Hermann Giesecke

Gesammelte Schriften

Band 21 (1992 - 1995)

© Hermann Giesecke

Register

Zu dieser Edition
Dieser 21. Band meiner gesammelten Schriften enthält Arbeiten aus den Jahren 1992 bis 1995. In dieser Zeit war ich als Professor für Pädagogik und Sozialpädagogik an der Universität Göttingen am dortigen Fachbereich für Erziehungswissenschaften tätig. Nähere biographische Angaben finden sich in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen, Weinheim: Juventa Verlag 2000.
Die Edition der Schriften in diesem Band bemüht sich um Vollständigkeit. Aufgenommen wurden nur bereits gedruckte Texte.
Die Texte sind nach ihrem Erscheinungsjahr geordnet.
Die Plazierung der Fußnoten wurde vereinheitlicht; sie befinden sich nun am Ende des jeweiligen Beitrags. Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurden die Originale jedoch nicht verändert. Nachträgliche Anmerkungen des Herausgebers sind durch (*) oder durch ein Namenskürzel ("H.G.") gekennzeichnet. Um die Zitierfähigkeit der Texte zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.
Die Beiträge werden von "1" an nummeriert, die vorangehenden Arbeiten befinden sich in den früheren Bänden.
Inhalt von Band 21

168. Der Geist braucht mehr Freiheit (1992)

169. Jugendarbeit (1992)

170. Wenn nur noch Helden die Moral hochhalten können (1993)

171. Vom Kanon-Mythos und anderen Irrtümern (1993)

172. Wozu ist die Schule da? (1995)

173. Was ist mit der Schule los? (1995)



 

168. Der Geist braucht mehr Freiheit (1992)

In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt Nr. 51/1992, S. VII
 

Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß wir vor einer bildungspolitischen Wende stehen. Die Kassen der Kultusminister sind ebenso leer wie die der anderen Ressorts, und was von den knapp gewordenen Mitteln im Schul- und Hochschulwesen bezahlt wird, ist weitgehend ineffektiv geworden - einerseits durch kontraproduktive Bürokratisierung, andererseits durch übertriebene Pädagogisierung.

1,7 Millionen Studenten in Universitäten und Fachhochschulen teilen sich 900 000 offizielle Studienplätze. Immer mehr Schüler drängen zum Gymnasium, 30 Prozent eines Jahrgangs verlassen die Schule mit dem Abitur. Aber dessen Wert wird von den Abnehmern, also den Hochschulen und der Wirtschaft, zunehmend in Frage gestellt; in zu vielen Fällen garantiere das Abitur nicht mehr die Hochschulreife, also die Fähigkeit, ein Studium mit Aussicht auf Erfolg beginnen zu können. Zu viele junge Menschen seien schon in den Gymnasien und erst recht später in den Hochschulen wegen mangelnder Eignung fehl am Platz. Die Folge sei, sagen die Experten, daß im Durchschnitt 20 Prozent - in einzelnen Fächern bis zu 50 Prozent - das Studium ohne Abschluß abbrechen, und daß diejenigen, die einen Abschluß erreichen, im Durchschnitt etwa 14 Semester, also sieben Jahre, dafür brauchen.

Schlimmer als die finanzielle und strukturelle Krise wirkt sich die geistige aus. Der bildungspolitische Elan der sechziger und siebziger Jahre ist verflogen, viele reformpädagogische Hoffnungen haben sich nicht erfüllt oder sind ins Gegenteil umgeschlagen. Resignation hat sich in Schulen und Hochschulen breitgemacht. Was ist ihre eigentliche Aufgabe, und was ist ihnen aus zeitbedingten Mißverständnissen nur zusätzlich aufgeladen worden, so daß man sich davon wieder trennen müßte? Das intensive Bemühen, in den Schulen die Interessen und Bedürfnisse der Schüler ernst zu nehmen, sie möglichst nicht zu disziplinieren, ihnen Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen, hat sie vielfach auch über Gebühr unselbständig bleiben lassen und die Illusion genährt, daß Lernerfolge ohne ernsthafte geistige Anstrengung möglich seien. Das professionelle Selbstverständnis des Lehrerberufes steckt in einer tiefen Krise, die sich nicht zuletzt in einem hohen Krankenstand äußert, und neue, wieder motivierende pädagogische Leitmotive sind nicht in Sicht.

Trotz der Überfüllung sind zur Zeit die Berufsaussichten vieler Hochschulabsolventen nicht schlecht. Das war vor etwa zehn Jahren noch anders. Damals gab es eine hohe Akademikerarbeitslosigkeit, und die Bildungs- und Sozialpolitiker waren froh über die langen Studienzeiten, wurden doch auf diese Weise viele junge Menschen vom ohnehin überlasteten Arbeitsmarkt ferngehalten. Dieser Zeitvergleich macht auf ein Kernproblem moderner Bildungspolitik aufmerksam: Auf Phasen der Überproduktion an Hochschulabsolventen, die keinen Arbeitsplatz finden, folgen solche, in denen die Nachfrage nach ihnen nicht befriedigt werden kann.

Das Bildungswesen ist eben aufs engste verknüpft mit dem Beschäftigungssystem, und wirtschaftliche Konjunkturen und Krisen beeinflussen die Nachfrage nach Akademikern ebenso wie nach anderen Arbeitskräften. Wie lange der gegenwärtige Bedarf der Wirtschaft an Hochschulabsolventen noch bestehen wird, ist also ungewiß. Ein Blick auf die Geschichte der Bildungspolitik in diesem Jahrhundert zeigt, daß die Politik immer kurzsichtig reagiert hat, als ob der Zustand, der nun gerade gegeben ist - sei es Überfüllung oder Mangel - auch in Zukunft so bleiben werde.

Man muß wohl zunächst davon ausgehen, daß die Ausgaben für das öffentliche Bildungssystem auf absehbare Zeit nicht mehr in nennenswertem Umfange erhöht werden können; jedenfalls ist schon wegen der Kosten für die deutsche Einheit eine Kostenexplosion wie in den sechziger und siebziger Jahren kaum mehr vorstellbar. Es wird im wesentlichen darum gehen müssen, innerhalb des Bildungssektors Umschichtungen vorzunehmen - also zum Beispiel mit der Streichung des 13. Schuljahres flächendeckende Kindergärten zu finanzieren - und zu rationalisieren, also die Bildungseinrichtungen effektiver zu organisieren.

Der wesentliche Zweck des Schul- und Hochschulsystems müßte doch wohl sein, den Schülern und Studenten die Entfaltung ihrer Fähigkeiten zu ermöglichen, soweit dies mit den Mitteln des Unterrichts und der akademischen Lehre möglich ist. Die zuständigen öffentlichen Instanzen wie die staatliche Administration, die einschlägigen Verbände und Gewerkschaften, ja selbst die zuständigen Wissenschaften haben aber keineswegs die je individuelle Bildungsgeschichte des Schülers oder Studenten im Blick, sondern die Interessen derjenigen, die von deren Existenz leben: der Bürokraten, der Lehrer, der Professoren.

Hauptziel der Verbände ist die Vermehrung derer, die sie vertreten, und die öffentlichen Haushalte werden dafür ständig unter Druck gesetzt. In diesem Kontext agieren auch die in Fachverbänden verfaßten Wissenschaften. Deren Untersuchungen pädagogischer Probleme zum Beispiel führen fast durchweg zum selben Ergebnis: Das Personal muß vermehrt werden. In der Bildungspolitik wie in anderen Politikbereichen - die Ärzteverbände haben es gerade vorgeführt - hat sich eine unerträglich gewordene Anspruchshaltung gegenüber den öffentlichen Händen etabliert, die das Sparen immer den anderen überläßt und die deshalb so schwer zu korrigieren ist, weil sie inzwischen ja den Sinn solcher Organisationen fundiert.

Besonders deutlich wurde dies in der Vergangenheit an den Hochschulen, die ja im Rahmen ihrer Autonomie ihre Studiengänge und Studienordnungen weitgehend selbständig haben konstruieren können. Herausgekommen sind dabei im wesentlichen Marktabsprachen der beteiligten Fächer und Hochschullehrer, das Ergebnis war nicht die Ermöglichung optimalen Studierens, sondern ein überzogener Stoffkanon, in den jeder Beteiligte so viel wie möglich von dem hineinstopfen wollte, was aus seiner Sicht beziehungsweise aus der Sicht seiner Interessenten wichtig schien.

Insofern ist der heute oft zu hörende Vorschlag, die Studienordnungen sollten neu gefaßt, nämlich entrümpelt werden, nach aller Erfahrung zum Scheitern verurteilt, weil das dafür vorgesehene Verfahren sich als ungeeignet erwiesen hat. Die bessere Alternative ist nicht eine bessere Studienordnung, sondern deren möglichst weitgehende Wiederabschaffung, also die Wiederfreigabe des je individuellen Studierens - jedenfalls gilt das für die Geisteswissenschaften, über die allein ich hier sprechen kann und deren Fehler es war, sich in den siebziger Jahren auf solche, ihnen wesensfremde Reglementierungen eingelassen zu haben.

Aber in dieser Frage treffen wir auf einen Mythos, den ich den Kanon-Mythos nennen möchte, die Vorstellung nämlich, der Abiturient müsse eine bestimmte Menge Wissen - eben einen Kanon - sich einverleibt haben, um damit ein Studium beginnen zu können, an dessen Ende wiederum eine bestimmte Wissensmenge in seinem Kopf zu sein habe, damit er, so ausgestattet, erfolgreich einen Beruf ergreifen könne. Diese Kanon-Idee ist eine schulpädagogische Fiktion, erdacht zu dem Zweck, den sich über Jahre erstreckenden Unterricht als eine sinnvolle Addition von Unterrichtsstoffen zu rechtfertigen. Im Berufsleben jedoch verlaufen geistige Entwicklungen, herausgefordert durch Bewährungssituationen, ganz anders. Da wird kein Kanon abgefragt, da muß vielmehr das vorhandene und durch weitere Erfahrung und Bewährung sich vertiefende Potential an Wissen immer wieder zur Lösung von Aufgaben neu mobilisiert und strukturiert werden.

Der Kanon-Mythos schlägt sich auch nieder in der gegenwärtig immer lauter vorgetragenen Forderung nach einem Zentralabitur: An einem bestimmten Tage sollen alle Abiturienten eines Bundeslandes dieselben schriftlichen Prüfungsaufgaben lösen - ein auf den ersten Blick bestechender Gedanke, der ein Höchstmaß an gerechter Beurteilung zu versprechen scheint. Aber dieses Verfahren setzt voraus, daß vorher an allen Schulen dieses Bundeslandes dasselbe unterrichtet wurde, möglichst mit denselben Ergebnissen und in demselben Tempo und Umfang. Das Problem ist nur: Wer soll mit welcher Legitimation und mit welcher Begründung einen solchen Kanon festlegen, also für ein ganzes Bundesland entscheiden, was unterrichtet werden soll und was nicht? Dafür gibt es weder eine plausible pädagogische - also bildungstheoretische - noch eine wissenschaftliche, also sachlich zwingende Rechtfertigung.

Schon über die scheinbar einfache Frage was man denn zuerst lernen müsse, damit man danach etwas Schwierigeres lernen könne, gehen die Ansichten der zuständigen Experten weit auseinander. Übrig bliebe also die rein politische Entscheidung. Natürlich würden die Politiker solche Entscheidungen nicht allein treffen, da würden Gremien gebildet mit Vertretern der Wirtschaft, der Politik, der Wissenschaft. Nach allen Erfahrungen, die wir mit solchen Gremien in den vergangenen 25 Jahren außerhalb wie innerhalb der Hochschulen gemacht haben, kann man davor nur warnen.

Auf diesem Wege sind bisher immer nur Maximalkonstruktionen zustande gekommen, weil die Beteiligten nicht aus der Lernperspektive der Schüler und Studenten denken, sondern nach dem Motto agieren, daß die Gruppe, die man vertritt, um so bedeutsamer erscheint, je mehr Stoff ihr Funktionär für einen solchen Kanon zur Geltung bringen kann. Der relativen Willkürlichkeit eines solchen Kanons entspräche die Instrumentalisierung der Sachverhalte, die immer nur den Prüfungserfolg im Augen haben würde. Geisteswissenschaftliche Gegenstände und Themen können - abgesehen von schlichten Tatsachen - aber nicht nach "richtig" und "falsch" beurteilt werden, sie bedürfen der Interpretation, und insofern ist ihre "Wahrheit" letzten Endes unentscheidbar.

Der Lehrplan mag Stoffe und Themen im Sinne eines pragmatischen politischen Konsenses vorschreiben, aber es ist ein Unterschied, ob etwa das Thema "Nationalsozialismus" im Hinblick auf eine vom Unterrichtsprozeß selbst losgelöste abstrakte Prüfungsfunktion hin vom Lehrer behandelt wird oder ob er mit seiner Klasse bestimmte Akzente setzen kann, die dann auch in die spätere Prüfungsaufgabe eingehen können. In den Geisteswissenschaften ist die Prüfung Ergebnis eines Lernprozesses, nicht ihr Ausgangspunkt. Der Kanon-Mythos verführt dazu, die Studierfähigkeit von Abiturienten an ihren Vorkenntnissen zu beurteilen. Entscheidend ist aber, ob dieser Abiturient gelernt hat, selbständig zu arbeiten, auf diese Weise auch Wissenslücken zu schließen vermag, ohne dafür immer gleich einen Lehrer oder gar eine Lehrveranstaltung zu benötigen. Das setzt allerdings voraus, daß der Abiturient in den einzelnen Fächern realistische Noten bekommen hat, die ihm seine Stärken und Schwächen erkennen helfen. Der pädagogische Zeitgeist hat jedoch die schlechte Note mit der Aura persönlicher Kränkung umgeben.

Wenn jemand etwa in Mathematik ein "gut" bekommen hat - vielleicht, weil man ihm die Durchschnittsnote, die unsinnigste aller denkbaren Noten, nicht vermasseln wollte -, er tatsächlich jedoch eher ein "mangelhaft" verdient hätte, dann muß man sich nicht wundern, wenn er auf die Idee kommt, Mathematik oder mathematisch relevante Fächer in Verkennung seiner Kompetenz zu studieren. Die Durchschnittsnote ist deshalb die dümmste aller Noten, weil sie den pädagogischen Sinn unterschiedlicher Leistungen in unterschiedlichen Fächern zerstört, der darin besteht, die dabei erkennbaren Stärken und Schwächen für die weitere Lebensplanung zu berücksichtigen.

Die Schule ist zu einer Bildungsdienstleistung geworden; sie dient Kindern dazu, ihre individuellen Fähigkeiten zu entfalten in der Auseinandersetzung mit den Forderungen, die die Sachen der einzelnen Schulfächer stellen. Dabei sind in einer rasch sich wandelnden Gesellschaft, deren Berufsstrukturen ständig in Bewegung sind, formale Fähigkeiten wichtiger als inhaltliche Wissensmassen. Wissen, wie man etwas erfahren kann, was man wissen möchte; ein Thema sorgfältig recherchieren zu können; die Ergebnisse werbend für die Sache - und damit auch für die eigene Person - anderen präsentieren zu können; das moderne Kommunikationssystem optimal nutzen zu können - dies sind solche formalen Fähigkeiten. Ohne sie bliebe noch so viel Kanonwissen praktisch bedeutungslos.

Anstatt dieser Einsicht Rechnung zu tragen streiten sich die Kultusminister darüber, wie man den Stoff des 13. Schuljahres, wenn man es denn in Angleichung an eine europäische Regelung streichen würde, zusätzlich auf die vorausgehenden Klassenstufen verteilen könne. Als ob der Stoffkanon eine vom Schicksal vorgegebene Last sei! Nicht durch solche Maßnahmen wird die Studierfähigkeit gefördert, sondern durch eine steigende Anforderung an die Eigenarbeit, sprich: Hausarbeit. Eine Deutschstunde in der Oberstufe kostet zuviel, wenn sie nicht durch etwa zwei Stunden privater Lektüre vorbereitet wird. Nötig ist ein radikaler Perspektivenwechsel, weg von den Wissenschaften und hin zum lernenden Subjekt und damit auch zu dessen persönlicher Verantwortung für seinen Bildungsweg, die ihm die teilweise entmündigende Pädagogisierung der Universitäten weitgehend genommen hat.

Ein geisteswissenschaftliches Studium zum Beispiel ist ganz überwiegend ein privates Lektürestudium, und die Teilnahme an einem Seminar hat nur Sinn, wenn jeder Teilnehmer sich entsprechend vorbereitet hat. Sonst vergeudet er seine und seiner Dozenten Zeit. Wem soviel Lektüre auf den Nerv geht, der tanzt in den Geisteswissenschaften auf der falschen Party und kann nicht erwarten, daß ihm als Kompensation dafür ein Motivationskindermädchen an die Seite gestellt wird. Die ausgeklügelten Studienordnungen haben jedoch zu der Vorstellung geführt, es genüge, an möglichst vielen Lehrveranstaltungen unvorbereitet teilzunehmen - entsprechend den in Semesterwochenstunden-Zahlen ausgedrückten Anweisungen. Hat man diese Zeit in sinnlos überfüllten Hörsälen abgesessen, dann ist Feierabend.

