Hermann Giesecke

Gesammelte Schriften

Band 14: 1977

© Hermann Giesecke

Inhaltsverzeichnis aller Bände

Register

Zu dieser Edition
Dieser 14. Band meiner gesammelten Schriften enthält Arbeiten aus dem Jahr 1977. In diesem Jahr war ich (seit 1967) als Professor für Pädagogik und Sozialpädagogik an der Pädagogischen Hochschule in Göttingen tätig. Nähere biographische Angaben finden sich in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen, Weinheim: Juventa Verlag 2000.

Die Edition der Schriften in diesem Band bemüht sich um Vollständigkeit. Aufgenommen wurden nur bereits gedruckte Texte.

Die Texte sind nach ihrem Erscheinungsjahr geordnet.

Die Plazierung der Fußnoten wurde vereinheitlicht; sie befinden sich nun am Ende des jeweiligen Beitrags. Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurden die Originale jedoch nicht verändert. Nachträgliche Anmerkungen des Herausgebers sind durch (*) oder durch ein Namenskürzel ("H.G.") gekennzeichnet. Um die Zitierfähigkeit der Texte zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.

Die Beiträge werden von "1" an numeriert, die vorangehenden Arbeiten befinden sich in den früheren Bänden.

Inhalt von Band 14

104. Was müssen Lehrer wirklich lernen und wie teuer muß das sein? (1977)

105. Zur Kritik am "Normenbuch" "Gemeinschaftskunde" (1977)

106. Die Aufgaben der außerschulischen Bildungsstätten im Bildungssystem (1977)

107. Die Schule als pluralistische Dienstleistung und das Konsensproblem in der politischen Bildung (1977)

108. Rollen und Funktionen des Lehrers im Politikunterricht (1977)

109. Aufklärung und Subjektivität (1977)

110. Spontaneität und Bürokratie (1977)


 

104. Was müssen Lehrer wirklich lernen und wie teuer muß das sein? (1977)


(In: Die Deutsche Schule, H. 2/1977, S. 107-115)
 

Vorbemerkung:

Wenn im folgenden Essay, der am 19.11.1976 im NDR 3 gesendet wurde, der Kostenaspekt für das gegenwärtige Lehrerstudium im Mittelpunkt steht, bedeutet das selbstverständlich nicht, daß dies der einzig mögliche Gesichtspunkt für seine Beurteilung wäre. Gefordert wird nur, daß in Zukunft genauer begründet wird, was warum finanziert werden soll, und daß "bildungsökonomische" Argumente nicht mehr nur als politische Waffe nach außen, sondern auch als Kritik des eigenen Betriebes eingesetzt werden.

Man kann einwenden, daß die Kosten für das Bildungswesen an anderer Stelle - z. B. bei der Rüstung; bei der bürokratischen Verschwendung usw. - gespart werden könnten; das ist richtig, enthebt aber gerade die wissenschaftlichen Ausbildungsstätten nicht der Verantwortung, bei sich selbst mit der Überprüfung der Kosten anzufangen. Sonst verlieren sie die Legitimation dafür, sich kritisch an der Diskussion über gesellschaftliche Ko-

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sten an anderer Stelle zu engagieren. Zudem ist unbestreitbar, daß - wie immer die Mittel verteilt werden mögen - sie knapper sein werden als die Nachfrage. Das gilt auch für die Nachfrage nach "Bildung" - zumal dann, wenn man endlich wieder aufhört, sie bloß als berufliche Qualifikationsnachfrage zu definieren.

Mit Kosten, die man einspart, kann man anderes finanzieren: Man kann mehr Studenten studieren lassen; man kann ihre Stipendien verlängern und verbessern; man kann die Beschränkung der Studienzeit lockern, man kann mehr in die bildungspolitischen "Hinterhöfe" investieren - von der Hauptschule über die Berufsausbildung bis zur Fürsorgeerziehung und zum Strafvollzug, und auf diese Weise bitter nötige pädagogische Arbeitsmärkte erschließen; man kann sich überlegen, ob es im Zeichen struktureller Arbeitslosigkeit nicht vernünftiger ist, junge Leute studieren zu lassen, als ihnen bloß Arbeitslosenunterstützung zu zahlen.

Für solche und andere wichtige Ziele, die Geld kosten, kann in Zukunft politisch nur eintreten, wer aufhört, die Öffentliche Hand als beliebig ausbeutbaren Papa anzusehen, der die gebratenen Tauben jedermann ins Maul zu lenken habe. Gewiß: Was in der Hochschule gespart würde, käme nicht automatisch den bildungspolitischen "Hinterhöfen" zugute, aber es würde sich lohnen, dafür politisch einzutreten.
 
 

Seitdem klargeworden ist, daß höhere Bildung und damit auch Hochschulbildung für immer mehr Menschen mehr kostet, als die öffentliche Hand aufbringen will bzw. kann, gibt es eine Fülle von Überlegungen, wie man mit den vorhandenen Mitteln einen möglichst großen Effekt erzielen, also möglichst viele Studienplätze schaffen kann. Die an der Hochschule Lehrenden sollen mehr Lehrstunden erteilen; die Semesterferien sollen abgeschafft oder zumindest verkürzt werden, damit die Kapazitäten der Hochschule besser genutzt werden können; neue Studienordnungen sollen die Studenten zur rationellen Ausnutzung ihrer Studienzeit anhalten - so und ähnlich lauten die Vorschläge. Der Numerus clausus mit seinen grotesken Auswirkungen und seinen verheerenden Rückwirkungen auf den Leistungswettbewerb in den Schulen hat die Frage nach dem rentablen Einsatz der tatsächlichen Mittel und Möglichkeiten zu einem Politikum ersten Ranges gemacht.

All diesen Überlegungen ist merkwürdigerweise gemeinsam, daß sie viele Kostenfaktoren einbeziehen, die Studienleistungen der Studenten jedoch unberücksichtigt lassen, ja, diese sogar als eine Art von unabänderlicher Naturkonstante, als kostenmäßig nicht zu verändernden Faktor so hinnehmen, wie sie sind. Die Frage, wie die Studierenden selbst durch den Einsatz ihrer Arbeitskraft, also durch ihre Lernarbeit zu einer Minderung der für sie aufgewendeten Kosten beitragen können, hat im Prinzip nichts mit dem Fehlen von Studienordnungen zu tun; denn wo es sie gibt, sind sie ganz unnötig kostenaufwendig und verbieten den Studenten eher, sich in der Benutzung der personellen und materiellen Ressourcen der Hochschule ökonomisch zweckmäßig zu verhalten. Davon wird am Beispiel meiner eigenen Hochschule, der Pädagogischen Hochschule Niedersachsen, Abteilung Göttingen, gleich noch die Rede sein.

Wie teuer ein Studium, zum Beispiel das eines Lehrers, sein muß, hängt offensichtlich von den Erwartungen ab, die man nach seinem Studium und während seines Studiums an ihn stellt. Was und wieviel muß die Hochschule ihm an Dienstleistungen anbieten, und was und wieviel muß man vom Studenten als Eigenleistung verlangen? Wer zum Beispiel eine Dissertation schreibt, kostet die Hochschule sehr wenig. Er arbeitet zu Hause, in Labors und in Bibliotheken und benötigt gelegentlich nur eine Kommunikation mit

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seinem Hochschullehrer und mit solchen Kollegen, die an ähnlichen Problemen arbeiten wie er selbst. Daß er sich diese zuletzt genannten Kontakte weitgehend selbst verschafft, könnte man schon als einen zumutbaren Eigenbeitrag ansehen. Je höher sich jemand im Bildungssystem befindet, um so mehr selbständige Arbeit muß man von ihm nicht zuletzt auch unter dem Gesichtspunkt der Kostenersparnis erwarten. Die aus pädagogischen wie bildungspolitischen Gründen notwendigerweise teuren, weil besonders personalintensiven Bildungsstufen sind die unteren. Das Grundschulkind zum Beispiel kann noch nicht selbständig arbeiten, es muß ständig zum Lernen angeleitet werden. Daß die Bildungsausgaben vor allem in die höheren Bildungsstufen und hier wiederum in die Hochschulen investiert werden, hatte schon früher überwiegend politische Gründe: Über die Verteilung dieser Mittel befinden eben diejenigen, die selbst in relativ privilegierter Position sind und diese für ihren Nachwuchs verständlicherweise sichern wollen.

An diesem Punkt muß auch die Kostenüberlegung einsetzen: An einer wissenschaftlichen Hochschule studieren zu können, ist immer noch ein Privileg, das unter anderem darauf beruht, daß etwa 80 Prozent der Gleichaltrigen davon ausgeschlossen sind. Privilegiert ist nicht nur die Zukunft der Studierenden, insofern sie bessere Positionen und Gehälter erwarten läßt, sondern auch die Gegenwart des Studiums selbst; das ist jedem klar, der einmal längere Zeit als Werkstudent gearbeitet und von daher unterprivilegierte Arbeit an sich selbst erfahren hat. Selbst die Arbeitslosigkeit von Studienabgängern ist noch eine privilegierte im Vergleich zu der von Lehrlingen und Jungarbeitern. Anstatt jedoch schon aus diesen Gründen einen nennenswerten Eigenbeitrag der Studenten zu ihrem Studium zu fordern, werden ihnen immer mehr und immer längere Lehrveranstaltungen angeboten, in denen immer weniger Eigenbeiträge erwartet und auch geleistet werden; das wissenschaftliche Niveau dieser Veranstaltungen sinkt, zumal auch kaum noch wissenschaftliche Literatur gelesen oder gar bearbeitet wird. Mit anderen Worten: die Vermehrung des Lehrangebots hat eben nicht zur leistungsmäßigen Verbesserung des Studiums beigetragen, sondern umgekehrt zu seiner Verschlechterung, so daß alle Vorschläge, das Angebot weiter zu vermehren, am Kern des Problems vorbeigehen.

Dieser lapidaren Erkenntnis öffentliche Wirkung zu verschaffen, ist deshalb so schwer, weil alle an dieser Situation Beteiligten sie nicht wahrhaben wollen. Der Zusammenhang von Vermehrung des Lehrangebotes und Verschlechterung des Lernergebnisses ist nämlich aus dem Zusammenspiel folgender Faktoren entstanden:

1. Die Kultusbürokratie akzeptiert nur verwaltungsfähige, das heißt, quantifizierbare Größen, wenn es um Studien- und Prüfungsordnungen geht. Je mehr Pflichtstunden eine Studienordnung enthält, für um so effektiver wird sie gehalten.

