daß die Tagungen gleichsam in zwei Teile zerfallen: Zuerst wird über die zur Debatte stehende "Sache" referiert, und dann kommt der pädagogische Zusatz, meist in Gestalt des Gruppenpädagogen, der dann sagt, wie man das

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Gelernte nun in der Praxis anwenden könne. Es ist dies die klassische Unterscheidung von Didaktik und Methodik: Erst lerne ich eine Sache, und dann lerne ich die Methoden, mit denen ich die Sache für andere übersetze. Der Denkfehler dieser Trennung liegt aber darin, daß ich ja durch eine bestimmte Methode der Darbietung die Sache selbst erst mit herstelle: Wenn ich über dasselbe Thema einen Vortrag halte, einen Film drehe, in Gruppen diskutiere, ein Buch schreibe oder ein Projekt mache, dann handelt es sich genaugenommen gar nicht mehr um ein und dieselbe Sache, sondern um sehr verschiedene Kombinationen und Strukturen von Wissen und Deutungen. Dies ist der Grund, weshalb die eben genannte Zweiteilung nicht gutgehen kann und auch nicht selten ein Gefühl der Unzufriedenheit hinterläßt. Unser didaktischer Vorschlag wird also darauf hinauslaufen, das Problem der "pädagagischen Übersetzung" auf die Praxis der Mitarbeiter nicht zu einem besonderen Punkt der Tagesordnung zu erheben, sondern von vornherein zum Ordnungsprinzip der Tagungsgestaltung selbst zu machen. Davon wird noch die Rede sein. Zunächst aber wollen wir nur noch eine Folgerung ziehen: Die Übung, Wissen auf ein bestimmtes Problem hin zu ordnen, bedarf weniger des systematischen Referates als vielmehr kooperativer Formen der Gruppendiskussion und der Arbeitsgemeinschaft. So haben wir bisher also zwei Aspekte der Tagungsdidaktik gefunden: das systematische Lernen und die gemeinsame Übung der Anwendung des Gelernten.

2. Aber damit ist die allgemeine didaktische Problematik noch nicht erschöpft. Denn die Mitarbeiter, die zu Fortbildungstagungen kommen, kommen ja nicht mit "weißen Flecken" auf der Landkarte ihrer Vorstellungen, sondern sie bringen zu dem Thema der Tagung bereits eine in sich zusammenhängende und subjektiv sinnvolle Vorstellung mit. Sie können es sich ja gar nicht leisten, über das, was in ihrer Tätigkeit gebraucht wird, keine solche Vorstellung zu haben. Bei Fortbildungstagungen geht es also weniger darum, neue Informationen in die alten Vorstellungen zu gießen, sondern darum, den Vorstellungszusammenhang als solchen zu korrigieren und zu verändern. Fortbildung ist ja nicht dadurch nötig geworden, daß die "alten Hasen" der Jugendarbeit ein paar empirische Ergebnisse der Jugendforschung nicht kannten, sondern dadurch, daß die neuen Forschungen die Gesamtvorstellung von "Jugend" mehr oder weniger radikal verändert haben.

Und hier liegt das entscheidende Problem unserer Fortbildungskurse: Neue Informationen nimmt fast jeder bereitwillig an, aber gegen eine Uminterpretation seines Interpretationsmodells - gegen eine neue "Erfahrung" - setzt er sich meist zur Wehr. Dabei sind die meisten Mitarbeiter der Jugendarbeit in einer besonders üblen Lage: Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen haben auch die Hauptberuflichen nicht gelernt, was sie ihren Jugendlichen beibringen sollen. Man erwartet von ihnen, daß sie nahezu alles, was Jugendliche interessiert, tun, aber sie haben meist nicht einmal die Elemente moderner Jugendkunde gelernt. Evangelische Gemeindehelferinnen sollen plötzlich "politische Bildung" betreiben, obwohl sie in ihrer Ausbildung vielleicht keine einzige Unterrichtsstunde über Soziologie gehabt haben; wen wundert es da, daß sie dabei unentwegt in theologisch so naheliegende "Gewissensprobleme" ausweichen? Von wenigen Ausnahmen abgesehen sind die Mitarbeiter in der Jugendarbeit für das, was sie tun sollen, chronisch "unter-ausgebildet". Was sie auch immer mit ihren Jugendlichen tun,

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die Wahrscheinlichkeit ist groß, daß die Gruppe mehr von der zur Debatte stehenden Sache weiß als die Mitarbeiter selbst. Die gruppenpädagogisch orientierte Fortbildung der Vergangenheit hat aus dieser Not eine Tugend gemacht. Sie hat gemeint, es komme auch gar nicht darauf an, daß der Mitarbeiter viel oder wenig wisse, er solle die Gruppe ja nicht "führen", sondern nur "koordinieren" und in Regeln bringen, was die Gruppe tue oder tun wolle. Aber sie hat damit nur verstärkt, was in manchen Bereichen der Jugendarbeit nachgerade krankhafte Züge angenommen hat: eine aggressive Erfahrungsfeindschaft. Kein Mensch kann auf die Dauer aushalten, daß er nicht wenigstens an zwei oder drei Punkten vor seinen pädagogischen Partnern einen sachlichen Vorsprung hat, der ihm Selbstbewußtsein vermitteln kann, zumal in einer Gesellschaft, in der das soziale Ansehen von irgendwelchen sichtbaren Leistungen abhängt. Ein Erzieher, der nicht von irgend etwas mehr versteht als seine jugendlichen Partner, ist für diese uninteressant, mag er sonst auch ein "netter Kerl" sein. Bedauerlich ist, daß auch die sozialpädagogische Ausbildung dieser Tatsache nicht genügend Rechnung trägt.

So liegt die psychologische Hauptschwierigkeit unserer Fortbildungstagungen darin, daß sie in erster Linie das angeschlagene Selbstbewußtsein und Selbstwertgefühl stützen müssen. Aber je größer, gemessen an den praktischen Anforderungen, das "Ausbildungs-Defizit" ist, um so größer wird die Abwehr dagegen, etwas Substantielles dazuzulernen: Der einmal fix und fertige Vorstellungszusammenhang ist die Waffe, mit deren Hilfe allein man überleben zu können glaubt.

Diese Bemerkungen sind keine Diffamierung unserer Mitarbeiter, sondern eher schon eine Anklage gegen die falschen Propheten, die ihnen Steine für Brot verkaufen, indem sie ihnen einreden, sie müßten weniger etwas von den "Sachen" als vielmehr von den Gruppentechniken verstehen. In Wahrheit aber entsteht Selbstbewußtsein immer dadurch, daß ich von dem, was ich mit anderen tue, so viel verstehe, daß ich mich im wörtlichen Sinne damit "sehen lassen" kann. Mit einem Wort: Ich plädiere für eine höchstmögliche Sachbezogenheit von Fortbildungstagungen. Für die Praxis der Fortbildungstagungen haben diese Überlegungen aber noch eine weitere Konsequenz: Die Tagungsorganisation muß auf diese emotionalen Barrieren Rücksicht nehmen, sie kann "Lernbereitschaft" ihrer Teilnehmer nur bis zu einem gewissen Grade voraussetzen und muß sie selbst erst mit herstellen. Fortbildungstagungen können also nicht nur von den stofflichen Themen her konzipiert werden.

Die Fortbildungstagung

Nach diesen ausführlichen, aber notwendigen grundsätzlichen Bemerkungen können wir uns nun mit dem Aufbau einer politisch-bildenden Fortbildungstagung näher und relativ kurz beschäftigen.

Ich habe an anderer Stelle dargelegt und begründet, daß der Sinn der politischen Bildung darin besteht, Menschen zur vernünftigen Teilnahme an politischen Entscheidungen zu befähigen (vgl. "Didaktik der politischen Bildung", München 1965). Entscheidungen aber setzen Konflikte oder wenigstens offene Situationen voraus. Wo es sie nicht gibt, wo "alles in Ordnung" ist, kann sinnvollerweise nicht

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von Entscheidungen und politischer Beteiligung die Rede sein. Demnach besteht der Sinn politischen Lernens darin, politische Konflikte, die die Pädagogik sich nicht aussuchen kann, sondern die ihr von der geschichtlich-politischen Entwicklung vorgegeben sind, im Rahmen der realen politischen Willensbildung mit zu entscheiden. Dieser Sinn ist für die Erzieher der gleiche wie für die jugendlichen Partner, und beide müssen demnach im Grunde das gleiche lernen.

So ist nichts einleuchtender, als einen bedeutsamen politischen Konflikt zum thematischen Mittelpunkt des Fortbildungslehrganges zu machen. Indem der Kurs so organisiert wird, daß die teilnehmenden Mitarbeiter diesen Konflikt für sich "lösen", tun sie genau das, was sie mit ihren Jugendlichen zu Hause auch tun sollen. Die vorhin kritisierte Zweiteilung von "Sache" und "Didaktik" ist dann überflüssig geworden. (Dasselbe gilt natürlich auch für andere Fortbildungsinhalte: Wenn es um Filmpädagogik geht, dann werden in erster Linie Filme so sachverständig wie möglich interpretiert, was die Teilnehmer ja auch zu Hause mit ihren Jugendlichen tun sollen.)

Aus diesem Ansatz folgt, daß es nicht möglich ist, im Rahmen der vorhin kritisierten "Hausbau-Theorie" einen Kanon von Themen für die Fortbildung aufzustellen. Die Themen sind von der politischen Entwicklung vorgegeben, und man kann höchstens einen jeweils aktuellen pragmatischen Themenvorschlag machen, gegenwärtig zum Beispiel: Brauchen wir ein Nationalgefühl?; Die Möglichkeiten des Friedens in Vietnam; Die Notstandsgesetzgebung usw. Es sind - gottlob! - immer nur wenige, die wichtig genug sind.

Ich will diesen Vorschlag am Beispiel des Themas: "Brauchen wir ein Nationalgefühl?" näher erläutern. Jeder Teilnehmer bringt zu dieser Frage schon durch die Beteiligung an der Massenkommunikation einen mehr oder weniger richtigen Vorstellungszusammenhang mit. Diesen gilt es durch mindestens zwei systematische Referate zu korrigieren beziehungsweise zu differenzieren: a) "Die geschichtliche und politische Bedeutung der Idee der Nation"; b) "Das pädagogisch-psychologische Problem der Identifikation mit Kollektiven". Das erste Thema ist wohl ohne weiteres klar, das zweite soll dem oft gebrauchten Argument nachgehen, es gebe so etwas wie ein immer gültiges Bedürfnis, sich mit Kollektiven (wie Nation) zu identifizieren, und diesem Bedürfnis müsse die politische Pädagogik Rechnung tragen. Das Referat müßte zusammenstellen, was man darüber heute wirklich weiß. Je nachdem, wie lange die Tagung dauern kann, können weitere Einzelaspekte des Problems systematisch behandelt werden, nicht nur durch Referate, sondern auch durch Arbeitsaufträge an einzelne oder kleine Gruppen, die einen Teil der vorhandenen Literatur referieren usw.

Nicht immer wird es zweckmäßig sein, mit solchen Referaten die Tagung zu beginnen. Gerade wegen der "emotionalen Sperre" ist es vielleicht besser, in Gruppendiskussionen erst einmal die vorhandenen "Vorstellungs-Systeme" darzulegen und die Teilnehmer einzuladen, bestimmte dabei auftauchende Probleme weiter zu verfolgen.