Zur persönlichen Verantwortung für den eigenen Bildungsweg gehört auch, den Kern der benötigten Fachliteratur zu kaufen beziehungsweise auf die Wunschliste für Geburtstag und Weihnachten zu setzen. Öffentliche Bibliotheken jedenfalls sind nicht dazu da, massenhaft die meist preiswerten Lehrbücher vorrätig zu halten, während die Umsätze der Klamottenindustrie ständig steigen und ohne eigenes Auto eine Studentenexistenz schon gar nicht mehr zumutbar erscheint.

Damit ist eine weitere heilige Kuh der Bildungspolitik angesprochen, daß nämlich Bildung nur dann von Wert sei, wenn sie möglichst nichts kostet oder nur die Allgemeinheit etwas kostet. Diese Moral ist in manchen Bundesländern durch die generelle Lernmittelfreiheit nicht wenig gefördert worden. Die Erfahrung, daß Bildung zum finanziellen Nulltarif zu haben sein muß, wird vielfach auch zur Anspruchshaltung gegenüber den Anforderungen, die die Sache stellt: Auch das Lernen und Studieren soll so wenig wie möglich kosten - an Zeit, Energie, Motivation.

Kommen wir zu einem weiteren Mythos, der rational kaum noch diskutiert werden kann: der Praxisorientierung des Studiums, der Vorstellung also, man könne mit einem bestimmten Wissenskanon sich optimal auf einen bestimmten Beruf vorbereiten, was aus der Sicht der Studenten dann zu der Angst führt, nur ja nichts zu lernen, was nicht möglichst unmittelbar und direkt diesem Ziel dient - eine Einstellung, die auch nur wieder die Lernmotive korrumpiert. Warum soll der spätere Lehrer, der zum Beispiel Geschichte studiert, etwas anderes dabei lernen als der spätere Journalist oder Lektor?

Für den späteren beruflichen Wert eines geisteswissenschaftlichen Studiums ist es ziemlich gleichgültig, was jemand in seinem Fach studiert hat, wenn er es nur so intensiv wie möglich getan hat und so, daß er dabei die erwähnten formalen Fähigkeiten gefestigt hat. Es ist eben diese allgemeinbildende Dimension des geisteswissenschaftlichen Studiums, die flexibel und disponibel macht für eine ganze Bandbreite von Berufen, in die man sich dann jeweils speziell einarbeiten muß.

Jeder Berufstätige weiß, daß er vieles, wenn nicht sogar das Wichtigste erst im Rahmen seiner Berufstätigkeit gelernt hat, nicht vorher. Das hängt mit der Tatsache zusammen, daß wir nicht alles Wichtige an einem einzigen sozialen Ort lernen können. Es gilt also die alte Einsicht wieder zu entdecken, daß die berufsbildende Qualität des geisteswissenschaftlichen Studiums in seinem allgemeinbildenden Charakter zu sehen ist und daß demzufolge alle Reglementierungen, die dem zuwiderlaufen, die berufliche Qualität des Studiums behindern. Der Student kann heute nicht mehr mit einem bestimmten Beruf rechnen, sondern muß sich nach dem Abschluß des Studiums auf den Markt begeben und sehen, was ihm dort angeboten wird.

Kein Studiengang kann mehr eine bestimmte berufliche Funktion versprechen, und deshalb müssen die Studierenden auch in einem höchstmöglichen Maße das Recht erhalten, ihre Studienschwerpunkte und ihre Fächerkombinationen selbst zu wählen. Auf diesem Hintergrund macht es auch Sinn, eine Zwischenprüfung wie etwa das Vordiplom als Studienabschluß eines Grundstudiums zu akzeptieren.

Warum sollte dies den Studierenden nicht selbst überlassen bleiben, wenn sie dabei eine Chance für ihre berufliche Perspektive sehen? Möglicherweise sind manche von ihnen für die Wirtschaft deshalb interessant, weil sie dem laschen Stil einer zu langen Studienzeit noch nicht erlegen sind, sondern endlich eine ernsthafte Berufsbewährung wünschen. Jedenfalls würde ein solches Grundstudium die allgemeinbildenden Fähigkeiten erhöhen und wäre somit nicht sinnlos.

Viele beginnen auch ein Studium mit falschen Erwartungen und wünschen diese Entscheidung so gut wie möglich zu korrigieren. Dann ist es immer noch besser, dies mit einem Abschluß zu tun, als sich in die Reihe der unmotivierten Langzeitstudenten zu begeben. Solange es keine attraktiven Alternativen seitens der Wirtschaft gobt - die Ausbildung in den gewerblichen Lehrberufen ist weitgehend veraltet, weil sie zu spezialisiert ist und auf dem allgemeinbildenden Niveau der Hauptschulabgänger aufbaut - werden viele Schüler und Schülerinnen das Abitur erreichen und anschließend studieren wollen. Diese Absicht ist nicht per se unsinnig, weil dadurch ihr Marktwert erhöht werden kann. Regulieren kann das nur der Arbeitsmarkt, weder das Zentralabitur noch eine andere Reglementierung aus der Mottenkiste der siebziger Jahre.

Eine wesentliche Tendenz unserer Zeit ist die Individualisierung der Lebensverhältnisse und damit auch der Zukunftsperspektiven. Darauf sind unsere institutionell erstarrten Mammut-Organisationen namens Universität nicht vorbereitet. Deshalb hat es auch keinen Sinn, einfach nur mehr Geld in sie hineinzupumpen, solange sie nicht wieder die Autonomie und Selbstverantwortung des Studierens nicht nur als das maßgebende akademische Verhalten, sondern auch als ernsthafte Kostenentlastung begreifen.

Es ist also nicht weiter verwunderlich, daß diese Forderung in den gegenwärtigen bildungspolitischen Diskussionen kaum erhoben wird, sie liegt nicht im Interesse der erwähnten Verbände und Administrationen. Diese können die Mündigkeit und Autonomie derer, denen sie ihre Existenz verdanken, nicht gebrauchen. Sie benötigen Studierende, die ihr Studium nicht in die eigenen Hände und Köpfe nehmen, sondern in Massen isoliert hilflos auf jemanden warten, der sie weiterhin an die Hand nimmt. Die selbständig Studierenden sind kaum verwaltungsfähig und verunreinigen die Planstellenberechnungen.

Gewiß ist diese Form der Kostenentlastung nur eine von mehreren notwendigen, aber sie führt ins Zentrum der unaufschiebbaren inneren Reformen, die nicht zuletzt den Sinn des Studierens wieder zum Thema machen müssen, wenn er nicht gänzlich überwältigt werden soll durch die Finanzpolitiker und Bürokraten. Die Individualisierung der Lebensentwürfe und Bildungsperspektiven muß aber darüber hinaus zu einer allgemeinen Konstruktion des Bildungswesens führen, die keine einmal getroffene Schul- oder Berufsentscheidung unwiderruflich macht.

169. Jugendarbeit (1992)

In: R. Bauer (Hrsg.): Lexikon des Sozial- und Gesundheitswesens, 3 Bde., München 1992, Bd. 2, S. 1077-1088
 

1. Definition: Unter J. verstehen wir heute alle diejenigen Einrichtungen und Maßnahmen, die Kindern und Jugendlichen in ihrer Freizeit von staatlichen ("öffentlichen") oder Freien Trägern der Jugendhilfe mit pädagogischer Zielsetzung angeboten werden und die freiwillig wahrgenommen werden können. Der ältere Begriff "Jugendpflege" findet sich heute nur noch in Rechtstexten und in der Berufsbezeichnung "Jugendpfleger".

2. Entstehung und Entwicklung. Formen von J. finden sich in allen modernen Industriegesellschaften, wie z.B. die weltweite Verbreitung der 1907 von Baden-Powell in England gegründeten Pfadfinder zeigt. In Dt. jedoch entstanden besondere Formen und Strukturen. Maßgebend dafür waren die Entstehung der bürgerlichen Jugendbewegung (Wandervogelbewegung) und der Arbeiterjugendbewegung (1904) einerseits, sowie die staatliche Intervention der Jugendpflege (preußischer Erlaß von 1911) andererseits.

Die bürgerliche Jugendbewegung entwickelte auf dem Hintergrund allgemeiner kulturkritischer Stimmungen und Strömungen eine eigentümliche Gleichaltrigen-Subkultur, die geprägt war von anti-zivilisatorischen Affekten (Distanz zur Großstadt, zur modernen Technik, zur Massengesellschaft), und favorisierte dagegen die Freude am Wandern in der freien Natur, am reduzierten Komfort (Übernachtung in Scheunen und Zelten) und an der sozio-emotionalen Intimität der kleinen, selbstgewählten Gruppe. Höhepunkt dieser Bewegung war das Treffen der "Freideutschen Jugend" auf dem Hohen Meißner am 13.10.1913, das als Gegenfest zum, mit nationalistischem Pomp gefeierten, 100jährigen Jubiläum der Völkerschlacht bei Leipzig veranstaltet wurde. Diese Bewegung entwickelte das Ideal eines "jugendgemäßen Lebens" (Naturnähe; Hinwendung zu Gleichaltrigen; spezifische Moden, Lieder, Tänze; sexuelle Enthaltsamkeit), das dann von der Weimarer Zeit bis in die 60er Jahre zum pädagogischen Kernstück aller J. in Dt. wurde.

Die Arbeiterjugendbewegung entstand 1904 in Norddeutschland spontan als Protestbewegung gegen die Ausbeutung und Mißhandlung von Lehrlingen. Die süddeutsche Gründung im selben Jahr war eine Folge des Internationalen Sozialistenkongresses in Amsterdam, wo dt. Teilnehmer Vertreter ausländischer sozialistischer Jugendorganisationen kennengelernt hatten. Im Unterschied zur bürgerlichen Jugendbewegung hatte die Arbeiterjugendbewegung also politische bzw. wirtschaftliche Hintergründe. Gerade deswegen aber geriet sie in Konflikt mit den sozialistischen Gewerkschaften einerseits, die am Monopol der wirtschaftlichen Interessenvertretung festhielten, und mit den staatlichen Behörden andererseits. Im Unterschied zu den süddeutschen Ländern war in Preußen durch das Vereinsgesetz Jugendlichen die Teilnahme an politischen Versammlungen und die Mitgliedschaft in politischen Vereinigungen verboten.

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Diese Bestimmung wurde durch das Reichsvereinsgesetz von 1908 auch auf die süddeutschen Länder ausgedehnt. Ergebnis war im selben Jahr das Ende selbstständiger Arbeiterjugendorganisationen. Sie wurden ersetzt durch lokale, von Partei und Gewerkschaft eingerichtete "Jugendausschüsse", die u. a. Bildungsarbeit betrieben und deren Spitzenorganisation die Berliner "Zentralstelle für die arbeitende Jugend" wurde.

In der politischen Auseinandersetzung mit der Arbeiterjugendbewegung entstand die moderne Jugendpflege. Im Unterschied zu den Jugendbewegungen ist für Jugendpflege charakteristisch, daß Erwachsenenorganisationen versuchen, Jugendliche für ihre Interessen und Werte dauerhaft zu gewinnen. In diesem Sinne gab es schon im 19. Jh. Jugendpflegeorganisationen u. a. der Kirchen. Da solche bürgerlichen Organisationen im Unterschied zu den sozialistischen als staatstragend galten, war dem Staat daran gelegen, daß möglichst viele Arbeiterjugendliche, deren Zahl sich u. a. in den Großstädten sprunghaft vermehrt hatte, von solchen Organisationen erfaßt wurden, denn zwischen Volksschulabschluß einerseits und dem Eintritt in den Militärdienst andererseits war eine Kontrollücke entstanden, d.h. in dieser Lebensphase blieben die jungen Lehrlinge und Arbeiter außerhalb des Arbeitsplatzes - also in ihrer Freizeit - weitgehend sich selbst überlassen, was nicht nur wegen steigender Jugendkriminalität von der bürgerlichen Öffentlichkeit als problematisch empfunden wurde. Um die Arbeiterjugend sozial zu disziplinieren, wurde einerseits seit 1900 (Preußisches Fürsorgeerziehungsgesetz) ermöglicht, Jugendliche in Anstalten der Zwangserziehung (nun "Fürsorgeerziehung" genannt) einzuweisen, "wenn Verwahrlosung droht", auch wenn keine Straftat vorlag. Andererseits versuchte der Staat - Vorreiter war Preußen mit dem Jugendpflegeerlaß von 1911 für die männliche und 1913 für die weibliche Jugend - mit für damalige Verhältnisse beachtlichen Subventionen (in Preußen 1 Million Reichsmark) die bürgerlichen Jugendpflegeorganisationen zur Arbeit mit Arbeiterjugendlichen zu befähigen; die sozialistischen blieben von der Förderung ausgeschlossen. Aus dieser ursprünglichen Problemlage der doppelten Sozialkontrolle erwuchs die bis heute gültige Rechtsauffassung, daß Jugendpflege bzw. J. "vorbeugende Jugendfürsorge" sei. Es gelang den bürgerlichen Organisationen jedoch nicht, Arbeiterjugendliche in nennenswertem Umfang zu gewinnen.

Nach dem Ersten Weltkrieg erreichte die J. einen Höhepunkt. Neben der "bündischen Jugend" - der Fortsetzung der bürgerlichen Jugendbewegung - entstanden nun zahlreiche, von Erwachsenenverbänden eingerichtete Jugendorganisationen (u.a. der Kirchen, der Arbeiterbewegung und des Sports). Fast jeder zweite Jugendliche gehörte nun einer solchen Organisation an. Möglich wurde diese Ausweitung durch die Instrumentalisierung des "Jugendgemäßen", d.h. die spezifischen Erwartungen der jeweiligen Erwachsenenorganisation verbanden sich mit den Normen und Zielen der jugendlichen Subkultur. Öffentlich gefördert wurden nämlich die für pädagogisch wertvoll gehaltenen jugendgemäßen Aktivitäten, nicht die partikularen Ziele der Verbände. Dachorganisation der Jugendverbände wurde der "Reichsausschuß der Deutschen Jugendverbände", der beachtliche jugendpolitische Initiativen entfaltete, obwohl er nur einstimmig Beschlüsse fassen konnte. So trat er mit großer öffentlicher Resonanz - wenn auch erfolglos - für die Verbesserung der Lage der Arbeiterjugend ein, u.a. für regelmäßigen Urlaub und für Arbeitszeitverkürzung. Erst die Hitlerjugend (HJ) konnte einen Teil dieser Forderungen durchsetzen.

Im NS-Staat wurde die J. in Gestalt der HJ monopolisiert; konkurrierende Organisationen wurden verboten bzw. kirchliche Maßnahmen wurden auf die reine Seelsorge beschränkt. Dies blieb aber insofern Episode, als nach dem

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2. Weltkrieg sich die J. wieder in der Form etablierte, wie sie vor 1933 bestanden hatte. (In der SBZ bzw. DDR allerdings fand die staatliche Monopolisierung der J. in Gestalt der Freien Deutschen Jugend (FDJ) eine Fortsetzung). Für die weitere Entwicklung in der BR bedeutsam wurden die in den 60er Jahren einsetzende Professionalisierung, die die bis dahin dominierenden ehren- bzw. nebenamtlichen Funktionsträger zurückdrängte, und das Entschwinden des Ideals des "Jugendgemäßen", das nun nicht mehr als Abgrenzungskriterium zu anderen Freizeitangeboten dienen konnte An seine Stelle traten Konzepte der außerschulischen "Jugendbildung".

3. Organisationsstruktur. Die Organisationsstruktur der J. hatte sich in den Grundzügen schon vor dem 1. Weltkrieg ergeben: der Staat betreibt selbst keine J., er subventioniert aber diejenigen Träger, die politisch und pädagogisch im Sinne seiner Ziele handeln. Damit die öffentlichen Mittel auch zweckmäßig eingesetzt werden, wurden schon vor dem 1. Weltkrieg örtliche "Jugendpflegeausschüsse" eingerichtet, in denen die einzelnen Verbände vertreten waren. Heute gibt es entsprechend den einzelnen Finanzierungsebenen Stadt- bzw. Kreisjugendringe, Landesjugendringe und den Bundesjugendring. Die öffentliche Förderung erfolgt im Rahmen des Bundesjugendplanes (seit 1951), der jeweiligen Landesjugendpläne und im kommunalen Rahmen. Rechtliche Grundlage ist das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) von 1922 in der Fassung von 1963 (seitdem Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) genannt), das jedoch die J. in §5 nur in allgemeiner Form erwähnt. Ausführlichere Regelungen enthalten die Länderausführungsgesetze zum JWG sowie die Jugendbildungsgesetze einzelner Länder. 1990 wurde das JWG durch ein neues Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) abgelöst, das in den §§7-9 ausführlicher auf die J. eingeht. Das Verhältnis von Staat und nicht-staatlichen Trägern ist durch das sog. "Subsidiaritätsprinzip" geregelt, d.h. der Staat soll nur dann als Träger der Jugendhilfe tätig werden, wenn eine Aufgabe nicht oder nicht ausreichend von nicht-staatlichen Trägern wahrgenommen wird. Im neuen KJHG ist dieses Prinzip faktisch aufgegeben, wenn auch die Förderung der eigenverantwortlichen Jugendverbände ausdrücklich betont wird (§ 9).