2. Die Hochschulen wiederum fürchten, ihr Ansehen zu verlieren, wenn sie diese Erwartung nicht erfüllen; wenn überhaupt Studienordnungen zustande kommen, dann renommieren sie in erster Linie mit der Quantität ihrer Ansprüche. Kaum eine Hochschule traut sich heute noch, etwa die Vorleistungen und Mitwirkungen der Studenten als Studienzeit zu veranschlagen und dann bei der Zulassung zu wissenschaftlichen Seminaren auch einzufordern. Außerdem ist die einzige Möglichkeit, neue Planstellen zu erhalten, der Hinweis auf diese Studienordnung, die unter den gegebenen personellen Verhältnissen leider nicht erfüllt werden könne. An meiner Hochschule zum Beispiel müssen Lehrerstudenten immer noch in 6 Semestern fünf Fächer studieren, 16 Wochenstunden Lehrveranstaltungen pro Semester werden von ihnen erwartet. Sie sitzen in neun oder zehn Seminaren herum und können glaubhaft versichern, daß sie sich auf höchstens eines davon einigermaßen gut und auf die anderen nur ganz oberflächlich vorbereiten können. Wer selbst geisteswissenschaftliche Fächer studiert hat, weiß, daß man sich höchstens auf vier Seminare pro Semester einigermaßen gründlich vorbereiten

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kann; die anderen fünf oder sechs sind nutzlos und verursachen nur überflüssige Kosten.

3. Die Fachvertreter an den Hochschulen hängen zäh an ihrem Stundenanteil; das ist einmal eine Prestigefrage im Verhältnis zu den anderen Fachvertretern - wenn man für wichtig gehalten werden will, muß man einen möglichst hohen Anteil an der Studierzeit fordern. Außerdem ist auch hier wieder der Hinweis auf das Defizit an Lehrangeboten die einzige Möglichkeit, das Fach personell weiter auszubauen. Deshalb muß das Defizit einfach hergestellt werden. Studienordnungen entstehen nicht aufgrund wissenschaftsdidaktischer Konzeptionen, sondern durch quantitative Kompromisse zwischen den Fachvertretern, die aus der Sicht der Studenten keine sachliche Logik haben können.

4. Zur Verteuerung des Studiums haben jedoch auch die Konzepte und Vorstellungen zur Hochschulreform beigetragen, insofern sie durchweg sehr personalintensiv sind und das, was früher als häusliche Eigenarbeit von den Studenten gefordert wurde, zum großen Teil in die Lehrveranstaltungen verlegen; die Hausarbeiten finden nun sozusagen in der Hochschule unter Aufsicht des Lehrers statt. Diese Reformvorstellungen lassen sich als Tendenz zur Lehrerausbildung und als Absage an die frühere Lehrerbildung beschreiben. Die frühere Lehrerbildung ging davon aus, daß der Lehrer im Studium erst einmal für sich selbst studieren müsse, seine eigenen Vorstellungen wissenschaftlich zu bilden und zu korrigieren habe, um dann durch zusätzliche didaktische und methodische Kenntnisse das, was er selber weiß und kann, an die Schüler vermitteln zu lernen. Bei der Konzeption der Lehrerausbildung ist das Studium von vornherein einem äußeren Zweck unterworfen, nämlich der späteren Unterrichtung von Kindern. Was der Student für sich selbst, für sein eigenes Weltbild und für seine eigenen Vorstellungen dabei lernt, ist unwichtig oder zumindest sekundär. Diese Grundeinstellung zur Professionalität, in der sich die Reformer und die Mehrheit der Studenten einig sind, führt, wissenschaftsdidaktisch gesehen, zu einer gänzlich neuen Struktur des Lehrerstudiums; denn die Wissenschaftlichkeit des Lehrerstudiums läßt sich letzten Endes nur begründen, wenn es um die Bildung des Lehrers selbst geht, wenn man davon ausgeht, daß der künftige Lehrer sehr viel mehr wissenschaftlich gebildet sein muß, als er für den Umgang mit seinen Schülern unmittelbar braucht, daß sozusagen seine eigene Bildung das Repertoire ist, aus dem heraus er später den Unterricht kreativ organisieren kann. Die Konzeption der Lehrerausbildung jedoch reduziert diese Bildungsmöglichkeiten für den Lehrer zu einer undialektischen, eindimensionalen Zweck-Mittel-Relation. Das Leitmotiv des Studiums ist nun: Ich will nur das lernen, was ich später in meinem Beruf als Lehrer auch brauchen kann. Unter diesem Aspekt fallen natürlich die klassischen Ansprüche eines wissenschaftlichen Studiums durch: das Lesen komplexer wissenschaftlicher Texte, die Auseinandersetzung mit methodologischen Fragen, mit wissenschaftlichen Kontroversen - all dies ist selbstverständlich nicht direkt brauchbar für den späteren Unterricht. Folgerichtig wird auch die Bedeutung der häuslichen Eigenarbeit immer geringer. Was nun zu tun ist, muß in die Lehrveranstaltungen verlegt werden. Da der Student nicht mit seinem gegenwärtigen Bewußtsein Mittelpunkt des Studiums ist, sondern alles auf die zukünftige Lehrerpraxis ausgerichtet ist, muß diese antizipiert, also als bloße Vorstellung in die Hochschule hereingeholt werden. Dabei aber kann einem die wissenschaftliche Literatur nicht helfen - die wäre nur nützlich, wenn es um die gegenwärtigen Erfahrungen der Studenten ginge, also um ihre eigene "Bildung". Helfen kann dabei nur die Person des Lehrenden, helfen kann vor allem der, der über sogenannte "Schulerfahrungen" verfügt. Von ihm werden die Studenten nun persönlich abhängig, und aus dieser Konstellation resultiert die zunehmende Verschulung der Hochschulen: Nichts läuft mehr, ohne daß es über einen Lehrenden läuft.

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Da andererseits in dieser Konstruktion wissenschaftliche Kriterien keine zentrale Bedeutung mehr haben, muß an deren Stelle etwas anderes treten, denn auch das sogenannte "praxisbezogene Studium" braucht integrierende Vorstellungen für das Bewußtsein. Die Lücke wird ausgefüllt durch irgendwelche Gesinnungsprämissen wie "fortschrittlich" oder "links" oder ähnliches, die selbst nicht für die wissenschaftliche Kritik zur Disposition stehen, denn das wäre ja "Bildung". Es ist also nicht so - wie oft angenommen wird -, daß die Reformkonzepte zum Zwecke der Verbreitung sogenannter "linker" Ideen inszeniert würden; vielmehr hat sich umgekehrt gezeigt, daß mit dem Abschied von der Lehrerbildung und das heißt vom Primat des wissenschaftlichen Denkens ideologische, beziehungsweise Gesinnungssubstrate - welcher Art sie auch sein mögen - unentbehrlich als Ersatz dafür geworden sind.

Abgesehen von der Kostensteigerung, die diese Konzepte verursachen und weiter fordern, haben sie auch eine Reihe von sehr bedenklichen, nämlich gegen-emanzipatorischen und somit reaktionären Konsequenzen für die Bildungspolitik. So wird zum Beispiel die Emanzipation der Lehrer von ihren Anstellungsträgern, die nur durch den Anspruch der Wissenschaftlichkeit historisch möglich und legitimierbar war, wieder rückgängig gemacht. Die Einmischungsansprüche der Bürokratie in das Studium werden implizit gerechtfertigt und sogar herausgefordert; denn wenn "Praxisbezogenheit" das zentrale Kriterium des Studiums ist, liegt doch nahe, daß über die Inhalte derjenige befindet, bei dem und für den die Studenten später auch arbeiten sollen. Die Lehrerausbildung wird auf diese Weise wieder auf das Niveau von Fachschulen zurückgedrängt. Auf der Strecke bleibt nicht zuletzt auch die Idee eines wissenschaftlich fundierten Unterrichts in der Schule, denn die pädagogische Professionalisierung zielt einseitig auf den sozialen Beziehungsaspekt, also auf die kommunikative Manipulation der späteren Schüler, nicht auf die Strukturen ihres Denkens. Die Vermittlung von Strukturen und Kategorien zur Einsicht in die objektive Welt ist kein Thema mehr.

Eine ausführliche Auseinandersetzung mit diesen Reformkonzepten kann hier leider nicht erfolgen, wäre aber dringend nötig. Ich werde gleich meine eigene Vorstellung - gleichsam als Gegen-Modell dazu - skizzieren. Wichtig unter unserem Aspekt der Kostenfrage ist nur, daß die Reformkonzepte eine auch kostenmäßig relevante Eigenarbeit der Studenten erheblich herabsetzen und darüber hinaus weitere Personalkosten von der öffentlichen Hand fordern. Ein wissenschaftliches Studium wäre sehr viel billiger zu haben. Von Bedeutung ist ferner der quantitative Anteil dieser Vorstellungen im Rahmen des ganzen Lehrkörpers; Im Grund handelt es sich hier um eine Art von Generationen-Konflikt. Die Reformvorstellungen werden im wesentlichen vertreten von jüngeren Kollegen, die durch die Studentenbewegung geprägt wurden und die heute als akademische Räte, beziehungsweise Assistenten, tätig sind, während die Hochschullehrer, deren Stellen in den letzten 10 Jahren, jedenfalls an meiner Hochschule, praktisch nicht vermehrt wurden, im allgemeinen Gegner dieser Konzepte sind. Auf diese Weise wird der Generationen-Konflikt sekundär auch zum Status-Konflikt zwischen den Gruppen der Hochschullehrer und des Mittelbaus.

Obwohl die Hochschullehrer in den Gremien in fast allen wichtigen Fragen die Mehrheit der Stimmen haben, geht ihr Einfluß im Rahmen der Lehre nicht über ihre eigenen Lehrveranstaltungen hinaus, da alle Lehrenden, einschließlich der Assistenten, über Inhalt und Form ihrer Lehre selbständig entscheiden können. In Zahlen ausgedrückt, heißt das: 55 Prozent des Lehrangebotes werden vom Mittelbau gemacht, 22 Prozent von den Assistenten und 23 Prozent von den Hochschullehrern.

5. Die Studenten votieren mit großer Mehrheit für die Reformkonzeptionen, teils, weil sie diese für weniger schwierig und anspruchsvoll halten, teils, weil sie sich von den nicht sehr viel älteren Lehrenden, die zudem den menschlichen Beziehungsproblemen

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große Aufmerksamkeit schenken, besser verstanden fühlen. Diese Verminderung von Distanz macht aber auch Sanktionen wegen mangelnder Mitarbeit sehr schwierig, was nicht selten zu Enttäuschungen führt, wenn zum Beispiel in Prüfungen dann doch Sanktionen erteilt werden müssen. Im Zweifel werden im Studium eher gruppendynamische Sitzungen eingeführt, um fehlender Motivation und zu großer Arbeitsunlust auf die Spur zu kommen.