Diese systematischen Teile des Kurses sollten etwa ein Drittel der zur Verfügung stehenden "Arbeitszeit" einnehmen. Gleich groß sollte der Zeitteil sein, der dann dem "Problem" gewidmet ist, in unserem Beispiel also der Frage: "Brauchen wir ein Nationalgefühl?" Hierfür muß wieder neues Material herangezogen werden,

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und zwar am besten publizistisches, das sich um diese Frage bemüht: eine Fernsehsendung, die vielleicht "termingerecht" gesendet wird; ein Spiel- oder Dokumentarfilm; eine Funksendung; ein Leitartikel; ein Buchauszug usw. Noch besser wäre es, wenn man kontroverses Material zur Verfügung hätte. Die mit diesem Material hergestellten "Einstiege" dienen dem gemeinsamen Training, sich angesichts der zur Debatte stehenden Probleme ein Urteil zu bilden, also das systematische Wissen neu zu ordnen. Der Erfolg dieses Trainings wird größer, wenn man es angesichts neuer Materialien - möglichst aus verschiedenen Medien - mehrmals durchspielt. Wer das einmal ausprobiert, wird aus eigener Erfahrung bestätigt finden, daß die geistige Ordnung des systematisch Gelernten von anderer Art ist als die von den Problemen her strukturierte Ordnung.

Aber auch hier sollen die Teilnehmer nicht dauernd von dem Gefühl geplagt sein, daß sie das, was sie jetzt lernen, "eigentlich" "für andere" lernen, nämlich für die, die später wieder ihre Partner sein werden. Im Gegenteil, sie sollen auf einer Fortbildungstagung möglichst wenig an ihre Pflichten erinnert werden und sich auf das konzentrieren, was sie selbst jetzt interessiert und was sie selbst jetzt lernen. Wenn die Lernvorgänge immer wieder durch Hinweise auf den beruflichen Alltag der Teilnehmer unterbrochen werden, machen sich mit Sicherheit Frustrationen und Verkrampfungen breit.

Dem widerspricht nicht, wenn wir für das letzte Drittel der Zeit den Austausch von Erfahrungen vorschlagen. Die Themen dafür sollen möglichst etwas mit dem Tagungsthema zu tun haben. Ich habe bei meinen eigenen Versuchen, solchen Erfahrungsaustausch didaktisch sinnvoll zu organisieren, immer wieder zwei fast unüberwindliche Barrieren festgestellt. Erstens verlaufen solche Berichte über die Probleme der eigenen Tätigkeit fast immer im Stile von "Erfolgsmeldungen". Man hat - aus den schon genannten Gründen - einfach nicht die innere Freiheit, Fehler der eigenen Tätigkeit vor anderen Kollegen zuzugeben und sie möglichst präzis zu beschreiben. Wenn ein Projekt nicht so erfolgreich war, wie man gehofft hatte, dann lag es fast immer an den äußeren widrigen Umständen. Solche Erfahrungsberichte sind natürlich in jeder Hinsicht wertlos. Zweitens stellte sich immer wieder heraus, daß die Mitarbeiter auch formal gar nicht in der Lage waren, pädagogische Ereignisse zu beschreiben. Sie konnten sich dafür zum Beispiel keine sinnvolle Gliederung ausdenken.

Ich messe diesem Mangel eine so große Bedeutung zu, daß ich in der Tat dafür plädiere, seiner Behebung etwa ein Drittel der zur Verfügung stehenden Zeit zu widmen; denn die Fähigkeit eines Mitarbeiters, sich auf diese Weise von seinem Tun kritisch zu distanzieren und seine Probleme einigermaßen korrekt zu formulieren, ist fast ein Maßstab dafür, ob er seiner Arbeit frei oder unfrei gegenübersteht. Die formale Fähigkeit, die eigene Tätigkeit kritisch zu beschreiben, ist schon ein Teil dieser Freiheit. Außerdem kann sie den einzelnen aus seiner Isolierung holen und in eine sinnvolle Kommunikation mit seinen Kollegen bringen.

Für eine pädagogische Beschreibung braucht man Leitfragen. Fürs erste müssen es nur wenige sein: Was war (warum) geplant? Wie wurde es vorbereitet? Wer hat es (mit welcher Kompetenz) durchgeführt? Welche Mittel (Medien) wurden eingesetzt? Wie war der genaue zeitliche Ablauf? Nach der Beschreibung folgt die Problematisierung, das heißt das Aufstellen von Fragen, die der

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Berichter für weiterer Untersuchung bedürftig hält. Dabei sollte immer mit mehreren verschiedenen Hypothesen gearbeitet werden, um den Hang zu "Erfolgsmeldungen" zu relativieren. Dies soll den Beschreibenden an den Gebrauch von Hypothesen gewöhnen, zur vorsichtigen Deutung und zur offenen Einstellung gegenüber Sachverhalten erziehen.

Damit hätten wir für die stofflich-unterrichtliche Seite einer Fortbildungstagung eine Dreigliederung gefunden: den systematisch-wissenschafflichen Teil, den problem-orientierten Teil und den pädagogisch-beschreibenden Teil. Die beiden letzten Teile müssen in der Regel wohl vom Veranstalter bestritten werden. Die Referate zum ersten Teil sollten aber unbedingt von fachlich zuständigen Wissenschaftlern bestritten werden. Wenn wir eingangs betont haben, daß Fortbildung vor allem Teilnahme am Fortschritt der Wissenschaft ist, so ist es sinnvoll, auch die jeweils fachlich zuständigen Wissenschaftler einzubeziehen. Es wäre aus manchen Gründen mehr als bedenklich, wenn sich zwischen Wissenschaft und Praxis ein mehr oder weniger autonomer "Zwischenhandel" institutionalisieren würde. Dann würde sofort das Problem der "Fortbildung der Fortbilder" auftauchen. Schon unsere pädagogischen Ausbildungsinstitute - vor allem der Sozialarbeiterausbildung - leiden darunter, daß die "Rückkopplung" zur Forschung nicht organisiert ist. Wäre es anders. so würden sie vieles von dem, was sie heute noch ungeniert als letzte Weisheit lehren, nicht mehr zu verbreiten wagen.

Aber mit der Betrachtung der unterrichtlichen Seite allein sind die didaktischen Probleme noch nicht genügend beschrieben. Wir müssen noch einen Blick auf die Bedeutung des "Tagungslebens" werfen. Wenn unser Hinweis auf die konstitutionelle - und sehr verständliche - Erfahrungsfeindschaft unserer Mitarbeiter richtig ist, dann muß vor allem das Tagungsleben diese inneren Vorbehalte abbauen helfen. Dazu sind die folgenden Gesichtspunkte besonders wichtig:

Erstens muß eine Fortbildungstagung mindestens eine, besser zwei Wochen dauern. Wochenenden sind dafür gänzlich ungeeignet. Nicht nur ist das Wochenende für ein sinnvoll geplantes Lernen zu kurz, vielmehr ist auch die Distanz vom Leistungsdruck des Alltags zu gering, und gerade dieser Leistungsdruck führt ja zu den beschriebenen Lernbarrieren. Diese Forderung trifft natürlich manche Träger der Jugendarbeit hart. Aber wir müssen uns eben an den Gedanken gewöhnen. daß die Jugendarbeit ohne zusätzlichen "Bildungsurlaub" für ihre Mitarbeiter bald zur völligen Bedeutungslosigkeit verurteilt sein wird. Daraus die Konsequenzen zu ziehen, ist Sache der Jugendpolitik, nicht der Pädagogik.

Zweitens, so paradox es klingen mag: Auf Fortbildungstagungen muß ein Klima der Muße und Besinnung, nicht des Leistungsdrucks herrschen. Nur so werden die Teilnehmer bereit, sich aus dem Druck ihrer alltäglichen Anforderungen zu lösen und sich für neue Erfahrungen zu öffnen. Dieser Hinweis ist nichts weniger als selbstverständlich. Ich habe Lehrerfortbildungstagungen erlebt - wo man es doch eigentlich wissen müßte! - , wo vier bis fünf Referate am Tag die Regel waren. Begründung: Man müsse der Behörde beweisen, daß man auch etwas tue und nicht etwa Urlaub mache. Aber bewiesen ist damit allenfalls so etwas wie didaktischer Schwachsinn; denn Lernvorgänge sind nun einmal nur bis zu einer bestimmten Grenze "industrialisierbar", zumal wenn es sich um Selbstbesinnung und Selbstkritik handeln soll. Die Tageszeiten zwischen Mittagessen und Nach-

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mittagskaffee sowie die Abende sollten also grundsätzlich frei von verbindlichen Programm sein.

Andererseits wird die Lernbereitschaft erfahrungsgemäß von einem möglichst hohen Grad der informellen Geselligkeit beeinflußt. Die informellen Gespräche haben oft ein höheres "Lernergebnis" als die geplanten Veranstaltungen selbst. Die Tagungsstätte muß also entsprechend "gemütlich" sein und auch entsprechende Getränke anbieten können. Die Tagungsleitung und die Gastdozenten sollten sich in die abendliche Geselligkeit einfügen, und man sollte keinen Referenten verpflichten, der nicht wenigstens einen Abend lang auf diese Weise seinem Publikum zur Verfügung steht.

Vier allgemeine Überlegungen sollen diesen didaktischen Entwurf abschließen:

1. In diesem Konzept hat der Tagungsleiter (bzw. das Leitungsteam) eine sehr wichtige didaktische Schlüsselposition. Er muß das zur Debatte stehende Thema wenigstens in den Grundzügen selbst überschauen und eine Vorstellung von dessen didaktischer Problematik im Hinblick auf seinen Teilnehmerkreis haben. Er muß ständig zwischen den Dozenten und den Teilnehmern "übersetzen". Während der Tagung selbst muß er voll und ganz für seine Teilnehmer zur Verfügung stehen. Daraus folgt, daß der Träger seinem Tagungsleiter genügend Zeit für die Vorbereitung zubilligen muß. Als Faustregel gilt etwa: Eine gute Vorbereitung dauert - ohne die organisatorischen Tätigkeiten - etwa genauso lange wie die Tagungen selbst. Es liegt auf der Hand, daß ein gehetzter, durch zusätzliche Aufgaben immer wieder abgelenkter Tagungsleiter für seine Gäste kein Klima der Muße und Besinnung schaffen kann.

2. Aus der Einsicht, wie wenig Illusionen man sich über die pädagogischen "Ergebnisse" der üblichen Fortbildungskurse machen darf, sollte man weniger davon veranstalten, dafür aber bessere und mit guten Dozenten.

3. Auf die Dauer wird in diesem Aufgabenbereich nur ein Haus mit festem Mitarbeiterstab aus verschiedenen Fachrichtungen Erfolg haben, das auch über die nötigen materiellen Bedingungen verfügt und Erfahrungen sammeln kann. Jene "Wanderprediger-Seminare", mal in dieser, mal in jener Jugendherberge, mit immer wieder anderen Dozenten und unter immer schlechten materiellen und geselligen Voraussetzungen, haben auf die Dauer keine Chance mehr. Die Zukunft gehört hier - wie überall - den kontinuierlich arbeitenden, auf ihre Aufgaben spezialisierten Instituten, deren bloße Existenz schon eine Werbung für Fortbildung ist, deren Image unabhängig vom jeweiligen Kursthema dem Besucher Prestige verleiht. Hoffentlich begreifen die Träger der Jugendarbeit genügend, daß sie solche Häuser brauchen, die in ihrer nicht zu nahen lokalen Umgebung sich als Forum für die praktischen und theoretischen Probleme der Jugendarbeit anbieten und die man nicht nur zu Fortbildungskursen besucht, sondern sooft es eben geht, weil man dort immer etwas Einleuchtendes dazulernen kann. Der Kontakt mit solchen Häusern muß zu einer Art "Freizeitgewohnheit" für die Mitarbeiter draußen im Lande werden.