4. Formen und Inhalte. Kernstück der J. sind nach wie vor die Jugendverbände. Sie spiegeln die Pluralität der Gesellschaft wider, indem sie jeweils partikulare politische oder religiöse Ziele verfolgen können. Sie betreiben sowohl geschlossene J. für ihre Mitglieder als auch offene, indem sie Veranstaltungen für jeden daran interessierten Jugendlichen anbieten. Hinzu kommen meist von Kommunen eingerichtete lokale Jugendfreizeitstätten, die sowohl für programmgebundene Gruppen zugänglich sind, als auch für Einzelgäste. Schließlich sind die überregionalen Jugendbildungsstätten zu erwähnen, in denen mehrtägige Tagungen veranstaltet werden können. Sie dienen insb. der Fortbildung und thematisch orientierter Bildungsarbeit. Die Inhalte der J. sind mitbedingt durch Vorgaben der öffentlichen Finanzierung, stellen sich aber inzwischen in einem breiten Spektrum dar. Zu nennen sind u. a. politische, kulturelle und naturwissenschaftlich-technische Bildung, Geselligkeit, Spiel und Sport, Kinder- und Jugenderholung sowie internationale J.

5. Gesellschaftliche Bedingungen. J. ist ein subventionierter Teil des allgemeinen, auch kommerziellen Freizeitsystems, und ihre Angebote stehen in ständiger Konkurrenz zu Alternativen des Freizeitmarktes. Diese Tatsache ist von erheblicher Bedeutung für die Programmgestaltung. Immer wieder muß neu entdeckt werden, welche Bedürfnisse und Interessen einerseits für pädagogisch bedeutsam gehalten werden, andererseits aber im übrigen Freizeitsystem nicht befriedigt werden. Die Ge-

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schichte der J. zeigt, daß jugendliche Bedürfnisse und Interessen, welche die Angebote der J. attraktiv machen können, je nach Gesamtlage der Sozialisation unterschiedlich sind. Sehnsucht nach verbindlichen gleichaltrigen Gemeinschaften, politische oder weltanschauliche Identifikation mit Gleichgesinnten und Distanz zum schulischen, familiären und beruflichen Alltag lassen sich als tragende Motive ausmachen. Ziele und Inhalte der J. lassen sich also nicht generell formulieren, sondern nur als Reaktion auf eine jeweilige Generationslage. J. hat im Kontext der übrigen Sozialisationsfaktoren also u. a. kompensatorische Funktionen.

Im Unterschied zum formellen Schulwesen ist die J. gekennzeichnet durch die Freiwilligkeit der Teilnahme, das Fehlen von Berechtigungsnachweisen (Zeugnisse usw.) und inhaltlichen Lehrplanvorgaben. Diese Bedingungen ermöglichen in hohem Maße, Bedürfnisse und Interessen der Jugendlichen zu berücksichtigen und eine partnerschaftliche pädagogische Beziehung zu pflegen. Andererseits bleiben die pädagogischen Möglichkeiten jedoch auch begrenzt, weil langfristige Planungen nicht möglich sind ("Kurzzeitpädagogik"). Gegen das bestehende System der J. ist u. a. wegen der hohen Kosten immer wieder öffentliche Kritik laut geworden, die es u a. für historisch überholt hält. Dazu läßt sich sagen, daß das Interesse von Erwachsenenverbänden an Nachwuchsorganisationen sicher bestehen bleiben wird. Eine andere Frage ist, welche Bedeutung offene Formen der J. z. B. in Freizeitstätten haben werden. Hier zeichnet sich in letzter Zeit eine Tendenz zur Sozialpädagogisierung ab, d.h. die Angebote konzentrieren sich je nach den örtlichen Gegebenheiten auf Betreuung und Befriedung von Problemgruppen (z. B. Jugendarbeitslosigkeit, Ausländer; Drogengefährdete), was früher nicht Aufgabe der J. war.
 
 

Literatur:

Belardi, Nando: Erfahrungsbezogene Jugendbildungsarbeit; Gießen 1975. Bierhoff, Burkhard: Theorie der J., Lollar 1974. Böhnisch, Lothar/Münchmeier, Richard: Wozu J. ?; Weinheim, München 1987. Eberts, Erich: Arbeiterjugend 1904 bis 1945, Frankfurt 1980. Eisenstadt, Samuel N.: Von Generation zu Generation, München 1966. Faltermaier, Martin (Hrsg.): Nachdenken über J; München 1983. Giesecke, Hermann: Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend, München 1981. Ders.: Die J., 5.Aufl. München 1980. Hellfeld, Mathias von: Bündische Jugend und Hitlerjugend, Köln 1987. Klönne, Arno: Jugend im Dritten Reich, Düsseldorf-Köln 1982. Krafeld, Franz Josef: Geschichte der J., Weinheim 1984. Laqueur, Walter: Die deutsche Jugendbewegung, Köln 1978. Lessing, Helmut/Liebel, Manfred: Jugend in der Klassengesellschaft, München 1974. Lüers, Ulf, u.a.: Selbsterfahrung und Klassenlage, München 1971. Müller, Wolfgang, u.a.: Was ist J.?, München 1964. Pross, Harry: Jugend, Eros, Politik, Bern 1964. Schelsky, Helmut: Die skeptische Generation, Düsseldorf 1957. Spranger, Eduard: Psychologie des Jugendalters, Leipzig 1926.

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170. Wenn nur noch Helden die Moral hochhalten können (1993)

In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt Nr. 7/1993/12.2.93

(Es handelt sich um einen Auszug aus meinem Buch "Hitlers Pädagogen", München 1993, H.G.)
 

Wenn wir uns die politische Kriminalität des NS-Regimes vor Augen führen, dann drängt sich die Frage auf, welchen Anteil die Erziehung daran gehabt haben mag. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Bilanzierung des Entsetzlichen unausweichlich wurde, ist darüber nach allen möglichen Richtungen hin diskutiert worden. Man hat praktisch die gesamte deutsche Bildungstradition dafür verantwortlich gemacht: die politische und soziale Weltfremdheit des humanistischen Gymnasiums, den undemokratischen Aufbau des Schulwesens; das autoritäre Milieu der deutschen Schule ebenso wie ihre militaristisch-nationalistischen Traditionen.

Nun läßt sich mit derlei Recherchen vielleicht manches erklären, zum Beispiel eine kollektive Tendenz zu bestimmten Ideologien, Einstellungen oder Verhaltensweisen, zu nationalistischen und militaristischen Grunddispositionen. Angesichts des Ausmaßes der hier zur Debatte stehenden Kriminalität gehen jedoch solche Rekonstruktionen ins Leere, ja, sie verniedlichen nur das Schreckliche. Die - meinetwegen bornierte - preußische Kadettenerziehung oder das - meinetwegen weltfremde - Gymnasium als Ursache des Holocaust? Da wären die Möglichkeiten von Erziehung weit überschätzt.

Und wie steht es mit der NS-Erziehung selbst? Das Nürnberger Tribunal hat die HJ-Erziehung freigesprochen von dem Verdacht der Kriegsvorbereitung; Baldur von Schirach mußte nicht wegen seiner HJ ins Spandauer Gefängnis. Und die Richtlinien für die Schulen im Nationalsozialismus zielen zwar auch auf Selbstrechtfertigungen des Regimes, auf mancherlei Indoktrination, auf rassische Verfälschung von Sachverhalten, aber eine Anleitung zur politischen Kriminalität läßt sich daraus nicht ablesen. Weder die Schule noch der außerschulische kultische Mummenschanz haben vermocht, das deutsche Volk kriegslüstern zu machen. Selbst das verbreitete antisemitische Ressentiment konnte nicht von selbst und folgerichtig in die neue Qualität des planmäßigen Völkermordes umschlagen. Der Glaube, durch Erziehung könne so etwas verhindert werden, mag denen schmeicheln und sie wichtig machen, die diesem Geschäft ihre Profession verdanken, aber er führt am Kern des Problems vorbei.

Nicht mit dem Begriff der Erziehung, wohl aber mit dem Begriff der Sozialisation können wir uns diesem Kern nähern. Die Verbrechen wurden nicht durch eine bestimmte Erziehung vorbereitet, sondern durch das Arrangement von Handlungssituationen, die kriminelles Handeln nicht nur möglich machten, sondern auch positiv bewerten ließen, und in denen dem entgegenstehende Bedenken kaum soziale Resonanz mehr erhielten.

Der Soldat oder SS-Mann, der sich am Morden beteiligen sollte oder auch nur Zeuge wurde, geriet in eine tiefe soziale Isolierung, wenn er auch nur Bedenken geäußert, geschweige sich verweigert hätte. Das Morden setzte voraus ein dafür passendes soziales Milieu, das sich in der Heimat nicht herstellen ließ, sondern des Krieges und der Besetzung anderer Länder bedurfte. Im europäischen Osten ließen sich - pädagogisch gesprochen - Sozialisationsbedingungen arrangieren, die denjenigen, der nicht mitmachen wollte, schon wegen der militärischen Befehlsstrukturen wenn nicht physisch, so doch mit dem Entzug von Identität bedrohte.

Die Menschen, die diese Verbrechen begangen haben, waren nicht nationalsozialistisch erzogen worden, sie hatten ihre Kindheit und Jugend ganz überwiegend vor 1933 verbracht, waren aufgewachsen in mehr oder weniger "normalen" Familien, hatten "normale" bürgerliche Schulen besucht. Die Erziehung in der Zeit zwischen 1933 und 1943 betraf eine Generation, die schon aus Altersgründen kaum Gelegenheit bekam, sich innerhalb der NS-Zeit an solchen Untaten zu beteiligen. Die meisten der in dieser Zeit Erzogenen wurden nach 1943 erst erwachsen und mußten den Wiederaufbau nach dem Kriege in die Hand nehmen. Sie taten dies bekanntlich mit erheblicher Energie und gliederten sich dabei in eine demokratische Staats- und Gesellschaftsverfassung ein, die sich als relativ stabil erwiesen hat. Welche Bedeutung dabei die in der NS-Zeit erlebte Erziehung hatte, ist kaum zu beurteilen.

Wie aber hätte sich diese Generation verhalten, wenn Hitler den Krieg gewonnen und sie zum Beispiel als imperiale Unterdrücker im osteuropäischen Raum eingesetzt hätte? Gewiß, diese Frage ist rein spekulativ und deshalb nicht zu beantworten, aber sie weist dennoch in die richtige Richtung. Die entscheidende Frage ist nämlich nicht, welche Erziehung diese Menschen genossen haben, sondern welche Bewährungssituationen sie anschließend vorfanden, was dort als gut und richtig galt. Dieselben SS-Männer, die sich an der Ermordung der europäischen Juden beteiligten, hätten unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen, die andere moralische Rückmeldungen zur Folge gehabt hätten, auch anders gehandelt. Viele dieser Täter haben sich ja auch erfolgreich in den Wiederaufbau nach 1945 eingeschaltet und normale bürgerliche Berufe ausgeübt - wie die späteren KZ-Prozesse immer wieder gezeigt haben.

Aus pädagogischer Sicht stellt sich dabei die Frage, ob und in welchem Maße Erziehung und Sozialisation normativ übereinstimmen. Deckt sich das, was die jeweils zuständigen Erzieher (Eltern, Lehrer) an normativen Leitmotiven übermitteln, mit dem, was das Kind außerhalb dieser pädagogischen Einflüsse - nämlich im Rahmen seiner allgemeinen gesellschaftlichen Teilhabe - an Einwirkungen erfährt? Für die Kindheit und Jugendzeit der vor 1933 zur NS-Bewegung gestoßenen Erwachsenen traf das wohl im großen und ganzen noch zu. Ein Bruch wird jedoch sichtbar nach dem Ersten Weltkrieg, dessen Ergebnis unter anderem die normative Pluralisierung der Gesellschaft war. Nun traten Erziehung und Sozialisation auseinander, und was die zuständigen Erzieher in Familie und Schule an Werten vermittelten, wurde außerhalb dieser pädagogischen Felder zumindest relativiert, wenn nicht gar verhöhnt (wie das Heroische durch Pazifisten). Mit der Idee des Erziehungsstaates haben die Nationalsozialisten die Einheit von Erziehung und Sozialisation wiederherstellen wollen.

Das Problem des Verhältnisses von Erziehung und Sozialisation stellt sich jedoch nicht nur für die Phase der Kindheit und Jugend, sondern auch für die spätere Phase des Erwachsenseins. Wenn man als "erfolgreiche" Erziehung die Tatsache versteht, daß die in Kindheit und Jugend vermittelten Werte auch für das Leben des Erwachsenen zumindest prinzipiell gültig bleiben, dann setzt das voraus, daß in den Lebenssituationen, in denen sich der Erwachsene bewähren muß, diese Werte auch "nachgefragt" werden, also auf soziale Resonanz treffen können. Die Bewährungssituationen müssen also den früheren Erziehungs- und Sozialisationserwartungen einigermaßen entsprechen, biographische Kontinuität muß hinreichend gesichert sein.

Dies traf nun für viele Männer der Kriegsgeneration nicht mehr zu, die sich nach dem Ersten Weltkrieg an die gewandelten Verhältnisse nicht gewöhnen konnten. Die "verlorene Generation". zu der auch Hitler und seine "alten Kämpfer" gehörten, erlebten, daß den Versprechungen der Kindheit nun keine angemessene Realität entsprach. Einen vielleicht noch radikaleren biographischen Bruch verursachte der Zweite Weltkrieg. Er bewirkte für nicht wenige Menschen eine Art von "Gegen-Sozialisation" zu den in Kindheit und Jugend erworbenen Normen. Da das Töten des von der Politik definierten Feindes in dieser Ausnahmesituation auch moralisch selbstverständlich wird - was das Getötetwerden einschließt - , gelten hier andere Maßstäbe, als sie in der Erziehung gelernt wurden.

Spätestens dann, als die politische Führung - also Hitler - zumindest im Osten nicht den Sieg über den Gegner - mit der Chance eines anschließenden Friedens - , sondern seine Vernichtung anstrebte und zu diesem Zweck den Feind als "Untermenschen" definierte, war die Grenze zur politischen Kriminalität überschritten, und jeder Deutsche war nun in mehr oder weniger direkter Weise darin verwickelt, ein Mittäter geworden. Die Ermordung der europäischen Juden war nur möglich unter den Ausnahmebedingungen des Krieges - als in den Kriegshandlungen versteckte Maßnahme, in Friedenszeiten wäre sie trotz des Machtmonopols der Nazi in Deutschland kaum möglich gewesen.

Man kann in Friedenszeiten nicht für de Krieg erziehen und im Krieg nicht für den Frieden danach, weil die Sozialisationsbedingungen als Summe der realen sozialen Erwartungen und Zwänge weder hintergangen noch antizipiert werden können. Möglich wäre dies nur dann, wenn Erziehung lediglich die Formung eines von allen konkreten sozialen Bezügen losgelöst gedachten "Charakters" wäre. So ähnlich hat sich Hitler dies wohl vorgestellt, wenn er von "Erziehung des Charakters" sprach und ein boxerisches Härtetraining favorisierte.

Aber gerade die NS-Zeit hat bewiesen, wie bedeutungslos Erziehung wird, wenn später diejenige soziale und gesellschaftliche Kultur nicht mehr vorhanden ist, für die sie gedacht war. Dann bleibt nur übrig ein Repertoire von angeborenen und angelernten Verhaltensmöglichkeiten, die im Hinblick auf die neue Situation um des Überlebens willen beziehungsweise um einer erfolgreichen Karriere willen neu kombiniert werden müssen. Das Ergebnis konnte sein der mordende SS-Mann, dessen brave Kindheit nicht mehr die seine war. Weder die Schule der preußischen Armee noch das humanistische Gymnasium, noch die katholische Konfessionsschule haben die Barbarei verhindern können.

Dies ist eine bittere Erkenntnis, wenn man daran denkt, mit wie viel Hartnäckigkeit und Kampfeseifer für diese Erziehungungsformen gestritten worden ist, weil doch ohne sie der Mensch nicht zum Menschen werden könne. Adornos Hoffnung, daß eine bessere Erziehung künftig so etwas wie Auschwitz verhindern möge, wird nur dann nicht trügen, wenn dies in erster Linie politisch verhindert werden kann, nämlich durch die rechtzeitige Klärung der Machtfrage.