In einem Punkt jedoch sind sich die Reformer und die Kritiker - wenn auch aus unterschiedlichen Motiven - einig: In der Tendenz zur immer weiteren Verschulung des Studiums. Es ist nachgerade erschreckend, festzustellen, in welchem Ausmaß die Hochschule selbst in Kleinigkeiten die persönliche Verantwortung für den Erfolg und die Organisation des Studiums, für die Auswahl der Studienschwerpunkte, für die Steuerung der Lernprozesse suspendiert und statt dessen ein Heer von intellektuell, sozial und emotional Abhängigen produziert, deren "Praxisschock" beim Eintritt in den Beruf zum wenigsten darauf beruht, daß die Hochschule nicht praxisnah genug ausgebildet hätte, als vielmehr darauf, daß die Hochschule in der Studienzeit so etwas wie eigenverantwortliche Lebensführung wegsozialisiert hat, beziehungsweise gar nicht erst hat aufkommen lassen. Und bei dieser Tendenz der Verschulung akkumulieren sich die Maßnahmen der Bürokratie, die darauf bezogenen Maßnahmen der Hochschulen, die Eigeninteressen der Fächer, eine Reihe hochschulreformerischer Konzepte und schließlich die Erwartungen der Studenten selbst zu einer Lehr- und Lernorganisation, die nicht nur unnötig viel Geld kostet, sondern auch sehr problematische Ergebnisse hinsichtlich des Studienerfolges haben muß.

Wie läßt sich nun die Forderung nach Eigenbeteiligung der Studenten konkretisieren? Was also müssen Lehrer wirklich lernen und wie teuer muß das sein? Ich skizziere jetzt ein Gegen-Modell:

1. Ein wissenschaftliches Studium ist im Kern ein Selbststudium, das am häuslichen Schreibtisch, in Labors und in Bibliotheken stattfindet. Die Lehrveranstaltungen der Hochschule sind dafür nur mehr oder weniger notwendige Dienstleistungen. Im Prinzip kann man ein Studium ohne Lehrveranstaltungen absolvieren, sofern man wissenschaftliches Arbeiten gelernt hat und sich sachverständige Kommunikationen für die Kritik und für die Rückmeldung verschafft. Ein großer Teil des Lehrerstudiums, vor allem, wo es um Überblicke und Informationen geht, kann ohne Lehrveranstaltungen oder allenfalls mit Vorlesungen auskommen und trotzdem zum Prüfungsstoff gehören.

2. Ein praxisbezogenes Studium wie das des Lehrers besteht im wesentlichen darin, daß die immer schon vorhandenen Erfahrungen und Vorstellungen über die Praxis, also über Schule, Schüler, Lehrer, Unterricht, Sozialisation und so weiter, konfrontiert werden mit wissenschaftlicher Literatur und daß diese Differenz bearbeitet wird. Dies ist eine Aufgabe der Seminare, die aber nur Sinn haben, wenn alle Teilnehmer optimal vorbereitet sind. Höchstens vier solcher Seminare kann ein Student pro Semester besuchen, sie wären auf die Fächer zu verteilen. Studienordnungen hätten also bei der Verteilung dieser vier Seminare anzusetzen und nicht bei dem, was die Fachvertreter alles für wichtig halten. Da Seminare die personalintensivsten und damit teuersten Lehrveranstaltungen sind, wäre es nicht abwegig, Bezugscheine für die Teilnahme auszugeben: wer die Chancen der Teilnahme an einem Seminar nicht nutzt, muß anschließend selbst zusehen, wie er die Lücke schließt. Es wäre also strikt zu trennen zwischen dem Recht auf Immatrikulation und dem Recht auf Teilnahme an bestimmten Lehrveranstaltungen.

3. Ein praxisbezogenes Lehrerstudium ist insofern prinzipiell unabschließbar, als die wesentlichen praktischen Aspekte des künftigen Berufes weder in sechs noch in sechzig

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Semestern vollständig aufgeklärt werden können. Es kann immer nur um Korrektur vorhandener Erkenntnisse und um deren Differenzierung gehen, sowie vor allem um die Methoden, mit denen auch in Zukunft solche Korrekturen selbständig vorgenommen werden können. In dieser prinzipiellen Offenheit eines praxisbezogenen Studiums gibt es außer den Methoden wissenschaftlichen Arbeitens nichts, was man unbedingt wissen muß, wie lauthals dies auch von wem immer gefordert werden mag. Alles, was man studieren kann, ist unbedingt wichtig, sofern es wenigstens mittelbar mit der künftigen Berufspraxis zu tun hat. Daraus folgt erstens, daß die so oft geforderten Studienordnungen selbst das Übel und nicht dessen Lösung sind, wenn sie mehr als einen allgemeinen Rahmen abstecken, und zweitens, daß der Student seine Version des Studiums auch für die Prüfungen einbringen können muß, also nicht Gefahr laufen darf, gerade das in einer Prüfung leisten zu müssen, was er nicht studiert hat. Zur Forderung nach der zumutbaren Eigenleistung gehört also auch die nach der Individualisierung des Studiums, nach der Entscheidungsfreiheit des Einzelnen über seine stofflichen Schwerpunkte.

4. Die Lernorte außerhalb der Hochschule, also die Berufsfelder, in denen die Praktika stattfinden, sind genauso wichtig wie die Hochschule selbst. Man kann in der Hochschule zum Beispiel nicht lernen, wie man Kinder unterrichtet, weil es dort keine Kinder gibt. Auch hier geht es im Kern darum, die Widersprüche zwischen den eigenen Vorstellungen und dieser Realität zu registrieren und zu bearbeiten, sowie zusätzlich darum, nach den in den Berufsfeldern geltenden Regeln in begrenztem Umfang praktische Erfahrungen zu sammeln, die dann anschließend im Studium weiter verarbeitet werden können. Für diesen Zweck reicht es aus, wenn der Student sich seine Praktikumsstelle selbst sucht, so daß er möglichst an seinem Heimatort wohnt und damit private Kosten spart. Gespart werden könnten aber vor allem die erheblichen Kosten, die dadurch entstehen, daß bei uns in Niedersachsen - in anderen Bundesländern ist dies abgeschafft - alle Lehrenden für mehrere Wochen im Jahr an die Praktikumsstellen fahren, um dort vier oder sechs Praktikanten zu betreuen. Dies ist ein Aufwand nicht nur an Arbeitszeit, sondern auch an Reisekosten, der in keinem Verhältnis mehr zum Ergebnis steht.

5. Personalintensiv müssen dagegen die Veranstaltungen für die Studienanfänger sein. Vor allem im ersten Semester müssen in möglichst kleinen Gruppen die Grundlagen für selbständiges Arbeiten gelegt, sowie alle wichtigen Informationen für das Studium gegeben werden. Die Seminare wären also auch der Ort einer permanenten Studienberatung.

6. Auszubauen wären in Zukunft vor allem die sachlichen Dienstleistungen der Hochschule, wie Bibliotheken und dazugehörige Arbeitsräume. Diese Investitionen sind sträflich vernachlässigt worden. Ich verfüge zum Beispiel, wie alle meine Kollegen, über einen Bücheretat von ca. 400 Mark im Jahr, der im wesentlichen für die Herstellung von Lehrmitteln, also von Papieren, verbraucht wird. Technisch längst mögliche Dienstleistungen werden gar nicht erst in Erwägung gezogen. So wäre es mit relativ geringen Mitteln möglich, auf Tonkassettenbasis Vorlesungsdiskotheken einzurichten, in denen wichtige Grundvorlesungen, zusammen mit schriftlichem Begleitmaterial, sowohl für Gruppen als auch für Einzelne jederzeit zur Verfügung stehen.

Die öffentliche Diskussion über die Hochschulreform sowie über die notwendigen Kosten und Investitionen - das sollten diese Ausführungen wenigstens andeuten - ist in einem solchen Maße ideologisch verstellt und auf Gruppeninteressen bezogen, daß eine Durchbrechung und Infragestellung ihres Scheines kaum von irgendeiner offiziellen Stelle mehr zu erwarten ist.

Würde die Lehrkapazität an meiner Hochschule - sechs Semesterwochenstunden für Hochschullehrer, acht für akademische Räte, vier für Assistenten - nur in wissen-

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schaftliche Seminare investiert, von denen jeder Student vier pro Semester besuchen darf, dann hätte bei 2800 Studenten jedes Seminar die ideale Teilnehmerzahl von 21. Natürlich müssen an dieser groben Rechnung Abstriche gemacht werden, weil Vorlesungen und Übungen nicht mit berücksichtigt sind. Trotzdem könnte man aber von einer relativ erträglichen Studiensituation sprechen. Würden die Lehrstunden des Mittelbaues auf 16 erhöht, was der Kultusbürokratie offenbar vorschwebt, dann könnte die Studentenzahl um 54 Prozent erhöht werden. Dann aber betrüge der Anteil der Hochschullehrer an der Lehre nur noch 15 Prozent, der Anteil des Mittelbaus stiege auf 71 Prozent, und 14 Prozent entfielen auf die Assistenten. Und die Verschulung würde weiter fortschreiten, weil niemand wissenschaftliche Lehre in einem solchen Umfang anbieten kann. Die gegenwärtigen bürokratischen Kapazitätsberechnungen, die als Folge des Numerus clausus überall angestellt werden, gehen von der fragwürdigen Prämisse aus, daß das, was die Hochschulen gegenwärtig tun, auch irgendwie vernünftig sei und bloß richtig in Kapazitäten umgerechnet werden müsse. Das genaue Gegenteil ist aber richtig. Es wäre nicht allzu kostspielig, die Kapazität der Hochschule auszuweiten, wenn der zumutbare Eigenbeitrag der Studenten mit Entschiedenheit gefordert, aber auch durch ein planmäßiges Anfängerstudium und durch die Verbesserung der sachlichen Dienstleistungen ermöglicht würde, und wenn der Bann der nachgerade totalen Verschulung sowohl organisatorisch als auch ideologisch gebrochen würde.

Nun kann man allerdings mit einigem Recht einwenden, daß die gegenwärtige Hochschule nicht mehr nur der wissenschaftlichen Lehre zu dienen, sondern darüber hinaus noch weitere Sozialisationsdienstleistungen für die Studenten zu erbringen habe; denn wenn diese nicht motiviert seien, Arbeitsstörungen, Konzentrationsschwächen und Kontaktschwierigkeiten hätten, so sei das nicht allein ihre persönliche Schuld. Der höhere personelle Aufwand resultiere vielmehr aus der Notwendigkeit einer Nachhol-Sozialisation, da die bisherige Sozialisation in Familie und Schule offensichtlich erhebliche Lücken gehabt habe.