4. Wir brauchen für unser Thema noch viele exakte didaktische Untersuchungen. Für sie einen ersten theoretischen Ansatzpunkt zu gewinnen, ist die Absicht dieses Beitrags.

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55. Gesellschaftliche Faktoren des sozialpädagogischen Bewußtseins (1967)

(In: Zur Bestimmung von Sozialpädagogik und Sozialarbeit in der Gegenwart. Weinheim 1967, S. 86-98)

 (Wieder abgedruckt in: Thole, Werner/Galuske, Michael/Gängler, Hans (Hrsg.): KlassikerInnen der Sozialen Arbeit. Neuwied 1998, S.323-333, H. G.)
 

Ein Jugendpfleger eines Landkreises kämpft bei seiner Behörde erfolglos um Mittel für ein Jugendbildungsprogramm. Schließlich rechnet er der Verwaltung vor, was sie auch nur ein einziger krimineller Jugendlicher kosten würde. Das hilft, denn es ist eine verwaltungsfähige Rechnung. Aber unser Jugendpfleger ist damit schon der Gefangene seines eigenen Sieges. Er wird nun mit solchen Rechnungen öfter erfolgreich, und allmählich beginnen sich bei ihm die Grenzen von Taktik und Bewußtsein zu verwischen. Die Begründungen für die Mittelbeschaffung werden ihm immer stärker zur inneren Begründung seiner pädagogischen Arbeit: seine Einstellung zu den Jugendlichen wird immer un-pädagogischer und immer sozialhygienischer.

In ein kommunales Heim der offenen Tür, das im sogenannten vornehmen Viertel einer Großstadt liegt, kommt ein junger Mitarbeiter, der gerade seine Ausbildung abgeschlossen hat und das dabei Gelernte mit Elan nun in die Praxis umsetzen will. Er führt regelmäßige Jugendtanzveranstaltungen mit guten Bands ein. Die Musiker kann er von seinem Etat nicht bezahlen. Die Jugendlichen wollen zwar gern ihren Obulus entrichten, aber der Haushaltsplan des Heimes enthält dafür keine Möglichkeit der Verbuchung. Nachdem der junge Mann diese Schwierigkeit "etwas außerhalb der Legalität" gelöst hat und seine Veranstaltungen tatsächlich die Schallmauer des kleinbürgerlichen Besucherkreises durchbrochen haben, meldet sich das "Milieu" zu Wort, das seine Söhne und Töchter durch "die anderen" gefährdet sieht. Zwei Jahre später ist das Programm des Heimes völlig der kleinbürgerlichen Umgebung angepaßt und die jugendliche Minderheit aus den Arbeiterfamilien verbringt ihre Freizeit wie vorher in einer Kneipe mit music-box. Unser junger Mann ist inzwischen zum

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Anhänger der musischen Bildung geworden und hält Tanzveranstaltungen für pädagogisch wenig fruchtbar. Vor Jahren fand eine Jugendbildungsstätte bei ihren jugendlichen Teilnehmern großen Anklang mit politisch-bildenden Tagungen, in deren Mittelpunkt ernste innen- und außenpolitische Kontroversen standen. Das pädagogische Konzept war, junge Leute mit den wirklich entscheidenden Ernstfragen unseres politischen Lebens und nicht mit konstruierten "Sandkastenproblemen" zu konfrontieren, um ihre politische Urteilskraft zu schulen. Dazu gehörte, daß man nicht nur Referenten aus der "staatstragenden Mitte", sondern auch solche "rechter" und "linker" Provenienz zur Mitarbeit gewann. Das große Interesse der Jugendlichen an diesen Veranstaltungen gab diesem didaktischen Konzept recht, aber es entsprach nicht dem, was das bezuschussende Ministerium sich unter politischer Jugendbildung vorstellte. Das Ministerium drohte der Bildungsstätte, deren pädagogische Mitarbeiter Volksschullehrer und Sozialarbeiter waren, Entzug der Mittel an. Diese Veranstaltungsreihe mußte eingestellt werden. Einige Jahre später kam es deswegen erneut zum Konflikt zwischen Ministerium und Bildungsstätte. Aber nun verfügte die Bildungsstätte über Mitarbeiter, die ein politikwissenschaftliches und historisches Universitätsstudium abgeschlossen hatten. Sie drohten dem Ministerium für den Fall des Mittelentzugs eine scharfe öffentliche Diskussion an, an der auch ihre Universitätslehrer teilzunehmen bereit waren. Diesmal verzichtete das Ministerium angesichts soviel fachlichen Prestiges auf eine Intervention.

Diese drei Beispiele sind nicht konstruiert. Es ist auch nicht wichtig, wieweit sie verallgemeinert werden dürfen. Sie sollen nur auf einige Elemente hinweisen, die in pädagogischen Theorien im allgemeinen und in sozialpädagogischen Theorien im besonderen zu wenig berücksichtigt werden. Thornton Wilder hat einmal gesagt, man müsse jemanden nur lange genug einen Hund nennen, dann werde er auch bellen. Aus den betriebssoziologischen Forschungen wissen wir, daß das Bewußtsein nicht zuletzt von den Bedingungen der beruflichen Tätigkeit und ihrer sozialen Umgebung mitgeprägt wird (1) Es liegt

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kein Grund für die Annahme vor, daß dieser Zusammenhang für die sozialpädagogische Tätigkeit keine Gültigkeit habe. Das, was Sozialpädagogen über ihre Arbeit denken - also ihr sozialpädagogisches Bewußtsein - kann im Grunde überhaupt nicht verstanden werden ohne eine Analyse der konkreten organisatorischen und institutionellen Bedingungen, unter denen sie arbeiten müssen. Die folgenden Überlegungen sollen die Hypothese begründen, daß diese Bedingungen unmittelbar relevant für das in der Praxis vorfindbare sozialpädagogische Bewußtsein sind. Wenn aber Sozialpädagogik als Wissenschaft die kontrollierbare und distanzierte Reflexion der Sozialpädagogik als Praxis ist, dann hängt alles davon ab, wie man hier die Erziehungswirklichkeit definiert. Die herrschenden sozialpädagogischen Theorien sind meistens geistesgeschichtlich, sozialgeschichtlich, jugendpsychologisch und allenfalls allgemeinsoziologisch orientiert (2). Es wird aber immer zweifelhafter, ob diese Elemente außerhalb der Ausbildungsstätten noch prägende Kraft für das pädagogische Bewußtsein haben. Es könnte sein, daß z.B. die Auseinandersetzung mit einer objektiv a-pädagogischen Verwaltung das pädagogische Bewußtsein stärker fixiert als Pestalozzis Schriften, die, einmal gelernt, zwar noch in der Erinnerung sind, aber kaum mehr als ornamentale Funktion haben: blühender Efeu auf rissigem Gemäuer.

In der Regel werden die Theorien im Verlaufe der sozialpädagogischen Ausbildung in mehr oder weniger engem Zusammenhang mit der Praxis gelernt, so daß sie als durchaus "praktikabel" gelten könnten: die in der Praxis sich ergebenden Widerstände durch die jugend-

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lichen Partner sowie durch die organisatorischen und institutionellen Gegebenheiten werden gleichsam durch die Praxisnähe der Ausbildung vorweggenommen.

Der Wert einer so gearteten Ausbildung für das pädagogische Bewußtsein der Sozialarbeiter darf nicht unterschätzt werden. Dennoch steckt in ihr - wie in jeder aus Studium und Praxis derart kombinierten Ausbildung - ein folgenschwerer Mangel: Indem nämlich die organisatorischen und institutionellen Schwierigkeiten der späteren Tätigkeit in der Theorie vorweggenommen werden, verschwindet deren theoretische Mächtigkeit leicht aus dem Bewußtsein. Die Verhältnisse, unter denen später gearbeitet werden muß, erscheinen undialektisch als bloßes Objekt der außerhalb von ihnen erworbenen Theorie. Sie gelten im besten Falle als überwindbarer Widerstand, in der Regel aber wohl als Macht, mit der man sich eben abfinden muß. Die praxisnahe Ausbildung impliziert immer eine gewisse Unterwerfung unter die Verhältnisse, weil sie ihnen euphemistisch gegenübersteht und ihnen ihre drohende Mächtigkeit nimmt, ohne tatsächlich etwas gegen sie auszurichten. Es kommt also nicht nur auf die praxisnahe Ausbildung an, sondern vor allem auch darauf, daß in der Vorstellung von der sozialpädagogischen Erziehungswirklichkeit die realen Bedingungen der sozialpädagogischen Tätigkeit nicht nur Äußerlichkeiten bleiben, die substantiell nichts mit dem pädagogischen Geschäft zu tun haben, sondern daß sie zu konstitutiven Momenten der sozialpädagogischen Theorie selbst erhoben werden. Erst dann wird es auch möglich sein, Sozialpädagogik empirisch zu erforschen. In den jüngsten Diskussionen um die Reform der Sozialarbeiterausbildung scheint dieses Problem keine große Rolle zu spielen. Die Verlängerung und Höherqualifizierung der Sozialarbeiterausbildung steht im Vordergrund, das Prinzip der Praxisnähe wird nicht angetastet (3). Es würde hier zu weit führen, diesem Problem weiter nachzugehen. Man sollte aber für die Zukunft bedenken, daß in der Vorstellung von der praxisnahen Ausbildung ganz bestimmte anthropologische und philosophische Vorentscheidungen stecken, z.B. über

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den Begriff "Erfahrung", über das Verhältnis von Theorie und Praxis und über den Begriff des Lernens, Vorentscheidungen, deren Allgemeingültigkeit keineswegs zweifelsfrei ist. Eine ideologiegeschichtliche Klärung dieses Problems wäre dringend nötig.

Mindestens die sieben folgenden Tatbestände müßten aber in den sozialpädagogischen Theorien stärker berücksichtigt werden.

1. Die inhaltliche Struktur der sozialpädagogischen Tätigkeit ist primär Verwaltung und nicht Pädagogik. Verwaltung und Pädagogik sind in entscheidenden Punkten antinomische Handlungsstrukturen. Die irrationalen Momente der Bildung sind noch nie verwaltungsfähige Größen gewesen. Die pädagogische Theorie lehrt, daß es auf das Mündigwerden des einzelnen Jugendlichen ankomme, dem der Pädagoge begegnet. Aber das ist nicht verwaltungsfähig. Verwaltungsfähig sind Teilnehmerzahlen, Teilnehmertage, Prozentzahlen von Resozialisierten. Verwaltungsfähig sind ferner möglichst eindeutige Heimordnungen als Grundlage von Versicherungsverträgen und Disziplinarverfahren, nicht risikoreiche, aber eben deshalb auch pädagogisch fruchtbare Selbstverwaltungsexperimente mit jugendlichen Gruppen. Das Verhältnis von Verwaltung und Pädagogik kann verschieden geordnet sein. Auch die Schule wird verwaltet, aber hier begründet die Verwaltung auch einen bestimmten pädagogischen Spielraum und schützt ihn (4). In der Sozialpädagogik dürfte sich eine breite Skala von Überschneidungen ergeben. Vermutlich ist im allgemeinen die fürsorgerische Praxis stärker verwaltet als die jugendpflegerische. Je unmittelbarer Pädagogen sich aber mit den Denkweisen der Verwaltung auseinandersetzen müssen, umso mehr werden diese Denkweisen auch den pädagogischen Bezug bestimmen.