Wohl zu ihrer eigenen Überraschung hatten die Nazis schon sehr bald, nämlich etwa ab 1935, keinen innenpolitischen Gegner mehr zu fürchten, der sich noch hätte machtvoll organisieren können. Übrig blieben mutige Einzeltaten, die so wenig politische Relevanz hatten, daß die Nazis nicht einmal zum offenen, im Alltag jedermann erkennbaren Terror greifen mußten, sondern sich darauf beschränken konnten, einzelne Mißliebige in den Morgenstunden abzuholen.

Aus den Zeugnissen vieler Menschen geht hervor, daß sie die Zeit der politischen Barbarei nur dadurch geistig überleben konnten, daß sie auf den Fundus ihrer Bildung zurückgreifen konnten, auf Literatur und Kunst zum Beispiel, was ihrem Bewußtsein ermöglichte, künftige, bessere, friedliche, humane Zeiten zu antizipieren. Als die Zeit dann dafür gekommen war, das Verhalten von den Fesseln der politischen Kriminalität befreit war, konnte dieses Bewußtsein auch praktisch werden. Aber es war auch hier die politische Macht, in diesem Falle die der alliierten Sieger, die diese Wende ermöglichte.

Betrachten wir auf diesem Hintergrund die pädagogischen Gedanken und Konzepte Kriecks, Baeumlers und Schirachs (drei NS-Erziehungstheoretiker), so sind daran spezifisch nationalsozialistisch zunächst nur bestimmte politische Implikationen: ihr antidemokratischer, antiliberaler und antipluralistischer Affekt. Der aber schlägt nicht unbedingt durch auf die pädagogischen Vorstellungen und Praktiken im engeren Sinne. Die HJ zum Beispiel war ein monopolistischer Jugendverband, das war politisch gewollt. Aber was dann im einzelnen an pädagogischen Maßnahmen innerhalb dieser Monopolorganisation geschah, unterschied sich wenig von dem, was auch vorher in der Jugendarbeit geschehen war - wenn man von der Jugenddienstpflicht absieht, die aber wiederum eine politische Entscheidung war und die pädagogisch nur insofern relevant war, als sie von denjenigen als Zwang zur Teilnahme wahrgenommen wurde, die eigentlich nicht mitmachen wollten. Immer wieder treffen wir auf politische Eigentümlichkeiten, wenn wir nach dem spezifisch Pädagogischen des Nationalsozialismus fragen.

Das gilt auch für den von den drei Pädagogen favorisierten Begriff der "Gemeinschaft", dem keine soziale Wirklichkeit mehr entsprach. Die damalige Gesellschaft bestand nicht aus Gemeinschaften sondern aus nach rationalem Kalkül und für unterschiedliche Zwecke strukturierten Organisationen und Verbänden. Im Unterschied zu den früheren bündischen Gruppen bestand nicht einmal die HJ aus Gemeinschaften. Wer wie Schirach eine monopolistische Massenorganisation schaffen will, kann als Ergebnis nicht eine Summe von Gemeinschaften erwarten. Dem widersprach auch der militärähnliche regionale Rekrutierungsmodus.

Sieht man ab von dem eigentümlichen politischen Hintergrund, so kann das, was Krieck und Baeumler über pädagogische Fragen geschrieben haben, durchaus als diskutable Auseinandersetzung mit der deutschen Erziehungs- und Bildungsgeschichte verstanden werden. Die Erkenntnis, daß die "Formationen" der Nazis eine eigentümliche Wirkung hatten, die zu erforschen durchaus lohnenswert wäre, ist nicht begrenzt auf NS-Organisationen, sondern kann auf den Kommunistischen Jugendverband ebenso angewandt werden wie auf jede andere relativ dauerhafte gesellschaftliche Organisation.

Wesentlich ist die Einsicht, daß alles soziale Leben eine erzieherische Implikation in sich enthält. Baeumlers anthropologische "Wende" zum Menschen als handelndem Wesen lag in der Luft, und wäre wohl auch ohne die Nazi-Bewegung früher oder später formuliert worden. Diese Betrachtungsweise wie auch Kriecks weitausgreifender Erziehungsbegriff waren eine Konsequenz des modernen sozialwissenschaftlichen Denkens, dessen wahre Tragweite beide wegen ihrer völkischen beziehungsweise germanisierenden Befangenheit nicht verstanden haben und die erst nach 1945 durch die sich allmählich etablierende Soziologie allgemein bekannt und akzeptiert wurde.

Weder aus der Tatsache, daß bestimmte pädagogische Gedanken in der NS-Zeit geäußert wurden, noch aus der anderen Tatsache, daß die Autoren sich politisch zum Nationalsozialismus bekannt haben, lassen sich diese pädagogischen Gedanken hinreichend als spezifisch nationalsozialistisch qualifizieren.

Folgern läßt sich daraus, daß die moralische Qualität eines politischen Systems nur aus der angemessenen politischen Analyse sichtbar werden kann, nicht vom Ansatz der Erziehung her. Erziehung und Bildung haben ihre eigenen Erfolgskriterien: der Schüler, der durch Unterricht zu Wissen gelangt, der Verwahrloste, der wieder lernt, legal und sozial angepaßt zu leben. Gelungenes Lernen ist also das Erfolgskriterium. Das pädagogische Handlungsrepertoire, das dafür zur Verfügung steht, ist begrenzt und kann deshalb auch nur begrenzt der politischen Zensur unterworfen werden. Insofern alle politisch-ideologischen Systeme der Moderne zumindest im Prinzip auf dieses pädagogische Erfolgskriterium angewiesen sind, wenn sie ihren Nachwuchs gesellschaftlich integrieren wollen, ist das pädagogische Handlungsrepertoire in hohem Maße systemunabhängig. Es ist also jedem System dienstbar zu machen - dem demokratischen ebenso wie dem faschistischen oder kommunistischen. Aus dieser Tatsache läßt sich nun Verachtung ableiten, als sei das pädagogische Handwerk per se ein gesinnungsloses. Andererseits aber setzen die pragmatischen pädagogischen Erfolgskriterien, auf die auch die Nazis angewiesen waren, Grenzen für die politisch-ideologische Instrumentalisierung.

Wie intensiv die politischen Einwirkungen auf die Erziehungseinrichtungen auch jeweils sein mögen, eine einfache und direkte Deduktion ist nicht möglich, ohne das pädagogische Erfolgskriterium außer Kraft zu setzen und damit pädagogisches Handeln wirkungslos zu machen. Der politische Wille ist dem pädagogischen nicht vollständig aufzwingbar, er kann immer nur Rahmenbedingungen setzen. Diejenigen, die die Nazis unterstützten, hatten im wesentlichen dieselbe Erziehung erfahren wie diejenigen, die sich zu widersetzen versuchten. Die Art und Weise der erlebten Erziehung erlaubt also keinerlei Prognose für das künftige Handeln und Verhalten. Deshalb sind alle Versuche illusorisch, mit Hilfe der Erziehung und durch deren Verbesserung Einfluß auf die Zukunft nehmen zu wollen. Ihre Möglichkeiten sind sehr viel bescheidener anzusetzen: Sie kann über Natur und Gesellschaft aufklären, sozial bedeutsame Tugenden und Verhaltensweisen fördern, zur Identifikation mit positiven Vorbildern ermutigen. Was die so Erzogenen später mit dieser Ausstattung anfangen werden, ist nicht antizipierbar.

Zu lernen ist also, daß "Auschwitz" nicht pädagogisch, sondern nur politisch verhindert werden kann, aber die Pädagogik könnte diese Einsicht verbreiten.


 
 

171. Vom Kanon-Mythos und anderen Irrtümern (1993)

In: Die Deutsche Schule, H. 3/1993, S. 330-337
 

Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß wir vor einer bildungspolitischen Wende stehen. Die Kassen der Kultusminister sind ebenso leer wie die der anderen Ressorts, und was von den knapp gewordenen Mitteln im Schul- und Hochschulwesen bezahlt wird, ist weitgehend ineffektiv geworden, - einerseits durch kontraproduktive Bürokratisierung, andererseits durch übertriebene Pädagogisierung. 1,7 Mio. Studenten in Universitäten und Fachhochschulen teilen sich 900.000 offizielle Studienplätze. Immer mehr Schüler drängen zum Gymnasium, 30 % eines Jahrgangs verlassen die Schule mit dem Abitur. Aber dessen Wert wird von den Abnehmern, also den Hochschulen und der Wirtschaft, zunehmend in Frage gestellt; in zu vielen Fällen garantiere das Abitur nicht mehr die Hochschulreife, also die Fähigkeit, ein Studium mit Aussicht auf Erfolg beginnen zu können. Zu viele junge Menschen seien schon in den Gymnasien und erst recht später in den Hochschulen wegen mangelnder Eignung fehl am Platz. Die Folge sei, daß im Durchschnitt 20 % - in einzelnen Fächern bis zu 50 % - das Studium ohne Abschluß abbrechen, und daß diejenigen, die einen Abschluß erreichen, im Durchschnitt etwa 14 Semester, also sieben Jahre dafür brauchen. Schlimmer als die finanzielle und strukturelle Krise wirkt sich die geistige aus. Der bildungspolitische Elan der 60er und 70er Jahre ist verflogen, viele reformpädagogische Hoffnungen haben sich nicht erfüllt oder sind ins Gegenteil umgeschlagen. Zudem haben sich die Probleme verschoben, zu deren Lösung die Reformpädagogik damals angetreten war. So geht es heute kaum noch darum, die "Bildungsbenachteiligung" der Arbeiter- und Landkinder und der Mädchen zu korrigieren, sondern darum, die "Problemkinder" der Mittelschicht durch das Bildungssystem zu lancieren, also deren sozialen Abstieg zu verhindern anstatt sozialen Aufstieg zu fördern. Zudem symbolisiert die Austrocknung der Hauptschule nur die Tatsache, daß unser Bildungssystem erhebliche Ressourcen dafür vergeudet, einen immer größeren Teil der jungen Generation über Jahre zu Versagern zu stempeln, weil es ihm das abfordert, was er nicht kann - nämlich mehr oder weniger abstrakte Verbalisierung - und nicht das, was er können würde, - nämlich praktisches Problemlösungsverhalten. Resignation hat sich in Schulen und Hochschulen breitgemacht, deren institutionelle Identität in Frage steht. Was ist ihre eigentliche Aufgabe und was ist ihnen aus zeitbedingten Mißverständnissen nur aufgeladen worden, so daß man sich davon wieder trennen müßte? Das professionelle Selbstverständnis des Lehrerberufs steckt in einer tiefen Krise, die sich nicht zuletzt in einem hohen Krankenstand äußert, und neue, wieder motivierende pädagogische Leitmotive sind nicht in Sicht.

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In der alten BRD wurden solche Krisen durch zusätzliche Finanzmittel zugedeckt. Nun müssen wir wohl davon ausgehen, daß die Ausgaben für das öffentliche Bildungssystem auf absehbare Zeit nicht mehr in nennenswertem Umfange erhöht werden können; jedenfalls ist schon wegen der Kosten für die Deutsche Einheit eine Kostenexplosion wie in den 60er und 70er Jahren kaum mehr vorstellbar. Es wird im wesentlichen darum gehen müssen, innerhalb des Bildungssektors Umschichtungen vorzunehmen - also z. B. mit der Streichung des 13. Schuljahres flächendeckende Kindergärten zu finanzieren - und zu rationalisieren, also die Bildungseinrichtungen effektiver zu organisieren. Dazu müssen aber eine Reihe bildungspolitischer Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt werden, weil sie - gemessen an der eigentlichen Aufgabe von Schule und Hochschule - unnötige Kosten verursachen. Einige davon möchte ich kurz mit der Absicht skizzieren, aktuelle Forderungen nach finanzpolitisch begründeten Reglementierungen einer Kritik zu unterziehen.

Der wesentliche Zweck des Schul- und Hochschulsystems müßte doch wohl sein, den Schülern bzw. Studenten die Entfaltung ihrer Fähigkeiten zu ermöglichen, soweit dies mit den Mitteln des Unterrichts bzw. der akademischen Lehre möglich ist. Dieser Zweck ist auch nicht strittig, wenn man den öffentlichen Bekundungen der Beteiligten Glauben schenken will. Aber die Wirklichkeit entspricht dem nicht. Die zuständigen öffentlichen Instanzen wie die staatliche Administration, die einschlägigen Verbände und Gewerkschaften, ja selbst die zuständigen Wissenschaften haben keineswegs die je individuelle Bildungsgeschichte des Schülers bzw. Studenten im Blick, sondern die Interessen derjenigen, die von deren Existenz leben: der Bürokraten, der Lehrer, der Professoren. Bildungspolitische Entscheidungsprozesse verlaufen längst nicht mehr in einem allgemeinen öffentlichen Diskurs, der getragen wird von individuellem Sachverstand, sondern sie werden geprägt von Funktionären, die den ideologischen und materiellen bzw. Status-Interessen derjenigen verpflichtet sind, denen sie ihre Funktion verdanken. Dieser Mechanismus der bildungspolitischen Willens- und Entscheidungsfindung ist unserer demokratischen Verfassungs- und Gesellschaftsstruktur durchaus angemessen, aber die Resultate zielen eben nicht darauf, die Bildungsentwicklung der Schüler und Studenten optimal zu fördern. Diese institutionelle Verfestigung ist - im Unterschied zu der Entwicklung in anderen gesellschaftlichen Bereichen - im Bildungssektor verhältnismäßig neu, aber die Folge ist hier wie anderswo, daß die Repräsentanten ihre eigenen Interessen nach Selbsterhalt und Expansion entwickeln. Hauptziel solcher Verbände ist die Vermehrung derer, die sie vertreten, und die öffentlichen Haushalte werden dafür ständig unter Druck gesetzt. In diesem Kontext agieren auch die in Fachverbänden verfaßten Wissenschaften. Deren Untersuchungen pädagogischer Probleme zum Beispiel führen fast durchweg zum selben Ergebnis: Das Personal muß vermehrt werden, obwohl die Lebenserfahrung - z. B. in der Wirtschaft - dafür spricht, daß irgendwann Ressourcen auch umgeschichtet werden können, wenn sich die Aufgaben verschoben haben. In der Bildungspolitik wie in den anderen Politikbereichen - die Ärzteverbände haben es gerade vorgeführt - hat sich eine unerträglich gewordene Anspruchshaltung gegenüber den öffentlichen

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Händen etabliert, die das Sparen immer den anderen überläßt und die deshalb so schwer zu korrigieren ist, weil sie inzwischen ja den Sinn solcher Organisationen fundiert. Die Probleme der Kinder, Jugendlichen und Studenten werden dabei eher ausgebeutet als gelöst. Die Bildungsinteressen der Schüler und Studenten sind in dieser institutionellen Verfestigung längst nicht mehr vertreten.

Besonders deutlich wurde dies in der Vergangenheit an den Hochschulen. die ja im Rahmen ihrer Autonomie ihre Studiengänge und Studienordnungen weitgehend selbständig haben konstruieren können. Herausgekommen sind dabei im wesentlichen Marktabsprachen der beteiligten Fächer und Hochschullehrer, das Ergebnis war nicht die Ermöglichung optimalen Studierens, sondern ein überzogener Stoff-Kanon, in den jeder Beteiligte so viel wie möglich von dem hineinstopfen wollte, was aus seiner Sicht bzw. aus der Sicht seiner Interessenten wichtig schien. Insofern ist der heute oft zu hörende Vorschlag, die Studienordnungen sollten neu gefaßt, nämlich entrümpelt werden, nach aller Erfahrung zum Scheitern verurteilt, weil das dafür vorgesehene Verfahren sich als ungeeignet erwiesen hat. Die bessere Alternative ist nicht eine bessere Studienordnung, sondern deren möglichst weitgehende Wiederabschaffung, d. h. die Wiederfreigabe des je individuellen Studierens, - jedenfalls gilt das für die Geisteswissenschaften, deren Fehler es war, sich in den 70er Jahren auf solche, ihnen wesensfremde Reglementierungen eingelassen zu haben.

Aber in dieser Frage treffen wir auf einen Mythos, den ich den Kanon-Mythos nennen möchte, die Vorstellung nämlich, der Abiturient müsse eine bestimmte Menge Wissen - eben einen Kanon - sich einverleibt haben, um damit ein Studium beginnen zu können, an dessen Ende wiederum eine bestimmte Wissensmenge in seinem Kopf zu sein habe, damit er so ausgestattet erfolgreich einen Beruf ergreifen könne. Diese Kanon-Idee ist eine schulpädagogische Fiktion, erdacht zu dem Zweck, den sich über Jahre erstreckenden Unterricht als eine sinnvolle Addition von Unterrichtsstoffen zu rechtfertigen. Im Berufsleben jedoch verlaufen geistige Entwicklungen, herausgefordert durch Bewährungssituationen, ganz anders. Da wird kein Kanon abgefragt, da muß vielmehr das vorhandene und durch weitere Erfahrung und Bewährung sich vertiefende Potential an Wissen immer wieder zur Lösung von Aufgaben neu mobilisiert und strukturiert werden.