Diesem Einwand wäre insofern mit Sorgfalt nachzugehen, als in der Tat die Studienzeit immer auch eine Zeit der Identitätsfindung gewesen ist, bei der der Lehrbetrieb nur ein Faktor unter vielen anderen war: die anderen waren vor allem im privaten und gesellschaftlichen Bereich zu finden, und die Länge der Studienzeit wurde früher auch unter diesem Aspekt eines Moratoriums gesehen. Die Abhängigkeit von Stipendien und die verkürzte Studiendauer scheinen ein solches Moratorium zu verhindern, beziehungsweise die früher außer-universitären und gleichsam privaten Sozialisationsleistungen nun als pädagogisch geplante den Hochschulen zu überantworten. Dieses Problem, ob nämlich die Studienzeit nicht viel umfassendere Sozialisationsaufgaben hat, als sich im erfolgreichen Besuch von Vorlesungen und Seminaren ausdrücken kann, kann hier leider nur erwähnt werden. Unter dem Gesichtspunkt der Kostenfrage jedoch läßt sich dazu folgendes sagen: Entweder verweist man diese Frage wie früher in den Bereich der privaten und gesellschaftlichen Selbstorganisation der Studenten und beschränkt die Dienstleistungen der Hochschule auf das, was ohne sie nicht möglich ist, oder aber die öffentliche Hand erklärt sich zur Übernahme dieser zusätzlichen Personalkosten bereit; dann aber dürfen sie nicht einfach als Verteuerung der wissenschaftlichen Ausbildung deklariert werden. Allerdings müßte man sich auch hier wieder fragen, wieso solche zusätzlichen Kosten ausgerechnet bei den ohnehin schon privilegierten Studenten ausgegeben werden sollen, wenn für die anderen - die Hauptschüler, die Lehrlinge, die Fürsorgezöglinge - nicht einmal die notwendigsten Kosten für die Berufsausbildung aufgebracht werden. Wer kümmert sich im Ernst schon darum, ob diese zum Beispiel motiviert sind, einen Beruf zu erlernen? Und welcher Lehrling erhält schon einen zusätzlichen pädagogischen Service, wenn er unter sogenannten "Arbeitsstörungen" leidet?

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105. Zur Kritik am "Normenbuch" "Gemeinschaftskunde" (1977)


(In: Die Deutsche Schule, H. 3/1977, S. 164-168 = Vorabdruck aus: A. Flitner/D. Lenzen (Hrsg.): Abiturnormen gefährden die Schule. München 1977)
 
 

Die Intention des Normenbuches "Gemeinschaftskunde" (1) ist, "Aufgabenstellung und Leistungsbewertung im Abitur vergleichbar zu machen" (S. 10). Auf diese Weise soll wie bei den anderen Abiturfächern die Verteilung von Studienplätzen nach der Abiturnote gerechtfertigt werden, was voraussetzt, daß für ein und dieselbe Zensur überall im Bundesgebiet auch dieselbe Leistung erbracht werden muß. Das Problem der Vergleichbarkeit von Noten und Zensuren, insbesondere in solchen Fächern, bei denen es in erheblichem Maße auf Interpretation, also auf die subjektive Auswahl von Gesichtspunkten, Kriterien usw. ankommt, ist gerade in den letzten Jahren sorgfältig und umfangreich diskutiert worden und hat sich zumindest in einem gewissen Spielraum der Konkretion, der aber gerade für den Benoteten von Belang ist, als unlösbar erwiesen. Noten sind nun einmal notwendigerweise in einem gewissen Spielraum subjektiv bestimmt und infolgedessen nicht eindeutig "verwaltungsfähig". Das zeigt sich nirgends deutlicher als im wissenschaftlichen Bereich, wo zumindest die formalen Ansprüche wissenschaftlichen Arbeitens eindeutig scheinen, was sich jedoch in der Konkretion als nur abstrakt zutreffend erweist, weil sogar diese formalen Maßstäbe im konkreten Falle der Interpretation bedürfen. Was für wissenschaftliche Prüfungen und sogar für die wissenschaftliche Rezension gilt, muß erst recht für die Schule gelten.
 
 

Wie sucht nun das Normenbuch "Gemeinschaftskunde" dieses Problem der Vergleichbarkeit zu lösen? Zunächst wird eine allgemeine formale Struktur für die Bewertung entwickelt: Unterschieden wird zwischen "Inhaltsbezogenen Kenntnissen und Fähigkeiten" und "Methodenbezogenen Kenntnissen und Fähigkeiten". Diese werden in sich jeweils in drei "Lernzielkontrollebenen" unterteilt, die unterschiedlich bewertet werden. Für die inhaltliche Seite ist die Stufung "Wiedergabe des Gelernten" (Ebene I), "Selbständiges Erklären und Anwenden des Gelernten und Verstandenen" (Ebene II), "Urteilen, Hypothesen bilden, Alternativen entwickeln" (Ebene III). Ähnlich für den methodenbezogenen Aspekt: Kennen von Arbeitstechniken usw. (Ebene I), "Handhaben und Anwenden von Methoden und Arbeitstechniken" (Ebene II), "Methodenreflexion" (Ebene III).

Wer nur die Ebene I erreicht, soll nicht mehr "ausreichend" erhalten, für "gut" und "sehr gut" muß auch die Ebene III erreicht werden.

Diese Stufungen sind schon im Prinzip didaktisch problematisch. Sie unterscheiden etwas - und noch dazu in einer Rangfolge - was tatsächlich kaum zu unterscheiden ist. Wer z. B. "fachwissenschaftliche Begriffe" "wiedergeben" kann (Ebene I), der kann sie auch zum "selbständigen Erklären und Anwenden" benutzen (Ebene II) und müßte eigentlich auch "Hypothesen bilden" können (Ebene III) - es sei denn, man versteht unter "Wie-

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dergabe" eines Begriffs nur seine auswendig gelernte Formaldefinition. Ähnlich bei den "methodenbezogenen Kenntnissen und Fähigkeiten": kann man "Arbeitstechniken" "kennen" (Ebene I), ohne sie "handhaben" zu können (Ebene II), und was soll dann "kennen" heißen?

Ferner sollen die drei Lernzielkontrollebenen noch durch "lntensitätsgrade" (S. 12) präzisiert und differenziert werden, nach den Kriterien "Qualität, Quantität, Form der Darstellung". Hier nun ist der Interpretationsspielraum bereits so groß, daß die Autoren selbst einräumen, daß sich die "Intensitätsgrade" "nicht allgemein, sondern jeweils nur für eine bestimmte Aufgabe ausweisen" lassen (S. 12). Wer soll das aber nach welchen Kriterien so "ausweisen", daß dabei "Vergleichbarkeit" zustande kommt?

Noch größer werden die Schwierigkeiten, wenn die drei Lernzielkontrollebenen dann fachspezifisch präzisiert werden, z. B. für "Gemeinschaftskunde" (S. 22 f.). Wer "einen historischen oder aktuellen gesellschaftlichen Sachverhalt in seinen Erscheinungsformen beschreiben" kann (Ebene I), kann kein "ausreichend" mehr bekommen; wer "das vorgegebene Material an Hand begründeter Fragen in einen historischen oder aktuellen gesellschaftlichen Kontext einordnen" kann (Ebene III), kann dafür ein "sehr gut" bekommen. Mir ist wieder unklar, wie man Sachverhalte "beschreiben" kann, ohne sie in irgendwelche Kontexte "einzuordnen": was soll das denn dann für eine ,Beschreibung" sein? Dahinter steckt offensichtlich jene noch auf dem Wissensmonopol des Schulmeisters gegenüber den Kindern gegründete Vorstellung, daß man erst etwas lehrt, es dann abfragt ("Wiedergabe des Gelernten"), dann neues Material zur "Anwendung" gibt und schließlich irgendwann "Urteilen" und "Hypothesenbildung", also eigenständige intellektuelle Aktivität zuläßt. Das mag in manchen Fächern so nützlich sein, aber in einem Fach wie Gemeinschaftskunde geht ein solcher Aufbau und eine solche Bewertungsstruktur einfach am Schülerbewußtsein vorbei. Hier trifft der Unterricht immer schon auf komplexe Vorstellungs-, Sinn- und Urteilszusammenhänge, die er als solche gar nicht herstellen, sondern nur infrage stellen und differenzieren kann. Jede "Kenntnis" (Ebene I) von irgend etwas ist immer schon mit "selbständigem Erklären und Anwenden" (Ebene II) und erst recht mit "urteilen" (Ebene III) verbunden, das ist ja gerade der soziale Sinn und die soziale Funktion von "Kenntnissen".

In Wahrheit gibt es überhaupt keine Kenntnisse, die bloß "wiedergegeben" werden, einer solchen Täuschung kann man nur dadurch erliegen, daß man Situationen - z. B. im Unterricht (Abfragen isolierter Tatsachen) - herstellt, wo das scheinbar so ist. Sobald eine "Kenntnis" in eine soziale Kommunikation eingeht, wird sie "angewendet" - und erst recht, wenn irgendeine Aufgabe gestellt wird. Die blutleere Konstruktion der Lernzielkontrollebenen zerstört den vitalen Zusammenhang von Kenntnissen und Fähigkeiten, macht sie wieder zu "Schul-Kenntnissen" und geht somit wieder mit erschreckender Selbstverständlichkeit auf einen didaktischen Standard zurück, den man längst überwunden glaubte. Das Problem der Bewertung ist nicht auf diesen Lernzielkontrollebenen zu lösen, sondern nur auf der "Intensitätsebene", aber da ist den Autoren auch nicht mehr eingefallen, als daß die Maßstäbe der jeweiligen Aufgabe angepaßt werden müssen - was richtig ist, aber doch die Frage aufwirft, ob dann der ganze Aufwand des Normenbuches wirklich Sinn hat - es sei denn, man spekuliert darauf, in Zukunft bundeseinheitliche Abituraufgaben mit einem entsprechenden Bewertungsraster zu stellen; aber selbst dann würde nichts wirklich "vergleichbarer".

Mehr als die Hälfte des Textes ist mit "Aufgabenbeispielen für die schriftliche Prüfung" ausgefüllt. Abgesehen einmal davon, daß diese Beispiele zweckmäßigerweise weit entfernt sind von aktuellen Widersprüchen und Konflikten, sollte man sie sehr genau studieren; denn in ihrer Konkretion lassen sie erkennen, was auf die Lehrer und Schüler zukommen wird. Ich wähle ein Beispiel aus dem Fachaspekt "Geschichte" aus (S. 33 ff.).

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Vorgegeben sind zwei Texte zum Komplex "Imperialismus" (Liebknecht und Alldeutscher Verband). Vier Fragen sollen beantwortet bzw. bearbeitet werden. Nun bekommt nicht etwa die schwierigste Frage die meisten Punkte. Vielmehr werden sechzig Punkte vorweg auf die drei Lernzielkontrollebenen verteilt (beim "Grundkurs Geschichte" anders als beim "Leistungskurs"): Beim Grundkurs 30 % für Ebene I, 35 % für Ebene II und 25 % für Ebene III. Das führt dazu, daß man z. B. für eine Frage auf der Ebene I zehn Punkte ( = "Bewertungseinheiten"), für eine andere auf der Ebene III nur sechs Punkte erhält. Die Ebene II ist dreimal in diesen Fragen vertreten, erhält aber aus unerfindlichen Gründen (wegen der "Intensitätsgrade"?) ganz unterschiedliche Punktzahlen, nämlich fünf, zehn und sechs. Die sechzig möglichen Punkte werden den Schulzensuren eins bis sechs zugeordnet, ab zwanzig Bewertungseinheiten gibt es "ausreichend", ab fünfzig "sehr gut".