Ein charakteristisches Beispiel dafür ist der Einbruch des Begriffes "Multiplikator" in die Sozialpädagogik. Während es im Begriff der "Mündigkeit" um den "ganzen Menschen" geht, weist der Begriff "Multiplikator" darauf hin, daß es darum geht, eine bestimmte Funktion des Menschen herauszustellen: er wird gesehen als "Transmissionsriemen" für die Verbreitung von Ideen und Intentionen, die die

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veranstaltende Verwaltung für besonders wichtig hält. Zur Denk- und Handlungsstruktur der Verwaltung gehört eben gerade die Beschränkung einer Erwartung an die Menschen auf eine bestimmte Teilfunktion. Oder anders: Während im Betracht der Pädagogik "jeder Mensch gleich vor Gott" ist, ist im Betracht der Verwaltung "jeder Mensch nur gleich vor bestimmten erwarteten Leistungen". So enthält auch der Jugendbericht der Bundesregierung dort, wo er die politisch-pädagogische Förderung von "aktiven Minderheiten" propagiert, eine typische Verwaltungsvorstellung und keine pädagogische (5).

Die Pflicht der Verwaltung, alles, was ihr gegenübertritt, unter die ihr immanenten strengen rationalen Kategorien eindeutig zu subsumieren, steht im ständigen Widerspruch zur Mehrdeutigkeit aller pädagogischen Situationen und Handlungen. Je eindeutiger Richtlinien, Verwendungszwecke und pädagogische Aufgaben sich bestimmen lassen, um so besser lassen sie sich verwalten. So strebt das Familienministerium - verständlicherweise - seit Jahren eine verwaltungsfähige Klärung des Begriffes "Politische Bildung" an, die seine Unsicherheit im Hinblick auf die Mittelvergabe beseitigen soll (6).

Auch für das bei uns herrschende Konzept des Jugendschutzes scheint es charakteristisch zu sein, daß seine bedeutendsten Wortführer Verwaltungsleute sind, was eine gewisse Blindheit gegenüber der Kompliziertheit der damit zusammenhängenden Probleme erklären könnte (7).

2. Die sozialpädagogische Tätigkeit geschieht im allgemeinen in so-

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zialer Isolation ohne Stützung durch ein Kollegium. Sozialarbeiter "(stehen) sichtlich isoliert in ihrer Arbeit. Sie haben - im Unterschied etwa zu den meisten Lehrern - kein Team um sich, in das sie ihre Erfahrungen und ihre Krisen einbringen und von dessen Rat und Ergänzung her sie ihre eigene Funktion wahrnehmen könnten" (8). Auch hier gibt es natürlich etwa zwischen dem Kollegium einer Jugendbildungsstätte und dem einzelnen Jugendpfleger in einem Landkreis deutliche Abstufungen. Je geringer aber die Kollegialität ist, um so geringer wird auch das Stehvermögen des pädagogischen Bewußtseins und des pädagogischen Selbstvertrauens, um so größer wird vermutlich auch das Maß an Frustrationen. Man muß sich klarmachen, daß ein Bewußtsein auf die Dauer nur Bestand haben kann, wenn es sich sozial in unmittelbaren Kommunikationen reproduzieren läßt. Das ist überall dort möglich, wo eine pädagogische Tätigkeit in eine größere Kollegialität von Gleichgesinnten eingebunden ist, wie etwa im Kollegium einer Schule.

Die Isolation hat außerdem leicht die Folge, daß man die eigenen pädagogischen Konzepte allzu stark subjektiviert, eben weil es kein soziales Gegenüber gibt, vor dem man sie pädagogisch verantworten müßte. Manchen Sozialpädapogen "fällt es schwer, ihre Aktionen in größere sachliche Zusammenhänge einzufügen und von daher zu verstehen" (9). Die in der Fürsorge stärker als in der Jugendpflege anzutreffende Überschätzung des unmittelbaren "pädagogischen Bezuges" scheint zu einem guten Teil eine Antwort auf die soziale Isolation zu sein, wie überhaupt das vor allem in der mittleren und älteren Generation anzutreffende "Pathos der Innerlichkeit", für das Herman Nohl in seinen Schriften die philosophische Rechtfertigung lieferte, weitgehend damit zusammenhängen dürfte.

3. Schlagkräftig organisieren lassen sich nicht isolierte einzelne, sondern lokale Gruppen. Soziologische Voraussetzung für die Schlagkraft der Lehrerorganisationen sind also die Lehrerkollegien. Dagegen ist die berufliche und kulturpolitische Solidarität der Sozialpädagogen nur sehr schwer zu organisieren, zumal die einzelnen

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Bereiche der Sozialarbeit - wieder im Unterschied zur Lehrertätigkeit - weder kulturpolitisch noch pädagogisch ein gemeinsames Bewußtsein nahelegen. Zwischen einem kommunalen Jugendpfleger auf der einen Seite, der vielleicht im wesentlichen Mittel verteilt und verwaltet zugunsten anderer, die pädagogisch arbeiten, und einer Kindergärtnerin auf der anderen Seite scheint es wenigstens auf den ersten Blick kaum eine pädagogische und politische Interessengleichheit zu geben. Schließlich muß man sich auch darüber klar sein, daß Sozialpädagogik de facto weniger eine positiv zu beschreibende "dritte Erziehungsinstitution" (Helmut Kentler) ist, als vielmehr im negativen Sinne eine Sammelbezeichnung für alle pädagogisch geplanten Veranstaltungen, die nicht in den Rahmen der Familien- oder Schulpädagogik gehören. Auch dies ist keine gute Grundlage für ein solidarisches Bewußtsein der Sozialarbeiter. Das objektive gesellschaftliche Ansehen wie auch das subjektive Selbstwertgefühl sind aber heute aufs engste mit dem Ansehen einer solchen Organisation verbunden. Erst die Organisation verschafft dem einzelnen ein Image; der Lehrer würde wenig gelten ohne seine Organisationen. Ohne ein solches Image wird der einzelne Sozialpädagoge nur noch massiver den unmittelbaren Einflüssen seiner Umgebung ausgeliefert (10).

4. Die Ausbildungsstätten für die Sozialpädagogik gelten nicht als wissenschaftliche, sie sind vielmehr den Zwecken und Anschauungen der sozialpädagogischen Träger eng verbunden. Darunter haben die Lehrer auch einmal gelitten. Aber sie haben selbst durch ihre Organisationen Abhilfe schaffen können, was, wie wir sahen, der Sozialpädagogik wegen der sozialen Struktur ihrer Tätigkeit nur sehr schwer möglich ist. Wissenschaftliche Ausbildung - und nicht einfach nur "pädagogische" - wäre aber die Voraussetzung dafür, sich von den Zwecken und Anschauungen derer, von denen man abhängt, zu emanzipieren, also ein davon relativ unabhängiges pädagogisches Bewußtsein zu erlangen. Die wissenschaftliche Ausbildung ist nicht nur vordergründig eine Frage des Sozialprestiges, sondern ihr Fehlen degradiert von vornherein die Sozialpädagogen als "Erzieher zweiter Klasse".

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Die Nichtwissenschaftlichkeit der sozialpädagogischen Ausbildung hat außerdem zur Folge, daß es im "Regelkreis"zwischen Ausbildung und Praxis keine eigenständige Kontrollinstanz gibt. Ausbildung und Praxis sind gewissermaßen allzu "hauteng" aneinander gebunden. Weder können die Ausbildungsstätten selbst forschen, noch auch selbst die pädagogische Theorie genügend weiterentwickeln. Da andererseits auch die Universitäten sich so gut wie gar nicht um die wissenschaftliche Erforschung der sozialpädagogischen Erziehungswirklichkeit kümmern, nehmen die sozialpädagogische Ausbildung und die sozialpädagogische Tätigkeit praktisch überhaupt nicht in organisierter - sondern nur in individuell beliebiger - Form am Fortschritt des allgemeinen pädagogischen Problem- und Tatsachenbewußtseins teil. Deshalb hat die sozialpädagogische Praxis genaugenommen überhaupt keine Möglichkeit, sich selbst rational zu kontrollieren.

5. Die sozialpädagogische Tätigkeit ist nicht nur mittelbar - wie jede pädagogische Tätigkeit - sondern in der Regel unmittelbar milieuverhaftet. Ob sie nun als Bewährungshilfe in den "Slums", oder als Offene-Tür-Arbeit in einer Kleinstadt stattfindet, auf die Dauer geht das jeweilige Milieu unaufhaltsam in ihr Selbstverständnis ein. Vielleicht geschieht das sogar in einem solchen Maße, daß die sozialpädagogische Arbeit überflüssig wird, weil sie nicht mehr erreicht, als das Milieu zu reproduzieren und damit zu bestätigen. Dieses Milieu dürfte im großen und ganzen als "kleinbürgerlich" zu charakterisieren sein, wobei zwischen der sozialen Herkunft der Sozialarbeiter und der sozialen Struktur ihrer Tätigkeit eine gewisse Entsprechung anzunehmen ist. Damit hängt wohl auch die weitverbreitete Vorliebe für gemeinschaftliche Sozialformen und die sogenannte "musische Bildung" zusammen (11).

6. Schließlich ist die sozialpädagogische Tätigkeit in der Regel eine Angestelltentätigkeit. Wir wissen aus der "Soziologie der Angestellten", daß Angestellte zu einer eigentümlichen Selbst- und Weltvorstellung neigen, die wesentlich durch die Unsicherheit und Unklarheit ihrer beruflichen Position bedingt ist. Die Uneinheitlichkeit der

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Tätigkeit läßt ein solidarisches Bewußtsein nur mangelhaft zu; Neigung zu individualistischem, elitärem und hierarchischem Denken verbindet sich leicht mit einer undistanzierten Identifikation mit der jeweils herrschenden Macht (12). Es liegt kein Grund dafür vor, daß Sozialpädagogen hier eine Ausnahme machen sollten, obwohl die Verbeamtung auch in der Sozialarbeit weiter fortschreitet. Unsere Lehrer sind Beamte. Dieser Status bindet sie einerseits, erlaubt ihnen andererseits aber auch ein hohes Maß an Widerstand gegen Angriffe auf ihr pädagogisches Bewußtsein.

7. Schließlich bliebe noch zu prüfen, welchen Einfluß das Image der sozialpädagogischen Berufe auf das sozialpädagogische Selbstverständnis hat. Die öffentliche Erwartung an die Sozialpädagogik ist offensichtlich überwiegend von "weiblichen" Leitbildern geprägt, was nicht nur mit der weiblichen Mehrheit in diesen Berufen zusammenhängt, sondern vor allem auch damit, daß "pflegen", "sorgen" und "behüten" als typisch weibliche Begabungen bei uns gelten. Damit finden sich aber in diesem pädagogischen Bereich alle Probleme wieder, die überhaupt mit der überlieferten Einteilung in "wesenhaft weibliche" und "wesenhaft männliche" Tätigkeiten zusammenhängen. Nicht nur, daß es immer schwerer wird, sozialpädagogische Berufe für Männer attraktiv zu machen, auch die Frauen sind die Gefangenen dieser Erwartung. Daß man sich überhaupt - und schon gar als Frau - zum Beispiel für eine Verstärkung der mehr rational-intellektuell-unterrichtlichen pädagogischen Formen in der Sozialarbeit einsetzt, ist fast ein Sakrileg.