Der Kanon-Mythos schlägt sich auch nieder in der Forderung nach einem Zentralabitur: An einem bestimmten Tage sollen alle Abiturienten eines Bundeslandes dieselben schriftlichen Prüfungsaufgaben lösen, - ein auf den ersten Blick bestechender Gedanke, der ein Höchstmaß an gerechter Beurteilung zu versprechen scheint. Aber dieses Verfahren setzt voraus, daß vorher an allen Schulen dieses Bundeslandes dasselbe unterrichtet wurde, möglichst mit denselben Ergebnissen und in demselben Tempo und Umfang. Das Problem ist nur: Wer soll mit welcher Legitimation und mit welcher Begründung einen solchen Kanon festlegen, also für ein ganzes Bundesland entscheiden, was unterrichtet werden soll und was nicht? Dafür gibt es weder eine plausible pädagogische - also bildungstheoretische - noch eine wissenschaftliche, also sachlich zwingende Rechtfertigung. Schon über

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die scheinbar einfache Frage, was man denn zuerst lernen müsse, damit man danach etwas Schwieriges lernen könne, gehen die Ansichten der zuständigen Experten weit auseinander. Natürlich würden die Politiker solche Entscheidungen nicht allein treffen, da würden Gremien gebildet mit Vertretern der Wirtschaft, der Politik, der Wissenschaft u.s.w. Nach allen Erfahrungen, die wir mit solchen Gremien in den letzten 25 Jahren außerhalb wie innerhalb der Hochschulen gemacht haben, kann man davor nur warnen. Auf diesem Wege sind bisher immer nur Maximal-Konstruktionen zustande gekommen, weil die Beteiligten nicht aus der Lernperspektive der Schüler und Studenten denken, sondern nach dem Motto agieren, daß die Gruppe, die man vertritt, umso bedeutsamer erscheint, je mehr Stoff ihr Funktionär für einen solchen Kanon zur Geltung bringen kann. Der relativen Willkürlichkeit eines solchen Kanons entspräche die Instrumentalisierung der Sachverhalte, die immer nur den Prüfungserfolg im Auge haben würde. Geisteswissenschaftliche Gegenstände und Themen können - abgesehen von schlichten Tatsachen - aber nicht nach "richtig" und "falsch" beurteilt werden, sie bedürfen der Interpretation, und insofern ist ihre "Wahrheit" letztenendes unentscheidbar. Der Lehrplan mag Stoffe und Themen im Sinne eines pragmatischen politischen Konsenses vorschreiben, aber es ist ein Unterschied, ob etwa das Thema "Nationalsozialismus" im Hinblick auf eine vom Unterrichtsprozeß selbst losgelöste abstrakte Prüfungsfunktion hin vom Lehrer behandelt wird, oder ob er mit seiner Klasse bestimmte Akzente setzen kann, die dann auch in die spätere Prüfungsaufgabe eingehen können. In den Geisteswissenschaften ist die Prüfung Ergebnis eines Lernprozesses, nicht ihr Ausgangspunkt. Der Kanon-Mythos verführt dazu, die Studierfähigkeit von Abiturienten an ihren Vorkenntnissen zu beurteilen. Entscheidend ist aber, ob dieser Abiturient gelernt hat, selbständig zu arbeiten, auf diese Weise auch Wissenslücken zu schließen vermag, ohne dafür immer gleich einen Lehrer oder gar eine Lehrveranstaltung zu benötigen. Das setzt allerdings voraus, daß der Abiturient in den einzelnen Fächern realistische Noten bekommen hat, die ihm seine Stärken und Schwächen erkennen helfen. Der pädagogische Zeitgeist hat jedoch die schlechte Note mit der Aura persönlicher Kränkung umgeben, tatsächlich ist aber für die Selbsteinschätzung und damit für die weitere Zukunftsplanung die schlechte Note genauso wichtig wie die gute. Wenn jemand z. B. in Mathematik ein "gut" bekommen hat - vielleicht, weil man ihm die Durchschnittsnote, die unsinnigste aller denkbaren Noten, nicht vermasseln wollte - er tatsächlich jedoch eher ein "mangelhaft" verdient hätte, dann muß man sich nicht wundern, wenn er auf die Idee kommt, Mathematik oder mathematisch relevante Fächer in Verkennung seiner Kompetenz zu studieren. Die Durchschnittsnote ist deshalb die dümmste aller Noten, weil sie den pädagogischen Sinn unterschiedlicher Leistungen in unterschiedlichen Fächern zerstört, der darin besteht, die dabei erkennbaren Schwächen für die weitere Lebensplanung zu berücksichtigen.

Die Schule ist heute nicht mehr in erster Linie eine Disziplinierungsanstalt, sondern zu einer Bildungsdienstleistung geworden; sie dient Kindern dazu, ihre individuellen Fähigkeiten zu entfalten in der Auseinandersetzung mit

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den Forderungen, die die Sachen der einzelnen Schulfächer stellen. Dabei sind in einer rasch sich wandelnden Gesellschaft, deren Berufsstrukturen ständig in Bewegung sind, formale Fähigkeiten wichtiger als inhaltliche Wissensmassen. Wissen, wie man etwas erfahren kann, was man wissen möchte; ein Thema sorgfältig recherchieren zu können; die Ergebnisse werbend für die Sache - und damit auch für die eigene Person - anderen präsentieren zu können; das moderne Kommunikationssystem optimal nutzen zu können, - dies z. B. sind solche formalen Fähigkeiten. Ohne sie bliebe noch so viel Kanon-Wissen praktisch bedeutungslos. Anstatt dieser Einsicht Rechnung zu tragen, streiten sich die Kultusminister darüber, wie man den Stoff von 13 Schuljahren auf 12 verteilen könne, wenn man das 13. Schuljahr dann in Angleichung an eine europäische Regelung streichen würde. Als ob der Stoff-Kanon eine vom Schicksal vorgegebene Last sei! Nicht durch solche Maßnahmen wird die Studierfähigkeit gefördert, sondern durch eine steigende Anforderung an die Eigenarbeit, sprich: Hausarbeit. Eine Deutschstunde in der gymnasialen Oberstufe z. B. kostet zuviel, wenn sie nicht durch etwa zwei Stunden privater Lektüre vorbereitet wird. Wahrscheinlich könnte man mit vier Stunden Unterricht pro Tag zumindest in der Oberstufe auskommen und dabei das 13.Schuljahr durchaus einsparen, wenn der Unterricht als ein relativ knappes Wirtschaftsgut betrachtet würde, das nicht zum geistigen Nulltarif angeboten werden kann.

Auf der Ebene des Kanon-Mythos ist also - das zeigen die Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre - weder der Schulunterricht noch das Studium effizienter zu gestalten. Nötig ist vielmehr ein radikaler Perspektivenwechsel, weg von den Wissensmassen und hin zum lernenden Subjekt, und damit auch zu dessen persönlicher Verantwortung für seinen Bildungsweg, die ihm die teilweise infantilisierende Pädagogisierung der Universitäten weitgehend genommen hat. Ein geisteswissenschaftliches Studium z. B. ist ganz überwiegend ein privates Lektüre-Studium, und die Teilnahme an einem Seminar hat nur Sinn, wenn jeder Teilnehmer sich entsprechend vorbereitet hat, sonst vergeudet er seine und seiner Dozenten Zeit . Wem soviel Lektüre auf den Nerv geht, der tanzt in den Geisteswissenschaften auf der falschen Party und kann nicht erwarten, daß ihm als Kompensation dafür ein Motivationskindermädchen an die Seite gestellt wird. Die ausgeklügelten Studienordnungen haben jedoch zu der Vorstellung geführt, es genüge, an möglichst vielen Lehrveranstaltungen unvorbereitet teilzunehmen, - entsprechend den in Semesterwochenstunden-Zahlen ausgedrückten Anweisungen. Hat man diese Zeit in sinnlos überfüllten Hörsälen abgesessen, dann ist Feierabend. Ganz fern liegt inzwischen der Gedanke, man könne das Studieren dadurch fortsetzen, daß man mit anderen über das gerade Gehörte weiter diskutiert, dabei Literaturkenntnisse austauscht und entsprechende Empfehlungen weitergibt. Sechzehn Semesterwochenstunden und mehr für ein geisteswissenschaftliches Studium sind eine erhebliche Verschwendung von Ressourcen; warum sagt man den Studierenden nicht, was man von ihnen am Ende, nämlich bei der Prüfung erwartet (z. B. vier pädagogische Klassiker oder/und drei reformpädagogische Schulversuche nach eigener Wahl zu kennen)? Dann könnten sie selbst entscheiden, wieviel Semesterwochenstunden sie dafür brauchen und würden nicht wie jetzt sowohl irre-

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geführt wie auch bestraft, wenn sie mit sechs oder acht Stunden auskommen.

Zur persönlichen Verantwortung für den eigenen Bildungsweg gehört auch, den Kern der benötigten Fachliteratur zu kaufen, bzw. auf die Wunschliste für Geburtstag und Weihnachten zu setzen; öffentliche Bibliotheken jedenfalls sind nicht dazu da, massenhaft die meist preiswerten Lehrbücher vorrätig zu halten, während die Umsätze der Klamotten-Industrie ständig steigen und ohne eigenes Auto eine Studentenexistenz schon gar nicht mehr zumutbar erscheint.

Damit ist eine weitere heilige Kuh der Bildungspolitik angesprochen, daß nämlich Bildung nur dann von Wert sei, wenn sie möglichst nichts kostet bzw. nur die Allgemeinheit etwas kostet. Diese Moral ist in manchen Bundesländern durch die generelle Lehrmittelfreiheit nicht wenig gefördert worden. Begründet wird sie u. a. damit, daß die Bedürftigkeit der Bedürftigen nicht offenkundig werden dürfe, weshalb man jedem diese Subvention zukommen lassen müsse, obwohl es sparsamer wäre, jede Schule mit einem Fond auszustatten, aus dem sie für ihre Bibliothek Schulbuchexemplare kaufen könnte, um sie dann an diejenigen auszuleihen, die bedürftig sind oder sich dafür halten. Die dem entgegenstehende Moral erscheint mir einigermaßen merkwürdig, und ich bin ziemlich sicher, daß sie nicht von den Betroffenen erfunden wurde, sondern wieder von denen, die vom Betroffensein anderer pädagogisch-ideologisch leben. Wir können keine solidarische Gesellschaft fordern, wenn wir diejenigen, die helfen sollen, nicht von denjenigen unterscheiden, die der Unterstützung bedürfen, zumal dieser Unterschied längst nicht mehr naturwüchsig ist, sondern fließend: Oft genügt schon eine Scheidung, um von der einen Gruppe in die andere zu wechseln. Jedenfalls wird die Erwartung, daß Bildung zum finanziellen Nulltarif zu haben sein müsse, vielfach auch zur Anspruchshaltung gegenüber den Anforderungen, die die Sache stellt: Auch das Lernen und Studieren soll so wenig wie möglich kosten, - an Zeit, Energie, Motivation.

Studierfähig für ein geisteswissenschaftliches Fach ist jeder Abiturient, der viel und intensiv zu lesen bereit ist und der einen Teil seiner Konsumausgaben in seine Lehrbücher steckt, - mag sein Wissens-Kanon am Anfang des Studiums noch so dürftig sein. Insofern treffen Forderungen nach einer Spezialisierung der gymnasialen Oberstufe auf bestimmte Studienrichtungen (geisteswissenschaftlich; naturwissenschaftlich) mit entsprechender Beschränkung der Studienberechtigung das Problem nicht. Wer z. B. in einer naturwissenschaftlichen Einführungsvorlesung kein Wort versteht, sitzt im falschen Hörsaal; ist er dennoch besessen von der Sache, muß er eben "Nachhilfe" organisieren.

Der Kanon-Mythos wird heute vor allem am Leben erhalten durch die Idee der Praxisorientierung des geisteswissenschaftlichen Studiums, also wiederum durch die Vorstellung, man könne mit einem bestimmten Wissens-Kanon sich optimal auf einen bestimmten Beruf vorbereiten, was aus der Sicht der Studenten dann zu der Angst führt, nur ja nichts zu lernen, was nicht möglichst unmittelbar und direkt diesem Ziel dient, - eine Einstellung, die auch nur wieder die Lernmotive korrumpiert. Warum soll der spätere Lehrer, der z. B. Geschichte studiert, etwas anderes dabei lernen als der

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spätere Journalist oder Lektor? Die Erfahrung der vergangenen Jahre hat im Gegenteil gezeigt, daß der berufsspezifische Wert eines geisteswissenschaftlichen Studiums gerade nicht in dem liegt, was die Studienordnungs-Macher sich ausgedacht haben, sondern in seinem allgemeinbildenden Charakter. Mit anderen Worten: Für den späteren beruflichen Wert eines geisteswissenschaftlichen Studiums ist es ziemlich gleichgültig, was jemand in seinem Fach studiert hat, wenn er es nur so intensiv wie möglich getan hat und so, daß er dabei die erwähnten formalen Fähigkeiten gefestigt hat. Es ist eben diese allgemeinbildende Dimension des geisteswissenschaftlichen Studiums, die flexibel und disponibel macht für eine ganze Bandbreite von Berufen, in die man sich dann jeweils speziell einarbeiten muß. Jeder Berufstätige weiß, daß er vieles, wenn nicht sogar das wichtigste erst im Rahmen seiner Berufstätigkeit gelernt hat, nicht vorher. Das hängt mit der Tatsache zusammen, daß wir nicht alles wichtige an einem einzigen sozialen Ort lernen können.

An der Universität kann man z. B. nicht lernen, wie man mit Kindern umgeht, weil es dort aus gutem Grunde keine Kinder gibt. Vor einigen Jahren konnten z. B. Absolventen des eher exotisch anmutenden Studiengangs "Freizeitpädagogik" in der Wirtschaft gut bezahlte Positionen finden, wenn sie zusätzlich einen intensiven Informatik-Kurs absolvierten. Der Titel "Freizeitpädagogik" interessierte die Betriebe offensichtlich gar nicht, sie gingen vielmehr nicht zu Unrecht davon aus, daß Pädagogen Leute sind, die anderen etwas beibringen können. Das Beispiel zeigt, daß die in Frage kommenden Berufsstrukturen so differenziert geworden sind, daß sie gar nicht mehr in spezifische Studiengänge zu fassen sind. Es gilt also die alte Einsicht wieder zu entdecken, daß die berufsbildende Qualität des geisteswissenschaftlichen Studiums in seinem allgemeinbildenden Charakter zu sehen ist und daß demzufolge alle Reglementierungen, die dem zuwiderlaufen, die berufliche Qualität des Studiums behindern. Der Student kann heute nicht mehr mit einem bestimmten Beruf rechnen, sondern muß sich nach dem Abschluß des Studiums auf den Markt begeben und sehen, was ihm dort angeboten wird. Er muß sich also in eigener Verantwortung marktfähig machen, kein Studiengang kann mehr eine bestimmte berufliche Funktion versprechen, und deshalb müssen die Studierenden auch in einem höchstmöglichen Maße das Recht erhalten, ihre Studienschwerpunkte und ihre Fächerkombinationen selbst zu wählen. Auf diesem Hintergrund macht es auch Sinn, eine Zwischenprüfung wie etwa das Vordiplom als Studienabschluß eines Grundstudiums zu akzeptieren. Warum sollte dies den Studierenden nicht selbst überlassen bleiben, wenn sie dabei eine Chance für ihre berufliche Perspektive sehen? Möglicherweise sind manche von ihnen für die Wirtschaft deshalb interessant, weil sie dem laschen Stil einer zu langen Studienzeit noch nicht erlegen sind, sondern endlich eine ernsthafte Berufsbewährung wünschen. Jedenfalls würde ein solches Grundstudium die allgemeinbildenden Fähigkeiten erhöhen und wäre somit nicht sinnlos. 

Viele beginnen auch ein Studium mit falschen Erwartungen und wünschen diese Entscheidung so gut wie möglich zu korrigieren. Dann ist es immer noch besser, dies mit einem Abschluß zu tun, als sich in die Reihe der unmotivierten Langzeitstudenten zu begeben. Solange es keine attraktiven

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Alternativen seitens der Wirtschaft gibt, - die Ausbildung in den gewerblichen Lehrberufen ist weitgehend veraltet, weil sie zu spezialisiert ist und auf dem allgemeinbildenden Niveau der Hauptschul-Abgänger aufbaut - werden viele Schüler und Schülerinnen das Abitur erreichen und anschließend studieren wollen. Diese Absicht ist nicht per se unsinnig, weil dadurch ihr Marktwert erhöht werden kann. Regulieren kann das nur der Arbeitsmarkt, weder das Zentralabitur noch eine andere Reglementierung aus der Mottenkiste der 70er Jahre. Nicht wenige sehen allerdings in der Hochschule eine willkommene soziale Nische, die ihnen die Flucht aus der Verantwortung für den Lebensunterhalt erlaubt. Das wird sich nicht verhindern lassen, solange jemand diesen Unterhalt für sie bezahlt.