Das Kernproblem steckt aber in der Zuordnung der vier Bearbeitungsfragen zu den drei Lernzielkontrollebenen; diese Zuordnungen muß man wenn schon nicht als willkürlich, so doch zumindest als uneinsichtig ansehen. Wer z. B. "die politischen Richtungen" in den Texten "kennzeichnen" kann, bewegt sich nur auf der Ebene I ("Wiedergabe des Gelernten"); tatsächlich jedoch muß er doch wohl Wissen "anwenden" (Ebene II), weil er Begriffe mit einem Sachverhalt in Beziehung setzen muß. Für die "Untersuchung der in den Texten enthaltenen Wertmaßstäbe und Denkansätze" und für ihre "Beurteilung" gibt es Punkte auf der Ebene III, ebenso noch einmal, wenn man dabei "seine Kriterien" angibt. Geht man davon aus, daß das jeweils Schwierigere auch höhere bewertet werden soll, dann bleibt die Zuordnung hier undurchschaubar; ich finde jedenfalls fast durchweg das als schwieriger, was auf der Ebene I bewertet wird.

Die Autoren betrachten es als eine "wesentliche didaktische Zielsetzung", "die Urteilsfähigkeit des Schülers zu entwickeln" (S. 12), weshalb das Urteilen auch auf der Ebene III bewertet wird. Obwohl die dafür entwickelten Maßstäbe, z. B. "erworbene Kenntnisse und erlangte Einsichten bei der Begründung eines selbständigen Urteils einbeziehen", ein sachlich fundiertes Urteilen zu meinen scheinen, legt unser Prüfungsbeispiel - wie die anderen auch - die Vermutung nahe, es ginge doch letzten Endes wieder um "Gesinnungsbekenntnisse", die nicht durch die Texte, sondern nur aus ihrem Anlaß erfolgen sollen. Welche Ebenen von "Wertmaßstäben" und "Denkansätzen" sind für unser Beispiel gemeint? Der dazu gehörende Satz aus den Bewertungskriterien lautet: "Normen, Konventionen, Zielsetzungen und Theorien reflektieren und auf Prämissen befragen" (S. 11). Aber das kann ideologiekritisch geschehen, oder vom Standpunkt der historischen Situation aus, oder moralisch, oder von gegenwärtigen Vorstellungen aus, und ein "Kriterium" für das Urteil läßt sich immer nennen. Wenn "selbständiges Urteilen" die höchste Bewertungsebene erhält, besteht nicht nur die Gefahr, daß es sich von der Analyse der Sachverhalte löst, sondern auch die andere, daß dieses Urteilen nach der (individuellen oder regionalen) Gesinnungskonstellation bewertet wird, also in Bayern anders als in Hamburg, und daß unter der Hand das, was zur Selbständigkeit des Schülers erdacht wurde, zu seiner Gesinnungskontrolle genutzt wird - solange jedenfalls die Kriterien nicht genauer fixiert sind. Angesichts solcher Aussichten wäre es besser, auf das "selbständige Urteilen" entweder ganz zu verzichten und besondere analytische Fähigkeiten auf der Ebene III zu bewerten, oder es an strenge methodische Normen zu binden.

Aus diesem Beispiel und auch aus den anderen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, ist zu ersehen: nicht nur die "Intensitätsgrade" können nicht allgemein vorgegeben, sondern müssen der Eigenart der Aufgabe angepaßt werden, vielmehr gilt dies auch schon für die Lernzielkontrollebenen. Erscheint der vorliegende Entwurf in seinen prinzipiellen Teilen (S. 10-13) noch einigermaßen plausibel, so wird die Konkre-

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tisierung unerträglich. Sie verspricht etwas, was sie nicht halten kann: Einheitlichkeit der Maßstäbe und Vergleichbarkeit der Bewertung. An allen wichtigen Stellen des Entwurfes finden sich willkürliche Setzungen, die nur durch schein-rationale Argumente verdeckt werden: Pure Setzung ist die Aufstellung der drei Lernzielkontrollebenen und ihre Hierarchisierung; die Anwendung von Intensitätsgraden sogar nach Meinung der Autoren; die Zuordnung von Aufgaben zu diesen Ebenen; die Zuordnung von "Bewertungseinheiten" zu diesen Aufgaben und schließlich die ganze Bewertung selbst. Das Problem ist und bleibt, daß jede konkrete Bewertung in einem gewissen Spielraum unzuverlässig und "ungerecht" ist, weil sie unter anderen Umständen, an einem anderen Ort, an einem anderen Tag, bei einem anderen Prüfer, bei einem anderen Unterricht usw. zumindest innerhalb dieses Spielraums auch anders ausfallen könnte. Wenn die Kultusminister und ihre Bürokratien trotzdem nicht davon abzubringen sind, aus diesen Zensuren unmittelbare Rechtsfolgen wie Einstellungen und Zulassungen abzuleiten, dann müssen sie das als pure politische Setzung vertreten und aufhören, sich mit pseudowissenschaftlichen Rechtfertigungen aus der Affäre zu ziehen. Diese Kritik richtet sich in erster Linie gegen den Zweck, dem das Normenbuch dienen soll, keineswegs gegen seinen Text im Ganzen. Wäre sein Zweck, bundesweit allgemeine strategische Perspektiven für den politischen Unterricht zu geben und allgemeine Richtpunkte für die Prüfungen zu setzen - etwa im Sinne eines gemeinsamen Bestandteils der Richtlinien aller Bundesländer -, dann wären zumindest der prinzipielle Teil und zum Teil auch die fachspezifischen Partien dafür sehr nützliche und wohl auch weitgehend konsensfähige Diskussionsgrundlagen. Erst der Anspruch, dies mit "vergleichbaren" Bewertungen zu verbinden, läßt diesen Text in eine neue Qualität umschlagen.

Bringt dieses Normenbuch auch nichts für eine bessere Vergleichbarkeit der Noten, so wird es, wenn es eingeführt wird, schwerwiegende Folgen für den politischen Unterricht haben:

1. Die drei Lernzielkontrollebenen werden sich als didaktische "Formalstufen" (Kenntnisse, Anwenden, Urteilen) etablieren und damit den didaktischen und methodischen Variationsreichtum - der ja auch ein Reichtum an Kommunikation ist - liquidieren. Der politische Unterricht wird wieder aus dem vitalen Lebenszusammenhang gerissen und zu einem "Wissen" führen, daß nur in der Schule und nur für ihre Prüfungen von Nutzen und Bedeutung ist.

2. Der politische Unterricht wird wieder in eine prinzipielle und nicht etwa nur methodische Distanz zu den wirklichen Lebensproblemen der wirklichen Menschen gehen, weil sonst der Interpretationsspielraum so groß würde, daß nicht einmal der Schein einer "vergleichbaren" Bewertung mehr gewahrt werden könnte; die Prüfungsbeispiele im Normenbuch sind nicht zufällig inaktuell und im übrigen auch ziemlich uninteressant.

3. Nach dem Grundsatz, daß die Art der Prüfung auch die Art des Unterrichts bestimmt, wird der Unterricht die Themen danach auswählen und sie so bearbeiten, daß sie dem Prüfungsverfahren entsprechen: Es wird darauf geachtet werden, daß der Unterricht ständig die drei Lernzielkontrollebenen berücksichtigt und danach seine Gegenstände definiert; denn diese Lernzielkontrollebenen "dienen nicht nur als Maßstab für die Leistungsbeurteilung, sondern geben auch Hilfen für die Aufgabenstellung" (S. 12). Dies wird nicht nur für die Prüfung gelten, sondern auch für den Unterricht. Zumindest ein großer Teil des Unterrichts wird mit dem Üben prüfungsrelevanter Stoffe in prüfungsrelevanten Situationen ausgefüllt sein.

4. Dies alles wird dazu führen, daß sozusagen die Gleichgültigkeit gegenüber den Inhalten administrativ verordnet wird. Die Stoffe und Gegenstände, zerstückelt und parzelliert nach den Maßstäben der Prüfungsverfahren, werden zu einem äußerlichen Ding,

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belanglos für die eigene Lebensgeschichte, getrennt von der eigenen Erfahrung und ihrer Bearbeitung: schulisches Lernen wird nur noch als Variante der industriellen Produktion zugelassen, nicht mehr wenigstens auch als Material und Gegenstand zur Herausbildung der Identität.

5. Es steht zu befürchten, daß das uneinsichtige Bemühen, aus den Zensuren mehr herauszuholen, als sie nun einmal hergeben können, die verbohrte bürokratische Logik dazu treiben wird, bundeseinheitliche Prüfungsaufgaben mit bundeseinheitlichen Bewertungsmaßstäben zu stellen; aber auch das wird noch nicht "vergleichbar" genug sein, weil dann ja jeder Schüler vorher eigentlich auch genau das gleiche gelernt haben müßte. Deshalb wäre der nächste logische Schritt der bundeseinheitliche Lehrplan.

Zwei Hoffnungen bleiben: Erstens könnten die Kultusminister einsehen, daß sie zu immer absurderen Konsequenzen gezwungen werden, wenn die erste Fehlentscheidung in dieser Sequenz nicht korrigiert wird, nämlich die Abiturnote in einem solchen Ausmaß als Zulassungskriterium zu verwenden. Zweitens ist das vorgeschlagene Verfahren so kompliziert, daß man nach den Erfahrungen mit ähnlich komplizierten Curriculum-Modellen davon ausgehen kann, daß seine Durchsetzung noch Jahre dauern wird. Es ist von einer solchen Perfektion getragen, daß es seine Realisierung einstweilen selbst verhindert. Je genauer die "Bewertungseinheiten" präzisiert werden, um so weniger durchführbar wird das Verfahren werden.

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Anmerkungen:

(1) Beschlüsse der Kultusministerkonferenz: Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung. Gemeinschaftskunde. Neuwied 1976.


 
 

106. Die Aufgaben der außerschulischen Bildungsstätten im Bildungssystem (1977)


(In: deutsche jugend, H. 1/1977, S. 22-29)

(Der Beitrag ist die erweiterte Fassung eines Vortrags bei der Jahrestagung 1976 des Arbeitskreises Deutscher Bildungsstätten).
 