Diese Bedingungen der sozialpädagogischen Tätigkeit mögen einseitig ausgewählt sein. Immerhin haben sie gemeinsam, daß sie alle das Selbstbewußtsein und das pädagogische Stehvermögen der Sozialpädagogen nicht gerade stützen. Die Kombination dieser und noch anderer Bedingungen beeinflußt ganz sicher in erheblichem Maße das, was Sozialpädagogen tun und was sie über ihr Tun denken, also einen erheblichen Teil ihrer Erziehungswirklichkeit. Wir wissen aber aus der Sozialpsychologie, daß unentwegte Anschläge auf das Selbstbewußt-

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sein deshalb so gefährlich sind, weil sie eine geradezu ideale Disposition für affektive Vorurteile schaffen (13). Ansehen, das nach außen nicht zu haben ist, wird leicht als pädagogisches Pathos verinnerlicht; das Fehlen der wissenschaftlichen Ausbildung wird leicht ins Positive gewendet, im Sinne einer schlechten Metaphysik des "Lebens", der "Praxis" und der "Menschlichkeit"; der ständig erlebte Widerspruch von Verwaltung und Pädagogik wird vielleicht subjektiviert, so verarbeitet, als liege alles an den bösartigen Kollegen von der Verwaltung, obwohl diese doch genauso gut die Opfer dieses strukturellen Widerspruchs sind. Oder dieser Widerspruch wird für schlechthin unvermittelbar gehalten. Dann fällt alles Licht auf die Pädagogik und aller Schatten auf die Welt, die vornehmlich als Verwaltung erscheint: ein duales Weltbild bahnt sich an, das strukturell bereits den Keim abwegiger politischer und damit auch pädagogischer Ideologien in sich birgt.

Ich habe solche Vorurteilsstrukturen, die auf die pädagogische Arbeit geradezu verheerend wirken, so oft angetroffen, daß ich sie geradezu zur Hypothese empirischer Untersuchungen machen würde.

Ich plädiere mit diesen Hinweisen nicht nur für eine "realistische Wendung" (Heinrich Roth) in der sozialpädagogischen Theorie, sondern auch für die moralische Verpflichtung einer solchen Theorie gegenüber denjenigen, die an ihrer Praxis leiden. Nur wenn die pädagogische Theorie solche banalen Bedingungen ebenso ernst nimmt, wie sie für die Sozialpädagogen in Wahrheit sind, kann sie von diesen die Zucht der pädagogischen Reflexion erwarten. Bleibt die Theorie aber weiterhin so erhaben über den wirklichen Sorgen der wirklichen Menschen wie bisher, dann wird ihre Wirkung allenfalls bis zur Erbauung reichen. Die banalen Bedingungen der sozialpädagogischen Tätigkeit theoriefähig machen heißt, sie aufzuklären, ihnen die Magie der Unüberwindlichkeit zu nehmen, Veränderliches von Not-

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wendigem zu sortieren und damit schließlich der sozialpädagogischen Tätigkeit ein Selbstbewußtsein überhaupt erst zu ermöglichen.

Der Einwand, die Erforschung solcher Zusammenhänge sei doch nicht Aufgabe der Pädagogik, sondern der Sozialwissenschaften, könnte nur für die Forschungsmethoden gelten, nicht aber für die Interpretation innerhalb einer pädagogischen Theorie. Eine pädagogische Handlungssituation wie die sozialpädagogische ist nun einmal eine ganzheitliche, der es nichts nutzt, wenn man sie lediglich in ihre Bestandteile zerlegt. Die sozialpädagogische Theorie als eine Weise der praktischen Philosophie muß dieser Ganzheit Rechnung tragen. Das bedeutet aber, daß sie diejenigen Faktoren und Bedingungen, die Sein und Bewußtsein dieses pädagogischen Feldes so offensichtlich mitbestimmen, auch gebührend berücksichtigen muß. Nur dann kann sie überhaupt zu einer konkretisierbaren Theorie werden, deren Aussagen sich empirisch überprüfen lassen; ihre unaufhebbaren irrationalen "Restbestände" werden dann auch erst wieder zu ihrem vollen Recht kommen, ihres Alibi-Charakters für eine in Wahrheit schlechte Wirklichkeit beraubt werden, weil sie nun säuberlich von dem getrennt sind, was der Sache nach keine Frage der Metaphysik, sondern des genauen Zählens, Messens, Beobachtens und Vergleichens ist (14).

Vor allem zwei aktuelle Probleme werden ohne eine solche realistische Theorie mit Sicherheit nicht gelöst werden: Das Problem einer Neuorientierung der Ausbildung und das Problem einer kontinuierlichen Fortbildung. Die Überlegungen für eine Neuordnung der Ausbildung müssen entweder in bloßen Verwaltungsspekulationen ("Wie deckt man am reibungslosesten das Personaldefizit?") oder in einer Verhärtung der Weltanschauung vom "pädagogischen Bezug" ersticken, wenn sie nicht wenigstens unter anderem am strengen Maßstab der sozialen Realitäten gemessen werden. Konzeptionen für die Fortbildung von Sozialpädagogen werden nicht den geringsten Sinn und Erfolg haben, wenn Korrektur und Kompensation der geschilderten gesellschaftlichen Bedingungen nicht in erster Linie zu ihrer didaktischen Generalfrage erklärt werden.

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Vor allem ist - wie schon angedeutet wurde - dem überlieferten Begriff der "Erziehungswirklichkeit" nicht möglich, exakte empirische Forschungen strukturell einzubeziehen. Eine exakte Empirie, die diesen Namen wirklich verdient, weil sie sich auf dem Niveau des jeweils fortgeschrittensten methodischen Standards bewegt, setzt nämlich die positivistische Isolierung von Wirklichkeitszusammenhängen voraus. Zwar beruht die Entscheidung, was warum einer empirischen Analyse übergeben wird, auf einem philosophischen Vorverständnis vom Gesamtzusammenhang der Phänomene, und auch die empirischen Ergebnisse müssen, um sinnvoll zu werden, wieder in einen solchen Zusammenhang "zurückübersetzt" werden; aber die exakte Analyse selbst muß ihren Gegenstand positivistisch isolieren.

Das bedeutet nun für die sozialpädagogische Theorie der "Erziehungswirklichkeit" - wie übrigens für jede andere pädagogische Theorie auch -, daß sie schon in ihrer Struktur Elemente enthalten muß, die empirisch verifizierbar sind. Oder anders ausgedrückt: Die Struktur einer sozialpädagogischen Theorie muß aus zwei miteinander verbundenen "Regelkreisen" bestehen, aus dem Regelkreis der "Interpretation" und aus dem Regelkreis der "Ermittlung" Wir haben zulange dazu geneigt, ohne sorgfältige Ermittlungen drauflos zu interpretieren; heute stehen wir vielfach in der umgekehrten Gefahr, viele zufällig herausgegriffenen Fakten einfach für "pädagogische Tatsachen" zu halten, die wir mit den überlieferten Interpretationen verschmelzen, ohne diese wirklich in Frage zu stellen. Aber die interpretierende Theorie muß eben selbst schon so angelegt sein, daß sie empirische Daten zielbewußt und kontrolliert verarbeiten kann: sie muß Faktoren enthalten, die für eine ständige empirische Verifikation bereits präpariert sind. Dafür will unser Beitrag einen Vorschlag machen.

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Anmerkungen:

(1) Vgl. dazu Popitz/Bahrdt/Jüres/Kesting: Technik und Industriearbeit. Tübingen 1957, sowie den Erfahrungsbericht von Horst Symanowski/Fritz Vilmar: Die Welt des Arbeiters. Junge Pfarrer berichten aus der Fabrik. 3. Aufl., Frankfurt 1963.

(2) Vgl. die jüngsten Neuerscheinungen: Klaus Mollenhauer, Einführung in der Sozialpädagogik - Probleme und Begriffe, Weinheim 1964; Helmut Rünger, Einführung in die Sozialpädagogik, Witten 1964; Friedrich Schlieper, Sozialerziehung - Sozialpädagogik. Sinn der Sozialerziehung und Aufgaben der Sozialpädagogik, Heidelberg 1964 - In diesen Arbeiten spielt unser Gesichtspunkt keine konstitutive Rolle. (Vgl. meine Kritik in "deutsche jugend" 4/1965, S. 177 ff.). Ebensowenig wird er in den jüngsten Versuchen zu einer Theorie der Jugendarbeit - einschließlich meines eigenen Beitrags - für besonders wichtig gehalten: Müller/Kentler/Mollenhauer/Giesecke, Was ist Jugendarbeit?, München 1964
(Meine Kritik findet sich unter Nr. 39 dieser Edition, mein Beitrag zu "Was ist Jugendarbeit"? unter Nr. 33, H. G.)

(3) Vgl. die zusammenfassende Darstellung bei Christa Hasenclever: Zur Neuordnung der sozialpädagogischen Ausbildungswege. In: deutsche jugend H. 6/1965. S. 259 ff.

(4) Vgl. Hellmut Becker: Die verwaltete Schule und Rechnungsprüfung und Kulturpolitik In: Quantität und Qualität. Freiburg 1962, S. 147 ff. bzw. S. 347 ff.

(5) Bundesministerium für Familie und Jugend (Hrsg.): Bericht über die Lage der Jugend und die Bestrebungen auf dem Gebiet der Jugendhilfe gemäß § 25 Abs. 2 des Jugendwohlfahrtsgesetzes - Jugendbericht - , Drucksache IV/35 15. Bonn 1965, S. 72.

(6) Ebenda, S. 71.

(7) Vgl. als Beleg dafür: Werner Kalb: Der Jugendschutz bei Film und Fernsehen. Probleme, Geschichte, Praxis. Neuwied 1962; siehe auch meine Kritik in Z.f.Päd. 3/1965, S. 299 ff. Die ganze Reihe des Luchterhand Verlages "Jugend im Blickpunkt" ist durch die Tendenz zu charakterisieren, Verwaltungsvorstellungen gegenüber pädagogischen in den Vordergrund treten zu lassen.

(8) Joachim Klieme: Hauptamtliche Mitarbeiter in der außerschulischen Jugendarbeit. In: deutsche jugend H. 6/ 1965, S. 272 ff., hier S. 274.

(9) Ebenda.

(10) Vgl. Renate Mayntz: Soziologie der Organisation. Reinbek 1963 (= rde 166), vor allem S. 129ff.

(11) Vgl. Theodor W. Adorno: Dissonanzen. 2. Aufl., Göttingen 1958.

(12) Aus der großen Zahl der Untersuchungen über die Angestellten sei nur genannt: Fritz Croner: Soziologie der Angestellten. Köln 1962, und C. Wright Mills: Menschen im Büro. Köln 1955

(13) Dieser Zusammenhang ist vor allem im Rahmen der modernen Antisemitismus-Forschung aufgewiesen worden. Aus der umfangreichen Literatur sei herausgegriffen: Eva G. Reichmann: Flucht in den Haß. Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe. Frankturt o.J. - Alexander Mitscherlich: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie. München 1963.

(14) Vgl. die gründliche Analyse bei Klaus Mollenhauer: Pädagogik und Rationalität. In. Die deutsche Schule, H. 12/1964, S. 665 ff.

 

 
 

56. Didaktik der politischen Bildung im außerschulischen Bereich (1967)

 (In: deutsche jugend, H. 9/1967, S. 411-420)

 Eine Didaktik der politischen Bildung im außerschulischen Bericht gibt es bisher noch nicht. Gewiß gibt es zahlreiche Institutionen, die seit Jahren politische Bildungsarbeit betreiben, und die an diesen Institutionen tätigen Dozenten könnten auch auf die Frage, was sie da tun, warum sie das tun, und warum sie gerade das tun, mehr oder weniger einleuchtende Antworten geben, aber eine didaktische Theorie, die zum Beispiel von dem einen Fall auf den anderen, von der einen Institution auf die andere übertragbar wäre - mindestens dies müßte man von einer Theorie erwarten können - , gibt es allenfalls erst in zaghaften Ansätzen. Solche Ansätze finden sich etwa in einer Reihe didaktischer Beschreibungen, die aber ausnahmslos sehr eng an den einzelnen Fall angelehnt sind. Es wird sicher noch einer sehr langen Kommunikation zwischen Wissenschaftlern und Lehrenden bedürfen, um eine die Einzelfälle übergreifende didaktische Theorie zu erarbeiten. Hier soll lediglich versucht werden, einige gedankliche Perspektiven für eine solche künftige Didaktik zu entwickeln.