Eine wesentliche Tendenz unserer Zeit ist die Individualität der Lebensverhältnisse und damit auch der Zukunftsperspektiven. Darauf sind unsere institutionell erstarrten Mammut-Organisationen namens Universität nicht vorbereitet. Deshalb hat es auch keinen Sinn, einfach nur mehr Geld in sie hineinzupumpen, solange sie nicht wieder die Autonomie und Selbstverantwortung des Studierens nicht nur als das maßgebende akademische Verhalten, sondern auch als ernsthafte Kostenentlastung begreifen. Es ist nach dem bisher Gesagten nicht weiter verwunderlich, daß diese Forderung in den gegenwärtigen bildungspolitischen Diskussionen kaum erhoben wird; sie liegt nicht im Interesse der erwähnten Verbände und Administrationen. Diese können die Mündigkeit und Autonomie derer, denen sie ihre Existenz verdanken, nicht gebrauchen. Sie benötigen Studierende, die ihr Studium nicht in die eigenen Hände und Köpfe nehmen, sondern in Massen isoliert hilflos auf jemanden warten, der sie weiterhin an die Hand nimmt. Die selbständig Studierenden sind kaum verwaltungsfähig und verunreinigen die Planstellenberechnungen. Nachhaltig zu verändern wäre die Lage wohl nur dadurch, daß die Universitäten sich einen Teil ihres Etats von den Studierenden holen bzw. zurückholen müßten, was wiederum nur in einer Form geschehen könnte, die die Studierenden nicht zusätzlich finanziell belastet. Jedenfalls könnte ein wenig Marktwirtschaft mehr bewirken als jede denkbare Reglementierung.

Die Individualisierung der Lebensentwürfe und Bildungsperspektiven muß aber darüber hinaus zu einer allgemeinen Konstruktion des Bildungswesens führen, die keine einmal getroffene Schul- oder Berufsentscheidung unwiderruflich macht. Auch in Zukunft muß z. B. jemand ohne Abitur unter bestimmten Bedingungen grundsätzlich ein Studium aufnehmen können ebenso wie ein anderer, der seine berufliche Erfahrung irgendwann durch ein Studium erweitern möchte. Alle gegenwärtig in der Öffentlichkeit verbreiteten zusätzlichen Reglementierungen, die etwa den Hochschulzugang auf welche Weise auch immer beschränken wollen, gehen am Kern des Problems vorbei. Entlasten könnten nur attraktive Alternativen, die nicht in die Sackgasse führen.

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172. Wozu ist die Schule da? (1995)

In: Neue Sammlung H.3/1995, S. 93-104
 

Das Unbehagen an der realexistierenden Schule wächst zusehends. Ein Vierteljahrhundert mehr oder weniger konsequenter Schulreform scheint in eine Sackgasse geführt zu haben, wofür sich die Belege häufen. So hat das Baden-Württembergische Kultusministerium unlängst öffentlich darüber nachgedacht, ob für dienstunfähig erklärte Lehrer - das seien 80% der aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeitsfähigen Beamten - nicht an anderen Stellen der öffentlichen Verwaltung eingesetzt werden sollten. Aus weiteren Bundesländern ist ähnliches zu hören. Nach einer Umfrage der "Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft" sind das größte Problem der Lehrerinnen und Lehrer die Schüler, mit denen sie nicht mehr zurecht kämen (1). Lehrerinnen und Lehrer tragen inzwischen ihre Kritik in die Öffentlichkeit. Unter dem Titel "Mir langt's!" schrieb eine Lehrerin (2) ein Buch, in dem sie erklärt, warum sie das Handtuch geworfen und ihren Beruf aufgegeben habe, und ein Kollege (3) beschreibt seine Schulerfahrungen unter dem Titel "Gewalt auf dem Schulhof". In Nordrhein-Westfalen hat sich eine "Arbeitsgemeinschaft" von Gesamtschullehrern gebildet, die diese Schulform, das Hätschelkind der Schulreform der 70er Jahre, bilanzieren wollen. Aus diesem Umkreis hat Horst HENSEL(4) schon 1993 seine kritischen Reflexionen in einem kleinen Bändchen vorgetragen, das inzwischen in 6. Aufl. vorliegt, und Ulrich SPRENGER(5), pensionierter Gesamtschullehrer, hat im vergangenen Sommer seine Erfahrungen in der GEW-Zeitschrift "neue deutsche schule" unter dem Titel "Vier Thesen zum Thema Gesamtschule" resumiert.

Das sind nur einige Stimmen, die sich z.B. durch Berichte über hohe Zahlen von Frühpensionierungen von Lehrern weiter ergänzen ließen. Hier handelt es sich offensichtlich nicht mehr um das übliche Wehklagen eines Berufsstandes, der die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich lenken möchte; im Gegenteil scheint er sich eher seiner Ohnmacht zu schämen. Und die gewiß nicht als nachsichtig bekannten Gesundheitsämter schreiben keinen Beamten so ohne weiteres dienstunfähig.

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Irgendetwas muß faul sein an unseren Schulen, und was ihnen fehlt, ist wohl nicht nur durch mehr Personal und mehr Geld zu kompensieren, es muß vielmehr an der Substanz, also an ihrem pädagogischen Selbstverständnis liegen. Es sind offenbar die neuen Schüler, "neu" im Sinne eines eigentümlichen Sozialisations-Typus, die die Schwierigkeiten mit der "alten Schule" verursachen.

"Sowohl Eltern als auch Kinder begreifen immer seltener, daß Lernen eine Tätigkeit ist, und daß jede Tätigkeit Mühe kostet und mit der Verausgabung von Arbeitskraft einhergehen muß. Die Einstellung gewinnt Raum, Lernerfolge müßten sich allein durch Anwesenheit von Kindern im Unterricht von selbst ergeben. Die Anzahl der 'guten' Schülerinnen und Schüler nimmt ab; die Anzahl der 'schlechten' nimmt zu. ... Weniger Kinder als je zuvor sind bereit und fähig, die Lernziele der Schule durch Tätigkeit zu erreichen ... Sie sind nervös, können sich nicht konzentrieren, bedürfen der immer neuen Reize, Stimuli und Sensationen, können nicht mit sich allein sein, behalten nichts, strengen sich nicht an - kurz: das Konstante ihrer Persönlichkeit ist die Flüchtigkeit" ... Festzustellen sei, "daß sich ein Pluralismus der Werte und Erziehungskonzepte zeigt, der an Beliebigkeit grenzt und in bezug auf die Schularbeit auch handlungsunfähig macht. Dominant ist allerdings die Instrumentalisierung aller menschlichen Beziehungen, die Asozialität der Lebensstile, der Werte, Erziehungskonzepte und Verhaltensrepertoirs - und die Bevorzugung gewaltsamer Lösungen von Konflikten. Hierbei ist die Tendenz wirksam, die gegnerischen Ansichten oder den gegnerischen Menschen nicht bloß abzuwehren oder zu dominieren, sondern zu vernichten".(6)

Nur wer die Wirklichkeit zumindest in unserer durchschnittlichen Massenschule verleugnet, kann behaupten, hier handele es sich um Einzelfälle oder gar um das Ergebnis bloß unfähiger Pädagogik. Gemeinhin wird aus solchen Analysen nun die Schlußfolgerung gezogen, die Schule müsse noch "kindgerechter" werden, also ihre pädagogische Strategie und ihre didaktisch-methodische Phantasie noch stärker auf die pädagogische und psychologische Sanierung dieser Kinder richten - nach dem Grundsatz, daß die Schule sich den Schülern anpassen müsse und nicht umgekehrt.

Ich halte diese reformpädagogische Strategie für gescheitert. Die Schule kann vielmehr die Schul- und Unterrichtsfähigkeit ihrer Schüler nur bis zu einem bestimmten Grade selbst herstellen. Sie muß ein Mindestmaß davon jedoch voraussetzen können und, wenn dies nicht der Fall ist, die Eltern in die Pflicht nehmen, damit diese, u U. mit Hilfe der einschlägigen Jugendhilfeangebote, erst einmal für die nötigen sozialen und emotionalen Grundqualifikationen sorgen.

Diese These will ich im folgenden begründen und erläutern, um damit die öffentliche Diskussion über dieses Problem aus der üblichen reformpädagogischen Verengung herauszuführen.

1. Über Sinn, Zweck, Aufgaben, Ziele und Methoden der Schule herrscht nicht nur unter den Fachleuten, sondern auch in der Öffentlichkeit eine ziemliche Konfusion. Lehrer, Eltern und Schüler wissen nicht mehr genau, wozu sie eigent-

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lich da ist. Aus der Öffentlichkeit werden alle möglichen Wünsche an sie herangetragen: Sie soll die Defizite der Familie kompensieren, also in diesem Sinne wieder stärker "erziehen"; sie soll den Rechts- und Linksradikalismus unter Jugendlichen eindämmen; sie soll präventiv gegen Kriminalität und Verwahrlosung wirken, die Wehrbereitschaft erhöhen, Aids verhindern, die Verkehrstoten minimieren. Es gibt inzwischen kein gesellschaftliches Problem mehr, das nicht lauthals der Schule zur Lösung aufgetischt wird. Betrifft das Problem in erster Linie die Erwachsenen, so soll die Schule langfristig vorbeugen, betrifft es die Kinder und Jugendlichen selbst, soll sie möglichst schnell und effektiv intervenieren. Jedes halbwegs für wichtig gehaltene politisch-gesellschaftliche Problem - und davon gibt es wahrlich genug - wird zumindest auch als pädagogisches formuliert und damit zur Aufgabe der Schule erklärt.

Derartige Erwartungen resultieren jedoch nicht etwa aus irgendeiner halbwegs plausiblen Schultheorie, sie sind vielmehr das Ergebnis von Bequemlichkeit, weil schließlich alle Kinder in der Schule versammelt und insofern für entsprechende Erlasse erreichbar sind. Da andererseits die hehren Erwartungen der Professionalität des Lehrers - scheinbar!- schmeicheln, ist es schwierig, den Blick auf die eigentliche Aufgabe der Schule zu richten und gegen ihre hoffnungslose Überforderung Widerstand anzumelden.

Pädagogisch falsch an diesen Erwartungen ist, daß dabei die Rolle der Schule im Rahmen der gesamten Sozialisation der Schüler überschätzt wird. Zum Ausdruck kommt darin ein anti-pluralistisches Ressentiment, der alte Hitler-Jugend-Traum von der "Einheit der Erziehung", von der Re-Integration von Erziehung und Sozialisation. Tatsächlich jedoch ist deren Auseinandertreten ein Grundtatbestand des modernen demokratischen Lebens. Die außerschulischen Sozialisationsfaktoren wie Massenmedien, Freizeit- und Konsumsystem und Gleichaltrigen-Szene sind nämlich für ein gelingendes Aufwachsen auf ihre Weise ebenso wichtig wie die Schule und können von dieser nicht einfach als eine Art von feindlichem Ausland betrachtet werden. Ihre Gefährdungen zu vermeiden und ihre Chancen zu nutzen ist zu einer wichtigen Aufgabe des Erwachsenwerdens geworden. Ähnlich kritisch muß der pädagogische Allmachtsanspruch der Schule im Vergleich zu den übrigen pädagogischen Instanzen wie Familie und Jugendhilfe gesehen werden. Im Konzert der Sozialisationsfaktoren kann eine pädagogische Instanz, z.B. die Schule, nicht das ganze Orchester sein, sondern nur ein Instrument in diesem. Je präziser sich der Sozialisationsfaktor Schule in diesem Ensemble präsentiert, um so mehr trägt er zur Orientierung der Heranwachsenden bei.

2) Zu den falschen Erwartungen an die Schule gehört fast folgerichtig, daß viele Eltern ihre eigene pädagogische Verantwortung für ihre Kinder an der Schultüre abgeben in der Annahme, die Lehrer würden es schon richten, denn schließlich würden sie ja dafür bezahlt. Unterstützt wird diese Haltung dadurch, daß durch die Schulverfassungen die Eltern erhebliche Mitwirkungsrechte erhalten haben, die sich - je nach Bundesland - bis in die Unterrichtspraxis etwa durch die Auswahl der Schulbücher erstrecken können. Sie und die Schülervertreter

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sind in Zeugniskonferenzen und in fast allen anderen Schulgremien zu finden. Will z.B. in Niedersachsen ein Schulleiter mit seinem Kollegium einmal intern über die Probleme der Schüler sprechen, muß er schon eine Dienstversammlung einberufen. Dieses System funktioniert dort, wo Eltern und Lehrer in gegenseitigem Respekt für die unterschiedlichen Rollen mit einander umgehen; sonst entsteht, wie vielfach berichtet wird, Rollenkonfusion, die im Extremfalle bei den Eltern zu der Vorstellung führen kann, die Lehrer seien für sie eine Art von Erziehungs-Dienstboten. Für die schulpolitische Aufwertung der Eltern auf Kosten der Professionalität der Lehrer waren primär nicht pädagogische Gründe maßgebend. Wer sich an die schulpolitischen Auseinandersetzungen in den 70er Jahren erinnert, wird feststellen, daß es in erster Linie um die politische Mobilisierung der Eltern ging: die "Linken" wollten sie für ihre gesellschaftsverändernden Intentionen einspannen, sie gleichsam unter Führung der Lehrer für die Vision einer besseren Gesellschaft gewinnen; die "Konservativen" setzten dagegen auf das politische Beharrungsvermögen der meisten Eltern. Im Kampf um die hessischen Rahmenrichtlinien tobte sich diese Konfrontation dann beispielhaft aus. Aber die Eltern einer Schule oder Schulklasse haben als solche kein politisches Mandat, und wenn sie, wie oft von Lehrern beklagt wird, nur die Karriere ihre eigenen Kinder im Blick haben, so ist dies eine vernünftige Grundeinstellung, die durch die politisch und nicht pädagogisch bedingte schulpolitische Aufwertung nur verunklart wird. Die Eltern vertreten ein privates Interesse, die Schule dagegen muß ein öffentliches Interesse geltend machen. Die Eltern dürfen z.B. nicht-pluralistisch denken und handeln und in ihren vier Wänden jeden intoleranten Unsinn verkünden, die Schule dagegen ist zum Konsens und zur Aufklärung verpflichtet; sie darf und muß auch Welterklärungen anbieten, die denen der Eltern widersprechen. Die Schule ist nicht die Fortsetzung des elterlichen Erziehungswillens mit anderen Mitteln, sondern zumindest auch ein Beitrag zur Emanzipation des Kindes aus familiärer Borniertheit, und das Kind tritt mit dem Besuch der Schule ins öffentliche Leben ein.

3) Die Schulreform-Euphorie der letzten Jahrzehnte setzte vor allem auf die Individualität des Schülers, auf anti-autoritäre Strukturen in der Schule, eher auf innerpsychische als auf soziale Komponenten des kindlichen Verhaltens, eher auf die unmittelbare Beziehung zwischen Lehrern und Schülern als auf institutionelle Vorgaben. Alle diese pädagogischen Prämissen haben sich als zumindest teilweise illusorisch erwiesen, - vor allem deshalb, weil sie heute auf eine Schülergeneration treffen, die - anders als die der 60er und 70er Jahre - kaum noch autoritär drangsaliert wird, sondern in fast völlig offenen sozialen und normativen Horizonten aufwächst und deshalb nach maßgebender Orientierung verlangt - wie die eingangs zitierte Beschreibung Hensels zeigt. Dazu kann die Schule ihren Beitrag nur dann leisten, wenn sie die durch ihre zwar begrenzte, aber bestimmte Aufgabe gegebenen sozialen und disziplinarischen Anforderungen auch geltend macht und wenn sie aufhört, das bessere Fernsehen und eine "Erlebnisgesellschaft" (SCHULZE) in nuce sein zu wollen.

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4. Unsere Gesellschaft leistet sich deshalb ein 60 Milliarden Mark teures Schulwesen, weil sie ein vitales Interesse daran hat, ihren Nachwuchs so auszubilden, daß er den bereits erreichten Standard an Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten zumindest erreichen, möglichst sogar übertreffen kann, um das wirtschaftliche und das darauf basierende sozio-kulturelle Überleben zu sichern. Diesen Anspruch für nicht "kindgerecht" zu halten, und statt dessen die Funktion der Schule aus der kindlichen Innerlichkeit abzuleiten, verrät nur Weltfremdheit, weil die Ansprüche schließlich nicht von einer beliebigen Gesellschaft ausgehen, sondern von derjenigen, in der das Kind sein aktuelles und späteres Leben entfalten muß. Dabei geht es nicht nur um die Förderung herausragender Begabungen, sondern auch um eine höchstmögliche Bildung für alle - nicht nur im Sinne eines demokratischen Bürgerrechts auf Bildung, sondern auch zum Zwecke der Mobilisierung des verfügbaren "Humankapitals". Alles Nachdenken über Schule muß also bei ihrer gesellschaftlichen Funktion ansetzen, und es darf nicht von den individuellen Bestrebungen der Schüler ausgehen. Die Welt ist nun einmal nicht "kindgerecht", und deshalb müssen Kinder lernen, deren Regeln auch gegen ihre aktuellen Bedürfnisse zu lernen und zu akzeptieren. Die Schule als gesellschaftliche Institution entsteht nicht aus der Fortschreibung der kindlichen Individualität und der kindlichen Bedürfnisse, sondern ist diesen entgegengesetzt, aber nicht, um sie zu unterdrücken, sondern um sie herauszufordern. Die Chance für Individualisierung, die unser Schulwesen anbietet oder jedenfalls anbieten sollte, ist Teil seiner gesellschaftlichen Funktion, ihr nicht etwa übergeordnet. Individualisierung ist nämlich nur in solchen Gesellschaften funktional, wo sie auch gebraucht wird, wie dies unter unseren pluralistischen Bedingungen der Fall ist.