 

Die Aufgaben der außerschulischen Bildungsstätten allgemein zu bestimmen ist deshalb schwierig, weil die Bildungsstätten - etwa im Unterschied zum formellen Schulwesen - für ganz verschiedene Aufgaben gegründet und eingerichtet wurden, zum Teil sich sehr speziellen und begrenzten Aufgaben widmen und ihre inhaltlichen Schwerpunkte weitgehend auf spezifische Teilnehmergruppen und Altersstufen (Erwachsene oder Jugendliche) beziehen. Zudem fühlen sich einige Bildungsstätten bestimmten gesellschaftlichen Interessengruppen verbunden (Parteien, Gewerkschaften, Kirchen usw.), während andere gerade ihre Unabhängigkeit von solchen Bindungen als ihre besondere Chance ansehen. Es hätte wenig Sinn, die folgenden Überlegungen nur auf einen bestimmten Verband wie etwa den Arbeitskreis Deutscher Bildungsstätten zu beziehen, denn dafür sind die verbandlichen Gruppierungen zu sehr zufällig entstanden, jedenfalls waren sie kaum das Ergebnis systematischer theoretischer Überlegungen. Gemeint sind deshalb im folgenden alle Bildungsstätten außerhalb des formellen Schul- und Hochschulwesens.

Soll unter diesen Voraussetzungen eine allgemeine Beschreibung versucht werden, die für alle Bildungsstätten gelten soll, dann müßte diese Beschreibung recht abstrakt und deshalb wenig nützlich ausfallen. Zweckmäßiger erscheint es mir deshalb, die Bildungsstätten als eine Institution anzusehen, deren Aufgaben prinzipiell zu beschreiben sind, aber davon auszugehen, daß die einzelnen Bildungsstätten diese Aufgaben nicht alle in der gleichen Weise und im gleichen Umfang wahrnehmen können, sondern sich Schwerpunkte setzen. Der Nutzen solcher Überlegungen für die einzelne Bildungsstätte könnte dann darin bestehen, daß sie ihre spezifischen Schwerpunkte in einem größeren Zusammenhang zu interpretieren und zu begründen vermag.

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Die folgenden Überlegungen können nur eine erste mehr oder weniger additive Skizze sein, die sicher noch eingehender diskutiert werden muß, um sie hinreichend präzisieren zu können.
 
 

Der spezifische Standort im Bildungssystem

Über die Aufgaben der Bildungsstätten läßt sich nur sprechen - so meine Ausgangsthese - wenn man sie in Bezug setzt zum formellen Bildungswesen, also zum System des Schul-, Hochschul- und Berufsbildungswesens. Eine Möglichkeit zur "autonomen" Selbstdefinition, also zu einer Aufgabenbestimmung lediglich aus der Perspektive der eigenen Tätigkeit heraus, sehe ich nicht. Das formelle Bildungssystem bleibt in dieser Gesellschaft der primäre bildungspolitische Faktor, schon weil in ihm die grundlegenden Qualifikationen erworben werden und die entscheidenden Verteilungsprozesse auf Status und Sozialchancen hin stattfinden. Daran gemessen sind die Bildungsstätten - wie das ganze außerschulische Bildungswesen überhaupt - sekundär. Würde das formelle Bildungssystem alle notwendigen Bildungsangebote von sich aus machen können, wären die Bildungsstätten überflüssig. Dies kann jedoch nur eine theoretische Annahme sein, denn eine solche Möglichkeit ist weder praktisch denkbar noch wünschenswert. Im Gegenteil: Die Bildungsmöglichkeiten des formellen Systems wären bei einer solchen Ausweitung eher geringer, schon weil es die notwendigen inhaltlichen, organisatorischen und professionellen Differenzierungen gar nicht leisten kann, ohne selbst zum Chaos zu werden. Daß also die außerschulischen Bildungsstätten nur sekundäre Bedeutung haben, heißt eben nicht, daß sie einfach abschaffbar wären, sondern nur, daß sie ihre Aufgaben bestimmen müssen aus der Differenz zwischen dem, was das formelle System leistet, und dem, was darüber hinaus und im Ganzen für eine wünschenswerte Sozialisation nötig wäre. Insofern lassen sich die Aufgaben der Bildungsstätten nicht ein für allemal definieren, vielmehr sind sie historischen Veränderungen unterworfen - je nachdem, wie sich die oben genannte Differenz jeweils darstellt. Allgemein läßt sich vielleicht sagen, daß die Bildungsstätten gegenüber dem formellen Bildungssystem ausgleichende, ergänzende, korrigierende, beratende und innovierende Funktionen haben.

Dieser Überlegung liegt die Annahme zugrunde, daß unter modernen gesellschaftlichen Bedingungen die Sozialisation eines Menschen nicht mehr von einer Bildungsinstitution - zum Beispiel von der Schule - im Ganzen geplant und organisiert werden kann, daß vielmehr jeder einzelne Faktor nur begrenzte Leistungen für die Sozialisation erbringen kann, daß die einzelnen Faktoren nicht gleichsinnig, sondern, faktisch wie normativ, pluralistisch wirken, und daß deshalb die Gewinnung von Autonomie und Identität nur als je einzelne Leistung der Individuen in einem Verfahren von Anpassung und Distanz den Sozialisationsanforderungen gegenüber zu erreichen ist (vgl. dazu meinen Beitrag "Pluralistische Sozialisation und das Verhältnis von Schule und Sozialpädagogik", in: deutsche jugend, Heft 8/1973). Unter diesen Annahmen hat es dann auch Sinn, die Leistungen der außerschulischen Bildungsstätten von den Defiziten bzw. reduzierten Chancen und Aufgaben des formellen Bildungssystems her zu bestimmen. Sie können in einem erweiterten Sinne als gesellschaftliche Bedürfnisse verstanden werden, die als pädagogische Aufgaben auf die Bildungsstätten zukommen.

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Die konkreten Aufgaben in der gegenwärtigen Situation

Gegenwärtig lassen sich diese Aufgaben etwa folgendermaßen konkretisieren, wobei die Reihenfolge keine Rangfolge ist:

1. Eine erste Aufgabe besteht darin, berufliche Zusatzqualifikationen anzubieten. An und für sich ist das formelle Bildungssystem für die berufliche Qualifizierung zuständig. Spezielle Zusatzqualifikationen jedoch, vor allem für bestimmte Minderheiten und für voraussichtlich begrenzte Zeit können meist in diesem System wegen mangelnder Flexibilität nicht oder jedenfalls nicht schnell genug arrangiert werden. Beispiele wären etwa beruflich-soziale Eingliederungsmaßnahmen für Deutsche aus Polen, Kurse zur Vorbereitung auf die Abiturprüfung oder verschiedene Qualifizierungsangebote der Volkshochschule. Auch die Versuche, "Freizeitpädagogen" als weitere Spezialisierung allgemeiner pädagogischer Studiengänge auszubilden, wären hier zu nennen. Möglicherweise ergeben sich aus der strukturellen Arbeitslosigkeit demnächst weitere Aufgaben. Überhaupt scheint im ganzen Bereich der Jugend- und Erwachsenenbildung diese Aufgabe einigermaßen vernachlässigt zu sein. Zum Beispiel wären, wenn die geplanten Reformen der Jugendhilfe verwirklicht werden, derartige Angebote unumgänglich. Wahrscheinlich wird in Zukunft - der gegenwärtigen frühzeitigen Spezialisierung zum Trotz - die pädagogisch-berufliche Qualifikation zunächst breit und allgemein sein müssen, um dann für bestimmte Tätigkeiten durch zusätzliche spezielle Qualifikationen ergänzt zu werden.

2. Davon zu trennen wären die Aufgaben der Fortbildung, deren Notwendigkeit nicht weiter begründet werden muß. Hier handelt es sich nicht um zusätzliche Qualifikationen, sondern um die Ergänzung und Vertiefung der bereits erworbenen, vor allem auch um die Vermittlung neuer wissenschaftlicher und methodischer Erkenntnisse. Gemeinhin bezieht sich "Fortbildung" einseitig auf die Verbesserung der beruflichen Qualifikationen; jedoch geht es im Prinzip genauso um die Erweiterung der politischen und kulturellen Kompetenz, und zwar im Prinzip für alle Bürger, wobei nur die Frage ist, inwieweit diese Aufgabe am Wohnsitz oder in zentralen Bildungsstätten geleistet werden muß.

3. Soweit die Bildungsstätten bestimmten gesellschaftlichen Gruppen und Positionen nahe stehen, haben sie die Aufgabe, partikulare Perspektiven der politischen (und auch der kulturellen) Bildung öffentlich zu formulieren und zu vertreten. Da das öffentliche Schulwesen nur solche Konzepte zulassen kann, die auf einem möglichst breiten Konsens beruhen, kann es partikulare Standpunkte und Perspektiven als solche nicht vertreten, sondern allenfalls als "Stoff" bearbeiten. Andererseits muß es möglich sein, in einer pluralistischen Gesellschaft auch diejenigen Perspektiven sich entfalten zu lassen, die innerhalb der Spannbreite des Grundgesetzes zulässig sind. Das hat nichts mit einseitiger Parteilichkeit oder Schulung oder gar mit "Indoktrination" zu tun, eher mit der Option für bestimmte "erkenntnisleitende Interessen". Aber auch denjenigen Bildungsstätten, die nicht unmittelbar einer politischen Partei oder einem Verband nahestehen, muß zugestanden werden, partikulare, also nicht unbedingt "konsensfähige" Konzepte der politischen Bildung zu erproben. Es liegt auf der Hand und ist auch durch Konflikte in der Praxis mannigfach bewiesen, daß ein solches Selbstverständnis immer politisch gefährdet ist. Das liegt nicht nur daran, daß politische Mächte

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immer dazu neigen, das, was nicht mit ihnen übereinstimmt, zurückzuweisen; eine Rolle spielt vielmehr auch, daß die "öffentliche Meinung" über die besonderen Aufgaben, Bedingungen und Strukturen der außerschulischen Bildungsarbeit nicht genügend informiert ist, diese vielmehr an den Maximen der Schule mißt.

4. Andererseits müssen die Bildungsstätten aber auch Begegnungen arrangieren können zwischen einander verfeindeten (politischen, wissenschaftlichen, ideologischen) Positionen. Ihre Aufgabe ist also auch, Polarisierung zu mildern. Nach dem Zweiten Weltkrieg spielte diese Konzeption in einigen Bildungsstätten - vor allem in den Jugendhöfen - eine zentrale Rolle. Damals ging es um die Begegnung nicht nur von Mitgliedern verschiedener Parteien und Verbände, sondern auch um die Milderung von Spannungen zwischen Einheimischen und Flüchtlingen, Kriegsgeneration und nachwachsender Generation, von Nazis und ihren Opfern. Sicher darf man die damalige Leistung der damit befaßten Bildungsstätten schon aus quantitativen Gründen nicht zu hoch einschätzen, ihre Bedeutung lag wohl vor allem in der psychologischen Tatsache, daß es sie überhaupt gab und daß man sie in Anspruch nehmen konnte. Bei diesen "Begegnungen" beschränkten sich die Bildungsstätten auf das Arrangement, wozu auch bestimmte formelle Regelungen für die Gesprächsleitung und Gesprächsführung gehörten.