Politik und Pädagogik

Zunächst ist gar nicht ausgemacht, daß die politische Bildung, wie sie in den verschiedenen Bildungsstätten des außerschulischen Bereichs betrieben wird, überhaupt eine pädagogische und keine politische Veranstaltung ist. Dies muß zunächst geklärt werden. Diese politische Bildungsarbeit wird in mehr oder weniger hohem Maße von der öffentlichen Hand, vom Staat, finanziert. Damit waren bisher aber auch ganz bestimmte Erwartungen an die Inhalte dieser Bildung verknüpft. Höchst aufschlußreich dafür sind die entsprechenden Formulierungen im ersten Jugendbericht der Bundesregierung. Die öffentliche Hand erwartet im Grunde die Anerkennung, der bestehenden Verhältnisse, wie sehr immer sie dies mit politischen

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oder pädagogischen Leerformeln drapieren mag. Gruppen und Träger, deren Bildungsintentionen stärker auf Veränderung oder gar auf eine teilweise Aufhebung bestehender Ordnungen abzielen, werden gerne, wenn es machtpolitisch durchsetzbar ist, von der Förderung ausgeschlossen (Beispiel: SDS).

Es wäre zwar ungerecht, zu behaupten, in der Vergangenheit sei die Arbeit der Bildungsstätten parteipolitisch mißbraucht worden. Aber in der Tendenz der letzten Jahre, den politischen Parteien gegenüber anderen Trägern der politischen Bildung eine Art "natürlichen" Vorrang einzuräumen - wie sie noch in einigen Formulierungen des Jugendberichts zum Ausdruck kommt - ist die politische Erwartung ganz deutlich zum Ausdruck gekommen. Sie wurde noch deutlicher in den jüngst bekanntgewordenen Intentionen aus Kreisen der Bundesregierung, wie sie etwa Staatssekretär Professor Ernst in einer Rede in Loccum entwickelt hat ("Dimensionen politischer Bildung", Vortragsmanuskript). Dort werden die Grenzen zwischen politischer Werbung und politischer Pädagogik vollends fließend.

Nun bestreite ich weder einer Regierung noch irgendwelchen anderen politischen und gesellschaftlichen Institutionen das Recht auf Werbung, ich bestreite nur, daß politische Werbung schon irgend etwas mit politischer Pädagogik zu tun habe. Es ist heute nötiger denn je, diesen Unterschied wieder deutlich ins Bewußtsein zu heben. Man kann mit guten Gründen beides tun, man kann vielleicht auch das eine tun und das andere lassen, aber wir müssen unbedingt verhindern, daß das eine für das andere ausgegeben wird, bloß weil sich dann das andere - nämlich die Werbung - den Bürgern besser verkaufen läßt.

Daß man sich nun überhaupt erst so verhältnismäßig spät um die didaktische Problematik der politischen Bildung im außerschulischen Bereich kümmert, das liegt nicht daran - wie Professor Ernst in Loccum behauptet hat - , daß die außerschulische politische Bildung zu einem guten Teil von gescheiterten Existenzen betrieben würde, sondern eher daran, daß bisher ein großes Einverständnis zwischen Staat und Trägern darüber herrschte, daß es primär um inhaltlich bestimmte politische Ziele gehe: zur Mitarbeit in den politischen Parteien zu ermuntern, faschistische und kommunistische Angriffe abzuwehren, sich zur Demokratie zu bekennen, die Wiedervereinigung zu wollen, nach Berlin zu reisen und anderes mehr. Das Bedürfnis nach didaktischer Orientierung entsteht überhaupt erst dadurch, daß einerseits die Wirkungen der politischen Bildung im Hinblick auf diese Ziele nicht sehr beachtlich waren (die Mitgliederzahlen der Parteien steigen nicht, der Wunsch nach Wiedervereinigung wird eher geringer usw.) und daß andererseits den Trägern die "staatserhaltenden" politischen Stoffe der eben genannten Art nachgerade ausgehen.

Andreas Flitner hat einmal in einem anderen Zusammenhang betont, daß das Propagieren von irgendwelchen Zielen in der politischen Bildung eine überwundene Auffassung von Erziehung sei ("Ein neues Bürgermodell?" Gesellschafl., Staat, Erziehung, 1957). Es liegt allerdings am Bedeutungsfeld des deutschen Wortes Erziehung, daß das Mißverständnis, Erziehung habe etwas mit der Indoktrination bestimmter Inhalte zu tun, immer wieder auftauchen kann. Das pädagogische Grundaxiom, daß der Mensch ein erziehungsbedürftiges Wesen sei, ist nämlich nur unter der Voraussetzung richtig, daß der zu Erziehende in unveränderliche Herr-

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schaftsverhältnisse hineinwächst und dort leben muß. In einer Gesellschaft dagegen, in der Herrschaft über Menschen zwar nicht abgeschafft, aber im vollen Umfang demokratisiert, also veränderlich wäre, wäre der Mensch kein erziehungsbedürftiges Wesen mehr, sondern nur noch ein lernbedürftiges, insofern das prinzipiell unabschaffbare Defizit zwischen der natürlichen Ausstattung des Menschen und den kulturellen Bedingungen, in denen er leben muß, durch Lernen ausgeglichen werden muß - im Falle schneller kultureller Veränderungen wie heute sogar durch lebenslanges Lernen.

In Leitvorstellungen wie "Mündigkeit" oder "Autonomie" hat sich seit der Aufklärung dieses pädagogische Selbstverständnis zu artikulieren versucht, und dieses Selbstverständnis hat sogar die Phasen der schnöden Kumpanei mit der jeweiligen Herrschaft überlebt. Daran wollte Flitner erinnern, als er meinte, die Vorstellung, man müsse "zu" etwas erziehen, sei überhaupt keine pädagogische Vorstellung. Die seit der Aufklärung sich durchsetzende Leitvorstellung von Erziehung versteht sich nämlich im Zusammenhang der politisch-gesellschaftlichen Emanzipationsvorgänge. Sie fragt sich, inwieweit die objektiven politischen Vorgänge der Emanzipation subjektiv eine bestimmte Erziehung zur Voraussetzung haben. Anders formuliert: Die moderne Pädagogik hat zum Gegenstand die politisch-gesellschaftlichen Emanzipationsprozesse, insofern diese je subjektives Lernen zur Voraussetzung haben. Damit ist aber zum Ausdruck gebracht, daß der moderne pädagogische Begriff vom mündigen Menschen eine politische Theorie der mündigen Gesellschaft impliziert und folgerichtig die jeweils bestehende Gesellschaft überall dort kritisieren muß, wo sie an sich mögliche Chancen des mündigen Lebens aus Herrschaftsinteressen oder anderen Gründen verweigert.

Die unbestreitbare Antinomie von Pädagogik und Politik besteht nicht zwischen einer sogenannten "autonomen" Pädagogik und "der" Politik; der Widerspruch besteht vielmehr darin, daß die jeweilige konkrete politische Herrschaft - der Regierungen, Parteien, Verbände, Professoren, Eltern usw. - in den Augen der Pädagogik eine defizitäre Ordnung ist, die unter dem Anspruch von Mündigkeit und Autonomie unentwegt korrigiert werden muß. In Konflikt liegen hier also notwendig zwei verschiedene politische Ordnungsvorstellungen; auf der einen Seite die politische Realität, so wie sie ist, die auch so, wie sie ist, von den Politikern verantwortet werden muß; auf der anderen Seite der Impetus der aufgeklärteren und mündigeren Gesellschaft, der notwendig immer wieder gegen den Stachel der jeweiligen Realität löcken muß. Dies ist ein Konflikt, der realistisch ins Bewußtsein genommen werden muß, und es nutzt der Sache nichts, wenn die eine Seite die andere bloß denunziert. Deshalb trete ich auch dafür ein, daß die Regierenden für ihre Tätigkeiten und Ziele werben dürfen.

Dieser Konflikt nun schlägt sich ganz praktisch nieder: Als der Rechtsradikalismus bedrohlich aufkam, hat Minister Heck an die Jugendarbeit appelliert, die junge Generation gegen diese Bestrebungen zu immunisieren. Die meisten waren wohl gerne bereit, sich mit dieser politischen Zielsetzung zu identifizieren. Aber der politische Pädagoge muß darauf antworten: Wir können solche Immunisierung nicht garantieren, weil wir weder tatsächlich noch auch von unserem eigenen Selbstverständnis her so total über unsere Partner verfügen können. Wir können mit den Programmen des Rechtsradikalismus nur dasselbe tun, was wir auch mit den

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Programmen unserer Regierung tun müssen: sie zum Gegenstand des Lernens machen; sie dem disziplinierten Nachdenken unterwerfen; sie auf ihre normativen Vorstellungen abhorchen; ihre Interessen, Ziele und Folgen erkennen und so weiter. Wir können nicht einmal genau sagen, was "herauskommen" wird; wir können nur ungefähr das wahrscheinliche Lernergebnis angeben; wir können nur zusichern, mit größtmöglicher Redlichkeit und im Rahmen der ideellen und normativen Vorschriften unserer Verfassung - deren Präzisierung auf den Einzelfall vielfach umstritten sein wird - dies Ansinnen des Rechtsradikalismus ebenso wie andere Ansinnen dem Nachdenken zu unterwerfen. Wir wissen aber nicht, ob wir dadurch die Mitglieder der Parteien oder der Ostermarschierer vermehren und die Wählerzahlen des Rechtsradikalismus vermindern. Darüber verfügen wir nicht. Mit anderen Worten: Für den Pädagogen ist der Prozeß der genauen Prüfung politischer Realitäten und Ideen selbst schon hinreichendes Ziel seines Tuns, und er muß die verlangte Garantierung eines bestimmten sachlichen, emotionalen oder gesinnungsmäßigen Ergebnisses rundweg verweigern. Und dies nicht etwa deshalb, weil er romantischer Anhänger einer "pädagogischen Provinz" wäre, sondern weil genau dies dem politischen Selbstverständnis seines pädagogischen Tuns entspricht - wie ich versucht habe zu begründen. Das Geschäft einer demokratischen, dem Prozeß der Emanzipation verpflichteten Pädagogik ist Ich-Stärkung der Individuen, Vermehrung ihrer Erfahrungen, Orientierungshilfe für die Lebensaufgaben, und es ist nicht Transfer vorgegebener Meinungen, Ideen, Absichten und Interessen. Wer dies nicht akzeptiert, für den kann sich in der Tat Pädagogik und Werbung nur noch im Hinblick auf die effektiven Methoden unterscheiden, was im übrigen dem allgemeinen vorwissenschaftlichen Verständnis vom pädagogischen Geschäft entspricht. Danach ist ein Pädagoge ein Mensch, bei dem jeder seine Ziele abliefert mit dem Ersuchen, sie möglichst effektiv zu transferieren.