5. Aufgabe der Schule ist demnach, mit ihren besonderen Möglichkeiten - nämlich denen des Unterrichts im weitesten Sinne - jedem Kind die Chance zu geben, seine Fähigkeiten in optimalem Maße zu entfalten, damit es in einer Gesellschaft voller Optionen eine individuell befriedigende Balance zwischen objektiven Anforderungen und subjektiven Bestrebungen finden und darauf seine persönliche Lebensplanung z.B. in beruflicher Hinsicht gründen kann. Zu fördern sind also sowohl die sogenannten "guten" wie die sogenannten "schlechten" Schüler, aber so, daß sie einander dabei nicht behindern und etwa die letzteren das Tempo für alle bestimmen. Daraus folgt, daß das Schulwesen in irgendeiner Form gegliedert sein muß, damit jedes Kind auf seine Kosten kommen kann und damit Lerngruppen, z.B. Schulklassen, entstehen können, in denen jedes Kind einen chancengleichen Zugang zu den Leistungsanforderungen erhält. Ob dies im Rahmen eines von vornherein gegliederten Schulsystems oder im Rahmen des Gesamtschulsystems erfolgt, ist dabei zweitrangig. Aus dem Prinzip des chancengleichen Zugangs resultiert u.a. der pädagogische Sinn des Sitzenbleibens, was der unpolitische Zeitgeist für Ausgrenzung hält. Aber was hat denn ein weniger begabtes Kind davon, wenn es durch die anderen ständig an seine Mängel erinnert wird, anstatt unter seines Begabungsgleichen die Chance einer wenigstens mittleren Erfolgserfahrung zu gewinnen? Daran gemessen muß jede Sozial-

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romantik zurückstehen, die etwa möglichst alle altersgleichen Kinder - ob begabt oder weniger begabt - in möglichst einer Klasse bzw. Lerngruppe zusammenfassen will. Das ergäbe nur dann pädagogischen Sinn, wenn in einer solchen Lerngruppe die Leistungsfähigkeiten nicht generell, sondern nur je nach Fach bzw. Leistungsanspruch unterschiedlich sind, so daß keine grundsätzliche Hierarchie unter den Schülern entstehen kann.

6. Dem Kind steht - bei allem Respekt vor seiner Persönlichkeit - nicht frei, ob es in der Schule lernen will oder nicht. Die Entwicklung seiner Fähigkeiten ist kein Luxus und kein Selbstzweck, vielmehr ist es darauf angewiesen, um einmal damit seinen Lebensunterhalt verdienen zu können. Nur wenn es einen Dummen findet, der dies heute und vor allem morgen für es besorgt - z.B. die Eltern oder Vater Staat - muß es nicht lernen. Der "faule" Schüler muß sich also fragen lassen, auf wessen Kosten er lebt und künftig zu leben gedenkt, bzw. ob er eine andere Möglichkeit als die schulische Qualifizierung sieht, sich seinen späteren Lebensunterhalt zu verdienen. Diese Frage, die heute in pädagogischen Zusammenhängen kaum noch erörtert wird, müssen natürlich in erster Linie die Eltern stellen, und wenn sie dies nicht tun, müssen sie von den Lehrern daran erinnert werden. Nicht die Lehrer müssen ja die Schüler in Zukunft ernähren.

Die hierin begründete Verantwortung der Eltern kann die Schule nicht stellvertretend übernehmen. Gewiß haben Familienkrisen wie Scheidung oder Trennung fast immer negative Rückwirkungen auf das Schulinteresse der betroffenen Kinder, und der Hinweis darauf fehlt in keiner einschlägigen schulpädagogischen Veröffentlichung. Aber solange die Schule so tut, als seien diese Folgen selbstverständlich und unvermeidlich, zwingt sie die Eltern nicht, in solchen Fällen optimal für das Leben ihrer Kinder nach der Scheidung bzw. Trennung zu handeln, wofür es ja heute eine ganze Reihe von Möglichkeiten gibt. Abgesehen davon geht es den Schülern in der Regel selbst in solchen Fällen materiell bereits so gut, daß sie nicht einsehen können, wozu sie eigentlich die Mühe des Lernens für die spätere wirtschaftliche Selbständigkeit noch auf sich nehmen sollen. Dieser Motivationsmangel ist durch keine didaktisch-methodische Inszenierung letztlich zu kompensieren.

7. Um die für den künftigen Lebensunterhalt benötigten Fähigkeiten zu lernen, ist die Schule deshalb unentbehrlich, weil selbst die einfachsten Erwerbsmöglichkeiten, die unsere Gesellschaft zur Verfügung hält, eines Mindestmaßes an systematischer geistiger Vorbildung bedürfen, um sachgerecht und sozial kalkulierbar ausgeübt werden zu können. Die kulturelle Erfindung "Unterricht" erlaubt uns, unsere ursprüngliche Verhaftung an die Unmittelbarkeit des alltäglichen Lebens zu überschreiten und "auf Vorrat" zu lernen, nämlich für noch unbekannte spätere Verwendungssituationen. Diese Chance der Schule ist keiner anderen Sozialisationsinstanz gegeben, und deshalb markiert sie deren einzigartige Bedeutung im Konzert der übrigen Sozialisationsfaktoren wie Familie, Freizeit, Massenmedien und Jugendszene. Sie ist unter den Bedingungen der pluralistischen Sozialisation eher noch gestiegen. In der früheren Klassengesellschaft, wo die Lebensperspektiven für die meisten Menschen weitgehend festge-

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legt und die beruflichen Optionen deshalb sehr gering waren, war auch die Schulbildung weniger von Belang, da sie den durch die Eltern erlangten sozialen Status im wesentlichen reproduzierte und verfestigte. Heute hat zumindest prinzipiell jedes Kind die Chance, sich vom Status seiner Eltern zu emanzipieren und durch eine zielgerichtete Nutzung des Bildungsangebotes sich seinen eigenen beruflich-sozialen Status zu verschaffen. Zwar ist nicht zu leugnen, daß faktisch die Herkunftsfamilie immer noch in erheblichem Maße den künftigen Status ihrer Kinder beeinflußt - heute wohl weniger aus materiellen Gründen als vielmehr im Hinblick auf ein die Schule unterstützendes geistiges Klima - , aber schließlich kann die Politik die Ursachen für die ökonomischen Statusunterschiede der Kinder nicht abschaffen; sie kann diese nur kompensieren durch ein Schulangebot, das die Schüler in die Lage versetzt, herkunftsbedingte Benachteiligungen selbst zu korrigieren. Zweifellos ist unser Schulsystem heute dafür offen wie nie zuvor. Allerdings kann es die Anstrengung nicht eliminieren, die dem Schüler für dessen optimale Nutzung abverlangt werden muß.

8. In diesem Punkte ist die Schule auf eine falsche Weise "kindgerecht" geworden. Um den fernsehverwöhnten Schülern das Lernen so angenehm wie möglich zu machen, wurde in den letzten Jahren erhebliche Phantasie in die Erfindung solcher didaktisch-methodischer Konstruktionen gesteckt, die möglichst "Spaß" machen sollen. Nun ist natürlich nichts dagegen zu sagen, daß es in der Schule auch lustig zugeht, aber problematisch wird ein solches Verfahren spätestens dann, wenn Schüler mit dem Hinweis, es mache ihnen eben keinen Spaß mehr, die Mitarbeit verweigern und mit dieser Begründung bei ihren Eltern auch noch Zustimmung finden. Die Aufgabe der Schule kann nicht darin bestehen, die Maximen der "Erlebnisgesellschaft" in ihren Mauern zu reproduzieren, das kann das Fernsehen besser. Vielmehr muß sie die Idee des aufklärenden Unterrichts entgegen allen andersartigen, außerschulischen Erwartungen der Schüler und nicht zuletzt auch vieler Eltern zur Geltung bringen; nur dann vermag sie im Konzert der übrigen Sozialisationsfaktoren ihren eigentümlichen Part zu spielen.

9. Die Schule ist also eine Institution der Gesellschaft, die nicht einfach aus dem Willen der dort Versammelten resultiert, sondern deren Bestrebungen - bei aller Mitbestimmung - übergeordnet ist, weil sie eben wesentlich aus gesellschaftlichen Zwecken begründet ist. Jede Institution muß aber den Zweck, dem sie dient, auch durchsetzen können. Wenn nun Zweck der Schule Unterricht ist - alle anderen ihr angesonnenen Zwecke werden von den übrigen Sozialisationsinstanzen mindestens ebenso gut und vor allem billiger erfüllt - dann folgt daraus, daß sie als Institution auch Sanktionen ergreifen können muß, um ihren Zweck zu sichern. Sie muß also Strafmaßnahmen gegen solche Schüler ergreifen können, die z.B. durch Disziplinlosigkeit oder gar Gewalttätigkeit die ordnungsgemäße Durchführung des Unterrichts erheblich behindern. Nun hat der unpolitische pädagogische Zeitgeist aber erreicht, daß "Schulstrafen" fast völlig abgeschafft wurden. Keine Institution wie auch darüber hinaus keine menschliche Gemeinschaft kann aber fortdauernd auf Sanktionen verzichten, ohne dabei ihre Existenz

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aufs Spiel zu setzen. Sie sollen ja nicht nur die Abweichler, die "Störer" im Zaume halten, sondern gerade dadurch auch die anderen, nämlich die Lernwilligen schützen. Der eigentliche Skandal an vielen Schulen ist, daß eine kleine Minderheit von undisziplinierten Schülern die Mehrheit der lernwilligen terrorisieren darf und dafür dann nicht nur die besondere Aufmerksamkeit der Lehrer erhält, sondern auch noch als prototypisch für die Probleme aller Schüler bzw. Jugendlichen ausgegeben wird.

Der Einwand des Zeitgeistes gegen Sanktionen lautet, daß auf diese Weise Schüler "ausgegrenzt" würden; das ist eine Umkehrung des tatsächlichen Sachverhaltes, weil der disziplinlose oder gar gewalttägige Schüler sich zunächst einmal selbst ausgrenzt, und die pädagogisch gebotene Reaktion kann nur sein zu helfen, diese Position wieder zu verlassen.

Strafen sind interne soziale Maßnahmen, sie setzen dem Verhalten unmißverständliche Grenzen und drohen einen zeitweisen oder dauerhaften Ausschluß aus der jeweiligen Gemeinschaft an. Nun sind die wenigen noch verbliebenen Schulstrafen mit einem geradezu lächerlichen bürokratischen Aufwand verbunden, so daß ihre Wirkung geradezu ins Gegenteil verkehrt wird. Ein cleverer Schüler kann seine Lehrer nach dieser Melodie mühelos zum Tanzen bringen - von den Eltern ganz zu schweigen, die leicht einen Anwalt in Marsch setzen können, der selbst dann, wenn alles wie das Hornberger Schießen ausgeht, den Lehrer zur Produktion einer Menge beschriebenen Papiers zwingen kann. Sogenannte "pädagogische" Strafen wie Nachsitzen oder Strafarbeiten haben ihre Wirkung längst verloren; die kann nämlich nur eintreten, wenn der Schüler sein Vergehen einsieht und solche Strafen als ein weiteres Lernangebot zu verstehen vermag, wenn er also die Definition des Normalfalles akzeptiert, daß die Schule in erster Linie zum Lernen da ist. Wenn dieser Zusammenhang von Schulstrafe und Schulzweck verloren geht, muß Orientierungslosigkeit um sich greifen. Nicht die Lehrer, sondern die Eltern sind dafür verantwortlich, daß der Schüler den Schulzweck akzeptiert und eine hinreichende Lernfähigkeit und Lernwilligkeit mitbringt.

Statt Sanktionen empfiehlt der pädagogische Zeitgeist, Vereinbarungen mit den Schülern über die für alle notwendigen Regeln zu treffen. In der Tat ist diesem Verfahren schon deshalb der Vorzug zu geben, weil es die individuelle Verantwortungsfähigkeit der Schüler zu stärken vermag. Allerdings hängt der Erfolg von zwei Voraussetzungen ab: einmal muß der Schüler auch kontraktfähig, d.h. in der Lage sein, Vereinbarungen einzuhalten oder dies zumindest bei solchen Gelegenheiten lernen zu wollen. Zum anderen muß er den grundlegenden Zweck der Schule akzeptieren, denn darüber kann in der Schulklasse nicht abgestimmt werden. Vereinbarungen können nur innerhalb des Spielraums erfolgen, den dieser Zweck begrenzt. Ohne diese Voraussetzungen bleiben sie im wesentlichen für die Katz. Mit anderen Worten: Die Institution Schule kommt nicht darum herum, den "Normalfall" zu definieren, und der kann nur heißen, daß die Schüler grundsätzlich bereit und in der Lage sind, dem Unterricht zu folgen. "Abweichungen" können vondaher überhaupt erst wahrgenommen und daraufhin (woraufhin sonst?) korrigiert werden. Erst wenn diese Klarstellung erfolgt ist,

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ergibt es Sinn, den davon abweichenden Schülern eine angemessene besondere Förderung zuteil werden zu lassen, nämlich im Hinblick auf ihre Integration in den "Normalfall".

Politisch gesprochen ist die Definition des Normalfalles eine Machtfrage. Wenn die Schule als Institution dieser Frage ausweicht, verwechselt sie die pädagogische mit der politischen Dimension ihrer Existenz. Klärt die Institution die Machtfrage nicht, werden dies andere tun, z.B. die "Diktatoren der letzten Bank". Es gibt keine machtlosen sozialen Gebilde, die Frage ist immer nur, wessen Macht sich mit welcher Legitimation Geltung verschafft.

10. Die Institution Schule muß aber nicht nur die Realisierung ihres Zweckes durchsetzen - nämlich Unterricht abzuhalten - sondern auch eine dementsprechende Ästhetik der Kommunikation. Im Rahmen ihrer pluralistischen Sozialisation müssen die Schüler lernen, sich an unterschiedlichen sozialen Orten unterschiedlich je nach den dort geltenden Regeln zu verhalten - anders in der Diskothek als in der Schule, anders im Kaufhaus als in der Kirche, in der Familie anders als unter Gleichaltrigen. An manchen dieser Orte - z.B. in der Gleichaltrigen-Gruppe - verwenden sie einen eigentümlichen "Jugend-Jargon" - was im übrigen nicht neu ist. Wenn die Schule nun in falsch verstandener Anbiederung diesen Jargon generell - in Ausnahmen kann dies durchaus anschaulich sein - als Unterrichtssprache zuläßt, oder Schimpfkanonaden und andere Verbalaggressionen in Gegenwart von Lehrern oder gar während des Unterrichts hinnimmt, verhält sie sich nicht etwa "kindgerecht", sondern verwahrlosend und betrügt die Schüler um eine wichtige Sozialerfahrung. Schule ist eben Schule, keine Diskothek und kein Fußballplatz, und was als Schimpfkanonade während eines Konfliktes in der großen Pause vielleicht noch toleriert werden kann, ist während des Unterrichtes fehl am Platze.

Damit ist kein generelles Werturteil gegen den "Jugendjargon" gesprochen, sondern nur auf die Notwendigkeit einer sozialen und damit auch sprachlichen Differenzierung aufmerksam gemacht. So wenig es Sinn ergäbe, von Jugendlichen die Verwendung der Unterrichtssprache in einer Diskothek zu erwarten, so abwegig ist es, umgekehrt im Unterricht eine Sprache zu verwenden, die für ganz andere soziale Zwecke gedacht ist. Zurückgeht diese Verwechslung auf die 68er-Bewegung, die ihre fehlende soziale Erfahrung mit Unterschicht- bzw. Arbeiterkindern, als deren Avant-Garde sie gelten wollte, durch Anbiederung an deren Sprachgebrauch zu kompensieren trachtete. Aber die sogenannte "Mittelschicht-Sprache" ist nicht irgendeine beliebige und deshalb austauschbare, sondern diejenige, in der die offizielle gesellschaftliche Kommunikation in Politik und Beruf nun einmal stattfindet, weil sie nicht an ein subkulturelles Milieu gebunden ist. Wer diese Sprache nicht beherrscht, bleibt eben auch in diesen Kommunikationen behindert. Das, was die Schule im Unterricht an Aufklärung zu bieten hat, wird konterkariert, wenn die "Arschlöcher" nur so durch die Luft fliegen. Wer das zuläßt, läßt seine Schüler nicht lernen, wie man sich erfolgreich in der Öffentlichkeit bewegt. Hier geht es nicht um beliebige pädagogische Ideen, die man auch anders sehen könnte, sondern um elementare sozia-

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le Lernleistungen, die für ein Zusammenleben in unserer komplizierten und zudem dicht besiedelten Gesellschaft unentbehrlich sind.