Gegenwärtig - im Zeichen des Radikalen-Erlasses und der teils erzwungenen, teils freiwilligen "Ausbürgerung" von vor allem "linken", im Prinzip aber auch von "rechten" Gruppen von Bürgern - scheinen die Bildungsstätten diese gewiß ungemein schwierige, aber gesellschaftspolitisch ebenso wichtige und ständig von politischer Diskriminierung bedrohte Aufgabe nicht wahrnehmen zu können oder zu wollen. Vielleicht ist sie einfach in Vergessenheit geraten, vielleicht trägt aber auch eine zu engstirnige Professionalisierung in den Bildungsstätten dazu bei, die leicht dazu neigt, das gesellschaftliche Umfeld der Bildungsstätte lediglich aus dem Blickwinkel der professionellen Interessen der Mitarbeiter zu sehen. Dabei kann es eigentlich kaum Zweifel daran geben, daß der Radikalenerlaß - selbst problematisch genug - kein einziges Problem wirklich lösen kann, am wenigsten die Frage, ob die Gesellschaft im Ernst sich mit der "Ausbürgerung" zufrieden geben kann, oder ob nicht den - in der Regel ja relativ jungen Bürgern - eine "Rückkehr" in den pluralistischen Spielraum der Gesellschaft ständig angeboten werden muß, eine Rückkehr, die vernünftigerweise nicht als Unterwerfung verstanden werden kann. Die sich dabei ergebenden Schwierigkeiten wären nicht gering, denn diese Gruppen wählen zum Teil bewußt die subkulturelle Isolierung, betrachten die anderen mehr oder weniger als Publikum, das für ihre Auffassungen agitiert werden soll, sind manchmal nur schwer dazu bereit, die eigenen Auffassungen für Argumente zur Disposition zu stellen und würden den "Erfolg" eines öffentlichen Auftretens in erster Linie an der Zahl der dazugewonnenen Anhänger messen. Alle diese Voraussetzungen wären für eine offene Diskussion mit anderen Positionen zunächst einmal hinderlich. Andererseits aber wird die selbstgewählte Außenseiterposition von den politischen Gegnern auch eifrig bestätigt und verhärtet. Offizielle politische Repräsentanten sehen wohl Schwierigkeiten darin, mit "Verfassungsfeinden" sich an einen Tisch zu setzen, und in welche politischen Konflikte sich eine Bildungsstätte begeben würde, wenn sie solchen Gruppen ohne Vorbehalt - das wäre nämlich die unerläßliche Voraussetzung für alle Gesprächsteilnehmer - Gelegenheit gäbe, anderen ihre Auffassungen darzulegen, läßt sich leicht ausmalen - ganz

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abgesehen davon, daß zum Beispiel nach dem Niedersächsischen Verfassungsschutzgesetz zumindest unklar ist, ob sogenannte "verfassungswidrige" Äußerungen auch bei einer solchen Gelegenheit nicht den zuständigen Behörden gemeldet werden müßten. Wie wir aber aus der Entstehung "krimineller Karrieren" wissen, ist es gerade dieses mehr oder weniger umfassende System von Sanktionen und Diskriminierungen, das die ursprüngliche Abweichung erst auf Dauer stellt und verfestigt, und ein solcher Prozeß kann nicht im wohlverstandenen Interesse von Staat und Gesellschaft liegen.

5. Weniger brisant, aber nicht minder wichtig ist die Aufgabe, Kommunikationen zwischen Trägern von institutionellen Funktionen zu ermöglichen, die zwar an der gleichen "Sache " arbeiten, aber institutionell voneinander getrennt sind. Hier geht es darum, die institutionelle Arbeitsteilung, die bis zu einem gewissen Grade nötig ist, auszugleichen und zu korrigieren. Die Notwendigkeit dazu ergibt sich daraus, daß zum Beispiel jeder Berufszweig, der es in irgendeiner Form mit Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen oder mit besonderen Gruppen von ihnen zu tun hat, nur jeweils besondere Aspekte seines Handlungszusammenhangs, nicht aber die Komplexität der menschlichen Existenz im Ganzen sieht, auf die jener sich bezieht. Der spezialisierte Handlungsaspekt wirkt sogar zurück auf die jeweiligen Ausbildungskonzeptionen. Mit dem "auffälligen" Kind oder Jugendlichen zum Beispiel befassen sich Wissenschaftler, Lehrer, Sozialarbeiter, Heimerzieher, Verwaltungsbeamte, Therapeuten und im weiteren Sinne auch Richter und Vollzugsbeamte. In der Praxis ergeben sich bekanntlich häufig Kompetenzschwierigkeiten und Mißverständnisse in der Kooperation. Nicht nur diese zu mildern, wäre die Aufgabe entsprechender Veranstaltungen, sondern es gilt auch, allgemein Lernprozesse für alle Beteiligten zu ermöglichen, die primär auf dem Ausgleich unterschiedlicher Erfahrungen beruhen und weniger auf der systematischen Belehrung etwa durch Referate von Wissenschaftlern. Im Gegenteil: Bei einer solchen Teilnehmerstruktur würden eher die Praktiker die Referenten sein etwa im Sinne knapper, aus der Erfahrung entspringender Problemskizzen. Die didaktische Grundlage wäre also das Ensemble unterschiedlicher Erfahrungen von der gleichen "Sache". In mancher Hinsicht dürfte dieser Typ von Fortbildungstagung bessere Ergebnisse haben als der "klassische" Typ, der auf dem Prinzip von Referat und Diskussion beruht. Andererseits dürfte es in vielen Fällen Schwierigkeiten bereiten, für diesen Tagungstyp Fortbildungsurlaub zu erhalten, weil die Anstellungsträger dazu neigen, die Fortbildungsinhalte entweder selbst zu bestimmen oder zumindest eine berufsspezifische Zusammensetzung des Teilnehmerkreises zu fordern.

6. Die Bildungsstätten haben ferner die Aufgabe, Modelle für neue (bzw. alte, sozusagen "vergessene") Bildungsaufgaben zu entwickeln, die im Rahmen des formellen Bildungssystems vernachlässigt werden bzw. werden müssen. Bis Anfang der sechziger Jahre füllten einige Bildungsstätten etwa die Lücke, die der politische Unterricht in den Schulen hinterließ. Didaktisch-methodische Modelle für einen modernen politischen Unterricht wurden in einigen Bildungsstätten entwickelt und drangen von daher allmählich in die Schulen ein. Inzwischen scheint der politische Unterricht seinen Platz an den Schulen gefunden zu haben, und es ist die Frage, ob die Bildungsstätten weiterhin in dem Umfang wie früher Lehrgänge zur politischen Bildung anbieten müssen, zumal die didaktisch-methodischen Variationsmöglichkeiten offenbar weitgehend durchgespielt sind und Innovationen gegenwärtig nicht in Sicht sind. Demgegenüber hat das formelle Bildungswesen - also die Schule - in den letzten Jahren eine

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Reihe von Bildungsaufgaben teils vernachlässigt, teils unter anderen Gesichtspunkten subsumiert. So ist etwa unter der Vorherrschaft beruflicher Qualifikationsgesichtspunkte eine Reihe von kulturellen Kompetenzen zurückgedrängt worden. Was man zusammenfassend vielleicht "Freizeit- und Konsumerziehung" nennen könnte, scheint wieder auf einen früheren Ausgangspunkt zurückgeworfen zu sein. Freizeitbildung, Konsumbildung, literarische Bildung, Fernsehbildung und anderes mehr warten nach wie vor auf überzeugende didaktische Modelle, das heißt auf solche, die durch Einsichtigmachen systematischer Erklärungszusammenhänge und als dramaturgische Modelle die Partizipationsmöglichkeiten erweitern und aufklären. Dazu kommen neue inhaltliche Aufgaben, für die didaktisch-methodische Modelle entwickelt werden müssen: Gesundheitslehre zum Beispiel und eine Erziehungslehre für nichtprofessionelle Erzieher, etwa für Eltern.

7. Sieht man nicht primär auf den Inhaltsaspekt, sondern auf den Beziehungsaspekt, also auf die kommunikativen Dimensionen, dann besteht für die nahe Zukunft eine wichtige Aufgabe darin, alternative Formen von "Leistung" zu entwickeln. Im formellen Bildungswesen setzen sich nicht nur steigende, sondern für die Persönlichkeitsentwicklung auch höchst einseitige Leistungsanforderungen durch. Als Gegengewicht und Korrektur dazu haben die Bildungsstätten die Aufgabe, andere Formen von Leistung erfahrbar zu machen, zum Beispiel solidarisches statt nur individuell konkurrierendes Bearbeiten von Problemen; statt entfremdetem Lernen für äußere Zwecke "Bildungslernen", das heißt solches, das dem eigenen Vergnügen und der Befriedigung eigener Bedürfnisse dient; statt technokratisch-curricularer Lernsequenzen spielerische, ironische ästhetische Bearbeitung von Problemen; statt eindimensionaler, streng zweckgerichteter Lernorganisationen die Wiederbelebung kommunikativinformeller Problemfindungen und Problembearbeitungen usw. Allgemein gesagt geht es darum, die ganze Bandbreite unterschiedlicher, aber pädagogisch relevanter Kommunikationen erfahrbar zu machen, die immer schon und gegenwärtig erst recht im zweckgerichteten schulischen Lernen enorm reduziert werden. In diesem Punkte darf man sich nicht von der Fülle reformpädagogischer Neuerungen wie Arbeiten in kleinen Gruppen usw. täuschen lassen. Auch diese Formen setzen die vorherrschende, vom Lehrer und seinen inhaltlichen Aufträgen diktierten kommunikativen Grundstrukturen nicht außer Kraft, sondern verschleiern sie nur oder variieren sie allenfalls.

8. Vor allem diejenigen Bildungsstätten, die wie die Jugendbildungsstätten einen bestimmten fachlichen Bereich repräsentieren ("Jugendarbeit") haben die Aufgabe, die in ihrem Mitarbeiterstab gesammelten Erfahrungen und wissenschaftlichen Kenntnisse als Beratung für die pädagogische Basis anzubieten.