Eine jede Regierung also, die Mittel für die außerschulische politische Bildung aus wirklich pädagogischen Motiven bereitstellt, muß sich darüber im klaren sein, daß sie damit ihre eigene Kritik finanziert. Und es hängt vom Grad ihres demokratischen Selbstverständnisses ab, ob sie sich damit einverstanden erklärt und das wirklich will. Die Zeiten, da Pädagogik die Fortsetzung der etablierten Herrschaft mit anderen Mitteln war, sind (hoffentlich!) vorbei. Wenn unsere Regierungen die Finanzierung der politischen Bildung wirklich aus pädagogischen Motiven fortsetzen, damit nämlich die Menschen lernen, politische Emanzipation immer mehr zu verwirklichen, dann müssen sie die didaktische Problematik als eine wissenschaftliche Problematik eigener Art begreifen und die relative Autonomie solcher wissenschaftlichen Didaktik und ihrer praktischen Anwendungen ermöglichen. Nur dann, wenn die Praxis unserer politischen Bildung einer solchen noch zu schaffenden wissenschaftlichen Didaktik unterworfen wird, kann es auf lange Sicht überhaupt eine öffentliche Finanzierung der politischen Bildung in einer pluralistischen Gesellschaft geben. Auf die Dauer ist außerschulische politische Bildung nur noch pädagogisch zu begründen, das heißt, indem der demokratische Staat über die Schule hinaus seinen jungen und alten Bürgern überhaupt politisch-emanzipatorische Lernchancen eröffnet und damit den unlösbaren Zusammenhang von Lernen und Emanzipation, von Bildung und Demokratie ernst nimmt.

Daraus ergibt sich eine wichtige Folgerung: Die öffentliche Hand sollte nicht nur politische Bildung finanzieren, sondern auch jede Form der didaktisch überzeu-

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genden kulturellen Bildung; denn dem auf Emanzipation gerichteten Lernen geht es wie der Wissenschaft: Nur wo beide prinzipiell unbeschränkt sich entfalten können und wo die realen zeitlichen und finanziellen Beschränkungen als Not und nicht als Tugend verstanden werden, wird ihr freiheitlicher Charakter nicht zur Ideologie. Wo zum Beispiel junge Lehrlinge keine literarischen und künstlerischen Erfahrungen machen dürfen, bringt sich auch deren politische Bildung um ihren empanzipatorischen Sinn.

Diese längere Besinnung war nötig, weil nun erst sinnvoll die didaktische Problematik angegangen werden kann. Sie läßt sich auf eine dreiteilige Frage zusammenfassen: Was muß ein Bürger heute objektiv lernen, um sich erfolgreich politisch beteiligen zu können, was kann er ernsthaft lernen, und wie läßt sich dieses Lernen optimal organisieren?

Das Ziel: Fähigkeit zur politischen Beteiligung

Man muß die Frage nach dem Was des politischen Lernens zunächst ganz allgemein stellen, ohne Rücksicht darauf, wo dieses Lernen lokalisiert oder organisiert werden kann (ob in der Schule oder in der Jugendarbeit oder anderswo). In diesem allgemeinen Sinne ist es Ziel der politischen Bildung, die Menschen zu befähigen, sich an der Produktion und Reproduktion politischer und gesellschaftlicher Herrschaft optimal zu beteiligen. Die Beteiligung bewegt sich in einem ständigen Spannungsfeld zwischen zwei Polen: Auf der einen Seite geht es darum, die vorhandenen Ordnungen funktionsfähig zu erhalten; sie dürfen und sollen zwar verändert werden, aber niemals so, daß sie praktisch revolutionär liquidiert werden. Der relative Respekt vor bestehenden Ordnungen, der darin zum Ausdruck kommt, gründet auf der Einsicht, daß für notwendig erachtete Veränderungen dieser Ordnungen sich jedem Kalkül - und damit jeder Verantwortung - entziehen, sobald sie sich nicht im Rahmen funktionierender Systeme vollziehen. Zur politischen Bildung gehört nun aber auch die andere Seite, die den faktisch bestehenden Ordnungen entgegensteht. Politische Beteiligung meint nämlich auch die Fähigkeit, die eigenen politischen Interessen in diesen Ordnungen optimal zu realisieren. Nur wo beides immer zugleich gesehen wird, handelt es sich wirklich um eine demokratische politische Bildung. Um dies zu begründen, müssen wir auf den Entstehungszusammenhang von politischer Bildung und moderner Demokratisierung zurückgehen.

Die Idee von der politischen Beteiligung aller Menschen entsteht erst in einem bestimmten Zeitraum unserer Geschichte, nämlich dort, wo Herrschaftsprivilegien prinzipiell in Frage gestellt werden, also mit dem Aufkommen der modernen Demokratisierung. Vorher hat es politische Bildung in unserem Sinne gar nicht gegeben, sondern immer nur eine Art Berufsausbildung für diejenigen, die zur Ausübung von Herrschaft und zu politischen Entscheidungen befugt waren. Seit der Demokratisierung gibt es - wenigstens der Idee nach - keine privilegierten politischen Interessen mehr. Der äußere Ausdruck dafür ist das allgemeine Wahlrecht. Wenn es aber einerseits keine privilegierten Interessen mehr gibt, andererseits aber das Einzelinteresse mit dem Gesamtinteresse nur in sehr wenigen Fällen

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(zum Beispiel: Frieden) übereinstimmt, dann wird - wie Dahrendorf richtig gezeigt hat - der Konflikt der Normalfall des politischen Lebens und nicht etwa die friedenstörende Ausnahme. Nur weil es Konflikte gibt, brauchen wir überhaupt eine politische Bildung der Bürger. Wenn das zutrifft, dann können wir die eingangs formulierte Definition, politische Bildung heiße, die Fähigkeit zur politischen Beteiligung zu erlernen, so präzisieren: Politische Bildung heißt politische Probleme und Konflikte lösen beziehungsweise entscheiden lernen. Die didaktische Problematik bestünde dann darin, zu ermitteln, was für dieses Ziel auf welche Weise, in welchem Alter und in welchen Institutionen gelernt werden muß und kann.

Dabei kann man in zwei extreme Fehler verfallen: Ich kann zum Beispiel das System der politischen Willensbildung in unserem Lande in Anlehnung an die Modelle der politischen Wissenschaft systematisch-unterrichtlich darstellen; dabei ist es nur ein methodisch-technischer Unterschied, ob das im Stile des Lehrervortrags oder des Arbeitsgespräches geschieht. Jedenfalls ist es so, daß der Lehrer das zu lehrende Modell in seinem Kopf hat und es möglichst effektvoll seinen Partnern übermitteln muß. Richtig an diesem Verfahren ist immer noch, daß tragfähig nur das gelernt wird, was systematisch begriffen wurde. Aber ein systematisches Bewußtsein ist nicht von sich aus schon ein praktisches Bewußtsein. Die vernünftige Anwendung einer Vorstellung auf einen einmaligen Fall und Konflikt ergibt sich nicht automatisch aus einem richtigen systematischen Bewußtsein, sondern muß eigens geübt und trainiert werden.

Das andere Extrem ist der Gelegenheitsunterricht: Man diskutiert aktuelle politische Probleme der Reihe nach durch, die Teilnehmer finden das auch sehr interessant und beteiligen sich erstaunlich engagiert, und der Dozent hat den falschen Eindruck, seine Partner hätten wirklich etwas dazugelernt. Richtig an diesem Verfahren ist zwar, daß durch die Erörterung aktueller Konflikte und Probleme die praktische Anwendung des bisher erworbenen Wissens trainiert wird. Falsch ist aber, daß die Anwendung nicht zu einem neuen Gewinn an systematischer Einsicht führt. Der Gelegenheitsunterricht allein führt niemals zu neuen Erfahrungen, weil zur neuen Erfahrung gehört, das bisherige Vorstellungsmodell im ganzen neu zu ordnen. Dies aber ist ein systematischer Vorgang. Sonst wird das zu lösende Problem nur zu einem Anwendungsfall des im übrigen unveränderten und in seiner Starrheit sogar noch bestätigten alten Vorstellungszusammenhangs - wie es etwa höchst charakteristisch für Biertischdiskussionen ist.

Es kommt also in der politischen Bildung entscheidend darauf an, beide Verfahren - das systematische und das aporetische - zu kombinieren. Im Grunde ist dies die pädagogische Widerspiegelung des allgemeinen Problems von Theorie und Praxis.

Die Teilnehmer und die Bedingungen

Nun haben wir bisher so getan, als ob nur die Sache das Problem sei, nicht auch der Empfänger. Mit Hartmut von Hentig ("Das Lehren der Wissenschaft", in: Frankfurter Hefte 3/1966) muß man aber sagen: Je weiter unten im Bildungsprozeß

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wir uns befinden, um so mehr ist der Empfänger das didaktische Problem (von dem wir am wenigsten wissen), je höher wir uns befinden, um so mehr die Sache. Es ist bekannt, daß es sehr viel einfacher ist, Oberschüler politisch zu bilden als Lehrlinge oder Jungarbeiter. Oberschüler haben in der Schule gelernt, systematisch zu denken, verhältnismäßig schnell einen Wechsel der Perspektive vorzunehmen, was dem Gebrauch von Kategorien entspricht; sie verfügen über größere sprachliche Ausdrucksfähigkeiten und begriffliches Training. Lehrlinge haben dies alles so gut wie nicht gelernt. Daraus folgt, daß man Lehrlingen zusätzliche Orientierungspunkte geben muß; sie müssen etwas vor sich haben, um das herum sie das neu Hinzugelernte schnell organisieren können. Meine eigenen Erfahrungen laufen darauf hinaus, daß es am besten ist, sie über die Sache, die geklärt werden soll, etwas herstellen zu lassen, ein Tonbandfeature zum Beispiel oder eine Collage oder eine Dokumentation. Dann ist gleichsam alles, was gelernt und erarbeitet wird, gebunden an das sichtbar vor einem liegende Drehbuch zum Beispiel: Was in den nächsten zwei Tagen systematisch gelernt werden muß, dient dann gewissermaßen dazu, die nächsten vier Seiten des Feature-Drehbuches fertigzustellen. Ich will dieses Verfahren nicht zum Rezept dogmatisieren, aber darauf hinweisen, daß hier ein besonderes Problem vorliegt.

Ein anderer Gesichtspunkt ist nicht minder wichtig. Er läßt sich wiederum am besten aus dem Umgang mit Lehrlingen demonstrieren, gilt aber im Prinzip sogar für die Erwachsenen. Alle von uns, aber Lehrlinge und überhaupt Mitglieder der unteren Schichten im besonderen Maße, haben die Erfahrung gemacht, daß die Aufforderung zu lernen eine Aufforderung ist, anderer Leute Willen und Interessen effektiver zu erfüllen. Der objektive Zusammenhang von Erziehung und Herrschaft hat sich hier subjektiv niedergeschlagen, ohne daß man fähig wäre, dem einen richtigen sprachlichen Ausdruck zu geben. Vielleicht hat die affektiv besetzte Lernfeindschaft gerade der unteren Schichten hier ihren letzten Grund; denn ohne Zweifel treffen die im gängigen Begriff der Erziehung enthaltenen Herrschaftsansprüche die unteren Schichten härter und unmittelbarer als die höheren Schichten und Bildungsformen. Jedenfalls ist die durchgängige Erfahrung: ich habe bisher immer nur lernen sollen, um fremden Ansprüchen besser genügen zu können, tödlich für ein der Emanzipation verpflichtetes Lernen. Aus dieser Erfahrung resultiert das Verhalten, zäh an dem einmal etablierten Vorstellungsmodell von der Welt festzuhalten, zwar gerne zu lernen, wie man das alte Modell besser anwenden kann, nicht aber, es entscheidend zu korrigieren oder gar zu erneuern. Dies letztere aber wäre gerade wichtig, wäre erst im substantiellen Sinne "Lernen", nämlich die Fähigkeit, neue Erfahrungen machen zu können. Kommt es uns aber darauf an, so müssen wir der Frage nachgehen, unter welchen Voraussetzungen unsere Partner eigentlich lernen wollen. Wir müssen ihnen sozusagen auch die tatsächliche Chance geben, alte Erfahrungen durch neue zu ersetzen. Dies tun wir nicht schon dadurch, daß wir sie dazu auffordern. Halten wir nämlich die Zwänge und Unterdrückungen des Alltags - zum Beispiel durch einen autoritären Führungsstil oder auch nur durch die Aufrechterhaltung der bloß quantitativen Leistungsansprüche - in unseren eigenen Veranstaltungen aufrecht, so zwingen wir unsere Partner dazu, aus Gründen des sozialen Überlebens an ihren mitgebrachten Erfahrungen festzuhalten: Ihr Lernen ist nur scheinbar - immer gemessen am eingangs genannten Maßstab der Emanzipation.