Die Schüler brächten eben ihre Probleme mit in die Schule und müßten sie dort auch ausleben - heißt es oft zur Erklärung wie zur Rechtfertigung. Aber jeder Mensch schleppt seine Probleme überall mit hin, der Prozeß der Zivilisierung besteht jedoch gerade darin, daß man sie nicht an jedem sozialen Ort jedermann um die Ohren haut. Außerdem produziert die Schule oft das Problem selbst, indem sie den Schülern einen gegen Disziplinlosigkeit und Gewalt machtvoll abgesicherten Raum verweigert, in dessen Mauern vielleicht die mitgebrachte Aufregung und Labilität zur Ruhe kommen könnten. Die Schule ist in solchen Fällen Täter, nicht Opfer.

Anstatt, wie der Zeitgeist nahelegt, auf die Gesinnung zu zielen - "Seid lieb zueinander!" - wäre auf diese soziale Differenz aufmerksam zu machen. Dies nicht zu leisten und zur Not auch rigoros durchzusetzen ist pädagogisch unentschuldbar, denn schließlich ist die Schule die erste öffentliche Institution, mit der die Kinder ausführlich und für lange Zeit zu tun haben. Welches politisch-gesellschaftliche Weltbild muß sich in ihnen auftun, wenn sie diese Institution als ein permanentes Chaos erleben? Wie werden sie andere gesellschaftliche Institutionen aufgrund dieser Erfahrung verstehen, die unser Zusammenleben ordnen, z.B. Polizei, Gericht, Finanzamt, Arbeitsplatz oder Parlamente? In solchem sozialen Chaos züchtet eine heruntergekommene pädagogische Institution die Verwahrlosung des öffentlichen Verhaltens.

11. Das Problem vieler Lehrer in vielen Schulen ist nicht, daß sie des Unterrichts müde wären, sondern daß sie gar nicht mehr dazu kommen, in Ruhe und Gelassenheit ihren Unterricht zu erteilen, weil ihre Klassen zu sozialpädagogischen Problemgruppen geworden sind und die meiste Anstrengung darauf gerichtet werden muß, sie disziplinarisch im Zaume zu halten. Aus dieser Tatsache schließen viele Pädagogen, daß die Schule sich eben sozialpädagogisieren müsse, also ihre Ziele nicht in erster Linie im Unterricht sehen dürfe. Das ist ein fundamentaler Fehlschluß, der, wie die Praxis zeigt, nichts bessert, sondern alles nur verschlimmert. Wenn sich in unseren Massenschulen tatsächlich zunehmend Kinder befinden, die weder die sozialen, noch die intellektuellen Voraussetzungen haben, um bei wenigstens mittlerem guten Willen erfolgreich am Unterricht teilnehmen zu können, dann kann die Schule dies genau so wenig ändern, wie das Finanzamt für Steuergerechtigkeit sorgen kann. Dann muß vielmehr diejenige öffentliche Institution um Unterstützung gebeten werden, die dafür vorgesehen und dafür fachlich viel besser ausgestattet ist: nämlich die Jugendhilfe. Das dafür zuständige "Kinder- und Jugendhilfegesetz"(KJHG) wendet sich aber an die Familie, nicht an die Schule, und deshalb müssen die Eltern hier die Initiative ergreifen. Wenn es zutrifft, daß immer mehr Kinder in ihren Familien immer weniger die grundlegenden sozialen Selbstdisziplinierungen lernen, die für ein Auftreten in der Öffentlichkeit unentbehrlich sind, dann kann die Schule diesen Mangel nur in Grenzen, nämlich im Rahmen ihres Zweckes, korrigieren; darüber hinaus müssen dann im Rahmen der Jugendhilfe z.B. Alternativen des

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Aufwachsens unter Gleichaltrigen angeboten werden, die die Herkunftsfamilie im Unterschied zu früheren Jahrzehnten nicht mehr diskriminieren, wie es im Rahmen des neuen KJHG auch vorgesehen ist.

Die Frage also, wozu die Schule eigentlich da sei, muß offensichtlich gegen den Zeitgeist neu beantwortet werden. Einer Umkehr stehen jedoch einige Schwierigkeiten im Wege. Von der gegenwärtigen Krise der Schule leben sowohl die Administrationen wie die einschlägigen Lehrerverbände ganz gut; die schulpolitischen Positionen sind festgefahren, institutionell verhärtet und werden bei entsprechenden Anlässen einfach wieder aus den Schubladen gezogen, und die jeweiligen Funktionäre sind nicht darauf angewiesen, die Probleme der betroffenen Schüler wirklich ernst zu nehmen. Vielleicht brauchen wir eine neue Lehrergewerkschaft, die unter Verzicht auf pädagogisch-ideologische Kampfparolen nichts weiter als eine Interessenvertretung ist.

Nicht minder bedeutsam ist die Tatsache, daß der übliche Generationswechsel in unseren Schulen nicht zum Zuge kommt. Das Durchschnittsalter vieler Kollegien liegt bei 50 Jahren. Lehrer, die seit Jahrzehnten ein bestimmtes, z.B. durch die 68er-Erfahrung geprägtes pädagogisches Konzept verfolgt haben, das für den gegenwärtigen inneren Zustand der Schule wesentlich mitverantwortlich ist, können nicht so einfach umdenken, ohne bei den Schülern unglaubwürdig zu werden oder ohne ihre professionelle Identität in Frage zu stellen. Aus pädagogischer Sicht kann man den Kultusministern deshalb nur raten, ähnliche Überlegungen anzustellen, wie die eingangs erwähnten aus Baden-Württemberg; wenn es finanziell halbwegs zu machen ist, sollten sie jeden Lehrer, der will, unter einigermaßen zumutbaren Bedingungen gehen lassen oder ihm eine andere Aufgabe geben, und dafür so viele junge Lehrer wie möglich einstellen. Nur der Generationswechsel kann hier auf längere Sicht etwas ändern.

Denjenigen Lehrern jedoch, die noch im Amt bleiben müssen und sogar wollen, weil ihnen ihr Beruf immer noch viel bedeutet, wäre vielleicht zu raten, allen pädagogischen Maximen eine Absage zu erteilen, die mit ihrer Erfahrung nicht mehr übereinstimmen, und sich auf ihre eigentliche Aufgabe zu konzentrieren. Die weltfremdem (schul)pädagogischen Konzepte werden nämlich in der Regel nicht von denen gemacht, die sie auch ausführen müssen, sondern z.B. von Politikern und Professoren. So wenig wie ein Arzt sich für den Tod im allgemeinen verantwortlich fühlen kann, so wenig kann ein Lehrer alles pädagogische Elend seiner Umgebung auf seine Schultern nehmen. Damit nützt er letztlich niemandem, schon gar nicht den Schülern. Er kann die Eltern beraten und ihnen Empfehlungen geben, aber er muß sich auch weigern, deren Kinder selbstverständlich in seinen Unterricht zu nehmen, wenn sie nicht unterrichtsfähig sind. Erst mit einer solchen Weigerung eröffnet er die Möglichkeit, sich den Problemen des Kindes kompetent zuzuwenden. Nur dann, wenn die Eltern auf diese Weise in die Verantwortung genommen werden, können sie auch ihr pädagogisches Verhalten ändern.

Aber das Leiden des Lehrers ist letztlich nicht individuell zu heilen. Wenn die Kollegien nicht zusammenhalten und gemeinsam eine Strategie beschließen und

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auch durchhalten, die wieder deutlich macht, daß die Schule, repräsentiert durch eben dieses Kollegium, im Unterschied zu den privaten Ambitionen der Eltern einen öffentlichen Anspruch zur Geltung zu bringen hat, wird sich nichts ändern können. Das gilt erst recht im Hinblick auf die disziplinarischen Bedingungen des Unterrichtens. Die entsprechenden Regeln, die innerhalb der Schule gelten sollen, können zwar mit den Vertretern der Eltern und Schüler erörtert werden, aber sie letztlich zu bestimmen und durchzusetzen muß in der Verantwortung des Kollegiums bleiben. Diese Distanz muß wieder zur Geltung gebracht werden, was eine entsprechende Vereinbarung mit den Eltern über gemeinsame Reaktionen bei Disziplinschwierigkeiten und anderen Problemen durchaus einschließt. Ein in wesentlichen Fragen einiges Kollegium kann mit den zur Verfügung stehenden rechtlichen Möglichkeiten mindestens genau so erfolgreich operieren, wie der erwähnte clevere Schüler. Erst wenn die pädagogische Basis sich derart neu formiert hat, können auch die Berufsverbände unter Druck gesetzt werden, durch Interventionen bei der Kultusbürokratie diejenigen administrativen und rechtlichen Voraussetzungen wieder herzustellen, die für eine normale Schularbeit unabdingbar sind.

Eigentlich müßten aus den Überlegungen über den Zweck der Schule und über ihren Ort im Gesamtzusammenhang der gegenwärtigen Sozialisation noch Schlußfolgerungen für deren lehrplantheoretische und didaktisch-methodische Konstruktion sowie über bildungspolitische Konsequenzen abgeleitet werden. Das würde hier jedoch den Rahmen sprengen. Aber selbst wenn die Beurteilung dieser Rahmenbedingungen und Vorgaben im ganzen negativ ausfallen müßte, wäre dies immer noch keine Rechtfertigung für die gegenwärtige Konfusion über Sinn und Zweck der Schule als öffentlicher Institution.

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Anmerkungen:

(1) Frankfurter Rundschau,8.12.94

(2) PAULY, Gisela: Mir langt's. Eine Lehrerin steigt aus, Hamburg 1994

(3) KORTE, Jochen: Faustrecht auf dem Schulhof, Weinheim-Basel 1993

(4) HENSEL, Horst: Die neuen Kinder und die Erosion der alten Schule, Bönen 1993

(5) SPRENGER, Ulrich: Vier Thesen zum Thema Gesamtschule. Ein Erfahrungsbericht, in: neue deutsche schule H.14/15 1994

(6) H. HENSEL, a.a.O., S. 16 ff. 

 

 
 

173. Was ist mit der Schule los?

In: DIE WELT v. 20.7.1995
 

Die Hiobsbotschaften aus unseren Schulen häufen sich. Das Baden-Württembergische Kultusministerium denkt öffentlich darüber nach, ob für dienstunfähig erklärte Lehrer - das seien 80% der aus gesundheitlichen Gründen nicht mehrarbeitsfähigen Beamten - nicht an anderen Stellen der öffentlichen Verwaltung eingesetzt werden sollten. Überdurchschnittliche Krankenstände unter Lehrerinnen und Lehrern werden vor allem aus den alten Bundesländern gemeldet, und viele gesunde Pädagogen würden lieber heute als morgen den Dienst quittieren.

Ihr größtes Problem sind nach einer Umfrage der "Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft" die Schüler, mit denen sie nicht mehr zurecht kämen. Seit einigen Monaten ist auch die Gesamtschule wieder ins Gerede gebracht worden - diesmal jedoch nicht von ihren eingefleischten partei- und verbandspolitischen Gegnern, sondern von langgedienten Gesamtschullehrern in Nordrhein-Westfalen selbst, die nach ihren Erfahrungen diese Schulform für eine nicht sanierbare pädagogische Fehlkonstruktion halten.

Es wäre jedoch zu einfach, die bildungspolitischen Schützengräben der 70er Jahre wieder aufzusuchen und die alten Schulkämpfe erneut zu beginnen. Die offensichtliche Krise der Schule ist nicht auf einzelne Schulformen beschränkt, sie offenbart vielmehr ein gestörtes Verhältnis unserer Gesellschaft zur Ausbildung ihres Nachwuchses überhaupt. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen, die einander aufgeschaukelt haben.

1. Den Reformideen der 70er Jahre sind die Kinder abhanden gekommen, für die sie einmal gedacht waren. Das damals sprichwörtliche katholische Mädchen, das in Bayern auf dem Lande wohnt, wird inzwischen ebenso wenig mehr von einem verständnislosen Milieu an seinem Bildungswillen gehindert wie das Arbeiterkind. Die "Problemkinder" stammen heute weitgehend aus der Mittelschicht selbst,- nicht zuletzt aus Scheidungsfamilien.

2. Anders als vor 30 Jahren wachsen die Kinder heute in einem radikalisierten Wertpluralismus auf, der ihnen diesseits der Strafgesetze kaum noch verbindliche soziale und moralische Regeln vorgibt. Also müssen sie letzten Endes selbst herausfinden, nach welchen der konkurrierenden Werte sie ihr Leben gestalten wollen. Die Soziologen nennen das den Zwang zur "Individualisierung", und die Folge ist, daß weder Eltern noch Lehrer diesen Prozeß im ganzen mehr steuern können, wie man dies unter dem überlieferten Begriff der "Erziehung" immer noch in der Öffentlichkeit erwartet. Kaufhaus, Fernsehen und die Gleichaltrigen sind zu Miterziehern geworden, die Familie und Schule täglich Konkurrenz machen.

3. Anstatt sich nun auf ihren begrenzten Part in diesem Konzert zu konzentrieren und den auch konsequent zu spielen, läßt die Schule sich als eine Art von Feuerwehr alle Probleme aufhalsen, die in der Gesellschaft entstehen: Erziehungdefizite in den Familien, Aids, politischer Radikalismus. Damit ist sie aber hoffnungslos überfordert.

4. Auf der Strecke bleibt dabei, was auch heute noch nur die Schule leisten kann: Durch planmäßigen Unterricht Zug um Zug die Welt aufzuklären, dabei die geistigen Fähigkeiten der Schüler zur Entfaltung kommen zu lassen und nicht zuletzt dadurch das Überleben der Gesellschaft künftig zu sichern. Das ist unausweichlich mit Anstrengung und Disziplin verbunden, und beides muß die Schule einfordern, auch wenn es den sonstigen Lebenserfahrungen der Schüler zuwiderläuft.

5. Durch eine primär politisch und nicht pädagogisch motivierte Mitbestimmung der Eltern in den Schulen wurde ihnen die Verantwortung dafür abgenommen, ihre Kinder selbst "schulfähig" zu machen. Statt dessen erwarten sie vielfach die Umwandlung der Schule in eine sozialpädagogische Anstalt, deren Aufgabe es sei, elementare familiäre Erziehungsmängel zu kompensieren.

6. Die Schule ist weitgehend ihrer institutionellen Würde beraubt und zu einer Spielwiese für alle möglichen weltfremden pädagogischen Ansinnen gemacht worden. So soll ihre demokratische Legitimation darin bestehen, daß in ihr möglichst alle Kinder gemeinsam unterrichtet werden ("Integration"), obwohl sie doch nur darin bestehen kann, jedem Kind die höchstmögliche Entfaltung seiner Fähigkeiten zu ermöglichen.

7. Die instutionelle Demontage der Schule wird jedoch am deutlichsten daran erkennbar, daß ihre Möglichkeiten, ihren Zweck zur Not auch durch Sanktionen durchzusetzen, bis zur Lächerlichkeit geschwunden sind. Sie kann kaum noch, ohne rechtlichen Widerstand zu provozieren, die lernwilligen Schüler vor den lernunwilligen und alle vor Gewalt schützen. Jeder halbwegs clevere Schüler kann seine Lehrer nach der Melodie bürokratischer Mätzchen mühelos zum Tanzen bringen, - von den Eltern ganz zu schweigen, die leicht einen Anwalt in Marsch setzen können, der selbst dann, wenn alles wie das Hornberger Schießen ausgeht, den Lehrer zur Produktion einer Menge beschriebenen Papiers zwingen kann.

Fazit: Die Schule ist in eine Fehlentwicklung geraten, für die alle Beteiligten mehr oder weniger verantwortlich sind. Die Öffentlichkeit verlangt zuviel und Falsches von ihr, die Lehrer hängen unrealistisch gewordenen Reformideen nach, ihre Berufsverbände schlagen weiterhin die Schlachten von gestern, anstatt zumutbare Arbeitsbedingungen für ihre Mitglieder einzufordern, die Administration ist ratlos und die Eltern haben ihre privaten Interessen im Auge. Gewiß gilt dieses Urteil nicht für alle Schulen, aber inzwischen für zu viele. Besserung ist nicht zu erwarten von irgendwelchen kosmetischen Reparaturen, sondern nur von einer grundlegenden Neubesinnung über die Bedeutung der Schule in unserer pluralistischen Gesellschaft.

 URL des Dokuments:  http://www.hermann-giesecke.de/werke21.htm