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Dieser Gedanke hat unmittelbare praktische Konsequenzen für die Veranstaltungen in den politischen Bildungsstätten. Zu fordern wären: viel Muße, damit Gedanken und Argumentationen sich ausruhen können; viel Raum für spontane Gespräche und entsprechend wenig verbindliches Programm; so wenig Druck auf die Teilnehmer wie möglich, vor allem möglichst keine Vorschriften für die Freizeit; keine Zeugnisse und festen Stoffpläne. Die Fähigkeit, neue Erfahrungen zu machen, beruht nämlich darauf, sich selbst neu erfahren zu können, und dies ist heute keine Frage des bloßen Willensaktes mehr, sondern bedarf bestimmter äußerer Bedingungen.

An verschiedenen Orten, in verschiedenen Formen

Bisher wurde zunächst von den politischen Voraussetzungen einer politischen Didaktik gesprochen, dann von der Sache selbst, anschließend von den Aneignungsproblemen unserer Partner und schließlich von den Bedingungen, die herrschen müssen, damit überhaupt gelernt werden kann. Nun mag man meinen, dies alles gelte, sofern es überhaupt richtig sei, sowohl für die Schule wie für die außerschulische Bildung. Das mag weitgehend so sein, obwohl ich glaube, daß wenigstens einstweilen die Bedingungen des sanktionsfreien Lernens, von denen eben die Rede war, in unseren Schulen nicht herstellbar sind, sehr viel eher jedoch in den außerschulischen Bildungsstätten. Was immer in Zukunft als spezielle Aufgabe der Schule erkannt werden wird, so möchte ich doch mit Entschiedenheit der Vorstellung entgegentreten, daß Schule und außerschulische Bildung dasselbe seien. Wäre das so, so wäre eins von beiden ja überflüssig. Die politische Bildung der Jugendarbeit ist keine Notlösung, weil die Schule noch nicht so weit ist, und sie wird nicht überflüssig, wenn die Schule so gut ist, wie sie sein könnte. Daß vielmehr alle modernen Gesellschaften verschiedenartige Lerninstitutionen zulassen (zum Beispiel Familie, Schule, Jugendarbeit) resultiert nicht nur daraus, daß die Lernprozesse in komplizierten Gesellschaften immer komplizierter werden, sondern folgt auch aus dem emanzipatorischen Sinn des Lernens selbst, insofern Informations- und Erziehungsmonopole dadurch abgeschafft oder wenigstens relativiert werden. Zusammenarbeit zwischen Schule und Jugendarbeit kann nicht heißen, daß beide gemeinsam ein harmonistisches Weltmodell konzipieren und durchsetzen, das es außerhalb ihrer Grenzen nicht mehr gibt. Genauso wie die Schule nicht einfach eine Fortsetzung der familiären Erziehungsarbeit mit effektiveren Mitteln ist, sondern wesentlich auch deren Korrektur, so ist auch die außerschulische Bildung keine einfache Fortsetzung der Schule mit anderen Methoden, sondern ebenfalls deren Korrektur. Das, was man in den Bildungsstätten lernt, kann zu dem, was in Schule und Elternhaus gelernt wird, in Widerspruch geraten; und wenn das niemals geschieht, können wir sicher sein, emanzipatorisches Lernen verspielt zu haben. Worin die Besonderheiten der außerschulischen Bildung bestehen, wäre noch genauer zu erforschen. Bis jetzt haben sich etwa folgende Punkte herausgestellt: relativ unterdrückungsfreie Lernsituationen; Freiwilligkeit der Teilnahme; Freizeitcharakter; spezifische Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden; das Fehlen eines Lehrkanons; hohe Anpassungsfähigkeit an neue Situationen und Stoffe, um nur die wichtigsten Punkte zu nennen.

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Ebensowenig wie Schule und außerschulische Bildung sind auch die Institutionen der außerschulischen Bildung untereinander identisch. So gibt es im Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten zum Beispiel Häuser mit spezifischen stofflichen Ansätzen, etwa die Europa-Häuser. Die Vielfalt der Ansätze, Motive und stofflichen Schwerpunkte ist nicht etwa hinderlich für die Entwicklung einer Didaktik, sondern geradezu deren Voraussetzung. Diese Vielfalt ermöglicht nämlich den Menschen, sich von den notwendig beschränkten Lernangeboten der Schule, die auch immer Lernverbote im Hinblick auf anderes sind, zu lösen. Wenn unsere anfangs formulierte These, daß wirklich emanzipatorisches Lernen nur ein prinzipiell schrankenloses Lernen sein kann, zutrifft, dann ist gerade die Vielfalt der außerschulischen Bildungsangebote eine Bedingung der Möglichkeit dafür. Pädagogisch legitimieren allerdings kann jede dieser Institutionen ihren spezifischen Ansatz nur dann, wenn sie ihn überzeugend mit der Forderung nach emanzipatorischem Lernen in Zusammenhang bringt, das heißt, wenn sie ihren spezifischen Ansatz oder das, wofür sie wirken möchte, so anbietet, daß die Teilnehmer es dem Nachdenken unterwerfen können.

Zu den gedanklichen Perspektiven, die hier für eine noch zu entwickelnde Didaktik zur Diskussion gestellt werden, gehört noch ein letzter Gesichtspunkt. Wir sind soeben erneut von einer Voraussetzung ausgegangen, die es jetzt zu modifizieren gilt. Wir haben so getan, als ob in den Bildungsstätten nur längerfristige Tagungen veranstaltet würden. Obwohl dies vielleicht für die meisten Bildungsstätten zutreffen mag, müssen wir uns auch mit anderen Veranstaltungsformen befassen, das heißt, wir brauchen so etwas wie eine Theorie der verschiedenen Veranstaltungsformen. Vielleicht genügt es fürs erste, zwischen längerfristiger Tagung (mindestens eine Woche), Wochenendseminar und lokalen Einzelveranstaltungen zu unterscheiden.

Am ergiebigsten von allen drei Formen erscheint mir die Tagung. Jedenfalls müssen wir uns kulturpolitisch für die zunehmende Möglichkeit des Tagungsbesuches einsetzen, zum Beispiel durch Kampf um längeren Urlaub und um Bildungsurlaub. Wir müssen im Auge behalten, daß nur ein verschwindend geringer Bruchteil der Lehrlinge und Jungarbeiter - von den Erwachsenen ganz zu schweigen - wirklich eine Tagung besuchen kann, und dieses nicht einmal aus eigenem Recht, sondern wegen des Wohlwollens ihrer Betriebe. Tatsächlich erfolgt der größte Teil des Angebotes der Bildungsstätten für diese Schichten in Gestalt von Wochenendseminaren und lokalen Feierabend-Veranstaltungen. Daß dieses Angebot - aufs Ganze gesehen - ausgeschlagen wird, darf uns wahrlich nicht wundern.

Die didaktischen Perspektiven, von denen bisher die Rede war, gelten wohl nur unter besonders glücklichen Umständen auch für das Wochenendseminar und für die lokale Veranstaltung. Beide Formen liegen zu nahe an den täglichen Zwängen. Gemessen an dem, was heute objektiv möglich wäre, ist das Wochenendseminar tatsächlich nur eine didaktische Notlösung, die solange ihren Sinn haben mag, wie auf diese Weise der Minderheit der Lernwilligen ein Angebot gemacht werden kann. Bei den lokalen Einzelveranstaltungen liegen die Dinge anders. Ihre Aufgabe wäre nicht so sehr das systematische Lernen; vielmehr geht es um die Einrichtung von Foren, in denen die Auseinandersetzung zwischen den Bürgern und

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den Repräsentanten des öffentlichen Lebens stattfinden kann. Die "Referenten" der lokalen Veranstaltungen sollten so ausgesucht sein, daß sie nicht dozieren können, sondern sich rechtfertigen müssen - und daß gerade wegen dieser Konstruktion von beiden Seiten gelernt werden kann. Anders ausgedrückt: Lokale Veranstaltungen der politischen Bildung sollten ein Stück demokratischer politischer Praxis selber sein. Vielleicht wäre dies auch eine Möglichkeit für sinnvolle Wochenendseminare: ein Thema, ein didaktisch geschickter Leiter und mehrere, in der Sache kontroverse öffentliche Repräsentanten, die das ganze Wochenende dabei sind.

Die Tatsache nun, daß gerade im letzten Teil dieser Überlegungen häufig das Wörtchen "vielleicht" auftauchte, verweist darauf, wie unsicher wir noch in den Detailfragen sind. Überzeugende didaktische Theorien für die politische Bildung im außerschulischen Bereich werden auch nicht vom Himmel fallen, sondern sie können nur das Ergebnis strenger gedanklicher Arbeit vieler Menschen sein. Diese Arbeit muß organisiert werden, indem wir endlich unsere Praxis didaktisch erforschen und regelmäßig die für die theoretische Aufklärung nötigen Kommunikationen organisieren. Allerdings sollten wir uns darüber im klaren sein, daß überzeugende didaktische Konzepte nachgerade zur Bedingung der kulturpolitischen Existenz dieser Arbeit geworden sind. Wenn nicht alle Anzeichen trügen, möchte mindestens ein Teil der gegenwärtigen Bundesregierung die außerschulische politische Bildung gerne in eigene Regie nehmen und sie erfahrenen Werbemanagern übertragen, die im Unterschied zu den Pädagogen bereit sind, für jedes ihnen genannte Ziel die angemessenen Werbemethoden zu finden. Die wissenschaftliche Pädagogik hat einmal dazu geführt, die Lehrer von ihren Auftraggebern zu emanzipieren; genau darum geht es heute in der außerschulischen Bildung.

Diese Emanzipation aber kann nicht als eigenständiger Kraftakt der außerschulischen Bildung zustandekommen. Sie kann vielmehr nur gelingen in Zusammenarbeit mit dem Staat, genauer: mit den Parlamenten und dem "sachlichen" Beamtentum der Exekutive. "Zusammenarbeit" meint selbstverständlich nicht Verstaatlichung. Nichts wäre aber fataler, als wenn wir uns die traditionell liberalistische Staatsfeindlichkeit - die bis heute aus erklärbaren Interessen resultiert - zu eigen machten. Nur mit den Parlamenten und vor allem mit der Exekutive läßt sich moderne Jugend- und Erwachsenenbildung, die sich auf eine moderne Didaktik gründet, realisieren, niemals gegen sie. Die staatlichen Institutionen sind bei uns in einem weit höheren Maße demokratisiert als die meisten gesellschaftlichen. Wir müssen also den Staat stärken gegen mächtige, in Sachen Erziehung aus Herrschaftsinteressen rückständige gesellschaftliche Gruppen. Und wir müssen die Exekutive stärken gegen sachfremde Manipulationsversuche ihrer politischen Spitzen. Auch dies gehört zum didaktischen Nachdenken: sich zu überlegen, mit welchen Verbündeten didaktische Verbesserungen auch wirklich realisiert werden können.

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 URL des Dokuments: http://www.hermann-giesecke.de/werke6.htm

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