9. Das gilt auch und gerade für die Unterstützung neuer Initiativen "an der Basis". Eine Bildungsstätte kann solchen Initiativen (etwa der "Jugendzentrumsbewegung") zu einem Erfahrungsaustausch verhelfen, selbst Rat und Informationen anbieten und damit eine Plattform zur Klärung der pädagogischen und politischen Probleme wie auch eine gewisse öffentliche Reputation verschaffen. Wenn man davon ausgeht, daß Innovationen im Bereich der Jugend- und Erwachsenenbildung nötig sind, muß man andererseits bedenken, daß diese angesichts der hochgradigen Verwaltung und Reglementierung von vornherein mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen haben und angesichts des auf ihnen lastenden Drucks durch Einseitigkeiten und Fehler gefährdet

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sind. Als Beispiel dafür lassen sich die Jugendzentren anführen. Um solche Fehler zu vermeiden, und um andererseits aber auch Selbstbewußtsein gegenüber den Schwierigkeiten und Widerständen zu gewinnen, ist die Hilfe, die eine Jugendbildungsstätte bieten kann, von großer Bedeutung.

Auf eigenem Weg

Zusammenfassend läßt sich sagen: Beschreibt man - wie hier versucht wurde - die Aufgaben der Bildungsstätten nicht nur aus ihrer eigenen Perspektive, also aus dem Blickwinkel dessen, was sie jeweils tun, sondern von den "objektiven" gesellschaftlichen Bedürfnissen her, die vorzugsweise oder gar nur von den Bildungsstätten aufgegriffen werden können, dann ergibt sich eine ziemliche Bandbreite von Funktionen, die selbstverständlich nicht in vollem Umfang von jeder einzelnen Bildungsstätte wahrgenommen werden können. Andererseits ist zu beobachten, daß auch die an und für sich flexiblen Bildungsstätten die verständliche Neigung haben, bestimmte Angebote, die sie seit langer Zeit machen und mit denen sie sich mehr oder weniger stark identifizieren, "auf Serie legen" und so zu einem schul-ähnlichen Gesamtprogramm kommen, das den Blick für andere, vielleicht wichtigere Aufgaben verstellen kann. Manchmal leiden die Mitarbeiter zum Beispiel unter der "Kurzzeitigkeit" der Lehrgänge und wünschen sich eine möglichst lange "Nacharbeit" mit ihren ehemaligen Teilnehmern. Dahinter steckt eine an schulischen Bildungsgängen gewonnene Vorstellung, pädagogisch wertvoll sei eine Arbeit nur, wenn sie einen möglichst langen Einfluß auf den Bildungsgang der Partner nehmen könne; dies aber wäre eine illusionäre Vorstellung. Die Kurzzeitigkeit der Bildungsarbeit in einer Bildungsstätte ist nicht nur eine leider nicht zu umgehende äußere Beschränkung, sie definiert vielmehr auch die spezifischen Chancen. In den einleitend genannten Leitkategorien für die Arbeit der Bildungsstätten (ausgleichen, ergänzen, korrigieren, beraten, innovieren) ist implizit auch die Kurzzeitigkeit als wesentliches äußeres Merkmal der Arbeit enthalten wie andererseits auch die meinen Darlegungen zugrunde liegende Hauptthese, daß gemessen am formellen Bildungssystem die Bildungsstätten eine sekundäre Funktion haben.

Das professionelle Bewußtsein derjenigen, die in einer Bildungsstätte arbeiten, empfindet nicht nur leicht diese Begrenzung als Hindernis, sie vermag sich wohl auch schwer auf Kommunikationsformen einzustellen, die vom üblichen Lehr-Lernarrangement abweichen, oder gar darauf, sich weniger als "Beeinflusser" der Teilnehmer denn als Dienstleistung für deren Kommunikationen und überhaupt für deren Bedürfnisse zu verstehen. Die relative Zurücknahme eigener Erwartungen, Intentionen, Identifikationen und Affekte, die im Begriff der pädagogischen Dienstleistung gefordert ist, fällt allen pädagogischen Berufen schwer.

Die Bildungsstätten aber sind öffentliche Dienstleistungen - gleichgültig, wer ihr Träger ist, und sie sind zu teuer, als daß sie lediglich den Wünschen und Absichten der in ihr Arbeitenden dienen könnten. Das öffentliche Ansehen der Bildungsstätten und damit die Bereitschaft sie zu finanzieren, kann auf die Dauer nur darauf beruhen, daß sie nicht spezialistische, mehr oder weniger schulähnliche Einrichtungen sind mit begrenzten Angeboten und begrenzt definiertem Teilnehmerkreis, sondern daß sie sich als öffentliche Dienstleistung profilieren können, die für jedermann einsichtige gesell-

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schaftliche Bedürfnisse aufgreift. Der Wert einer Bildungsstätte bemißt sich nicht nur nach dem, was sie selbst lehrt, sondern mehr noch nach dem, was sie darüber hinaus möglich macht.

Geht man davon aus, daß zumindest im Prinzip die Bildungsstätten in der hier skizzierten Weise zu verstehen sind, dann folgt daraus, daß sie dies auch immer wieder öffentlich vertreten, also sich die politischen Bedingungen ihrer Arbeit immer neu verschaffen müssen. Denn die öffentliche Meinung ist, soweit sie überhaupt bildungspolitisch interessiert ist, einseitig auf das formelle Bildungswesen fixiert. Vielleicht mit Ausnahme der Volkshochschule gilt die Tätigkeit der außerschulischen Bildung eher als Luxus, den man in finanziell schwierigen Zeiten eben beschneiden muß. Was wichtig ist, gehört nach dieser Auffassung in die Schule, und die Versuche, Aufgaben der Jugendarbeit und bestimmte Aufgaben der Jugendhilfe in die (möglichst ganztägige) Gesamtschule zu integrieren, fanden kaum Widerstand, sondern sind einstweilen nur an finanziellen Problemen gescheitert.

Stärker als bisher müssen sich die Bildungsstätten offenbar in ihrer bildungspolitischen und sozialisationstheoretischen Bedeutung öffentlich darstellen, wozu nicht zuletzt auch die publizistische Transparenz ihrer Schwierigkeiten wie auch ihrer Erfahrungen gehört. Möglicherweise kann die hier vorgelegte Skizze so etwas wie ein erster Diskussionsentwurf für eine solche Selbstdarstellung sein.

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107. Die Schule als pluralistische Dienstleistung und das Konsensproblem in der politischen Bildung (1977)


(In: S. Schiele/H. Schneider (Hrsg.): Das Konsensproblem in der politischen Bildung. Stuttgart 1977, S. 56-69)
 
 

Der Begriff "Konsensfähigkeit" kann in mindestens zwei Bedeutungen verwendet werden:

a) Konsensfähig ist eine Entscheidung, der alle gesellschaftlichen Gruppen zustimmen.

b) Konsensfähig ist eine Entscheidung, der zwar nicht alle Gruppen zustimmen, die aber diejenigen, die nicht zustimmen, hinnehmen können (Zumutbarkeit).

Nur diese letzte Definition ist in politischen Zusammenhängen realistisch zu verwenden.

1. Das Grundgesetz und die Verfassungswirklichkeit lassen einen breiten pluralistischen Spielraum für unterschiedliche politische Ziele, Meinungen, Interessen und Perspektiven zu. Jede dieser zugelassenen Positionen hat das gleiche Recht, nicht nur sich zu verwirklichen, sondern auch die ihr dafür geeignet erscheinenden politischen Bildungsaufgaben zu bestimmen und zu veranstalten, z. B. im Rahmen von Bildungsstätten der Kirchen, Gewerkschaften usw. In dieser Hinsicht stellt sich das Konsensproblem praktisch nicht: es muß Konsens darüber herrschen, daß kein Konsens nötig ist - —auch nicht über didaktische und methodische Fragen (1).

2. Allerdings gilt das nur unter der Voraussetzung, daß jede dieser partikularen Gruppen auch die gleiche ökonomische Chance hat, im gesellschaftlichen Raum ihre spezififischen politischen Bedürfnisse zu realisieren. Das ist aber nur teilweise möglich, die meisten außerschulischen, partikularen Bildungsmaßnahmen müssen vom Staat in mehr oder weniger großem Umfang subventioniert werden. Damit taucht die Frage auf, ob und in welchem Umfang der Staat wegen seiner Subventionen auch das Recht hat, auf Ziele, Inhalte, Methoden usw. einer solchen partikularen Bildungsarbeit Einfluß zu nehmen. Die Antwort hängt davon ab, wie der Staat seine Subventionstätigkeit begründet

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und legitimiert. Etwas vereinfacht sind zwei Positionen denkbar:

a) Getreu dem klassischen "Subsidiaritätsprinzip" subventioniert der Staat "freie Träger", in deren inhaltliche Arbeit er nicht eingreift, die er vielmehr im allgemeinen akzeptiert, z. B. in dem Sinne, daß er generell partikulare politische Bildung für unterschiedliche Gruppen von Staatsbürgern für wichtig hält als Ergänzung zur schulischen politischen Bildung.

b) Oder der Staat definiert die ihm subventionswürdig erscheinenden Bildungsaufgaben auch im Sinne einer inhaltlichen Präzisierung selbst und gibt sie in dieser Form an die freien Träger ab, "beauftragt" diese gleichsam damit. Dann hat er eine Rechtfertigung zum Beispiel dafür, bestimmte Träger - etwa aus politischen Gründen - auszuschließen, auch wenn sie an und für sich in der vom Grundgesetz zugelassenen Bandbreite sich bewegen.

Offiziell gilt für die außerschulische politische Bildung die erste Version, also die der "Subsidiarität", in der Praxis jedoch hat sich eine Kombination von beiden Versionen durchgesetzt, was sich z. B. in der Sperrung von Bundesjugendplanmitteln für bestimmte politische Organisationen zeigt. Grund dafür ist nicht zuletzt, daß im Falle "mißliebiger" Träger die staatlichen Organe mit diesen von der parlamentarischen Opposition politisch identifiziert werden, weil sie öffentlich subventioniert werden.

3. Indem der Staat so verfährt und den Rahmen des Subsidiaritätsprinzips verläßt, das ja früher, in der Zeit der Weimarer Republik, einmal formuliert war als Toleranzofferte an die sogenannten "weltanschaulichen Grundrichtungen", macht er selbst den Konsens fragwürdig. Geht man nämlich davon aus, daß in solchen von der Subvention ausgeschlossenen Gruppen und Organisationen sich Teile der Bevölkerung zusammenfinden, die im Rahmen des Grundgesetzes eine berechtigte partikulare politische Perspektive vertreten, dann handelt der Staat parteilich gegen diese und damit implizit für andere Gruppen und Positionen, oder anders: er definiert selbst, was konsensfähig sein soll: denn ohne die Abhängigkeit von staatlichen Mitteln

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- nämlich auf eigene Kosten - könnten diese ausgeschlossenen Träger unbeanstandet ihre politische Bildungsarbeit veranstalten. Ihre Behinderung beruht also ausschließlich darauf, daß sie finanziell wie die meisten anderen Träger auf das staatliche Umverteilungssystem angewiesen sind. Unabhängig nun von rechtlichen Fragen - auf die hier nicht eingegangen werden kann - bedarf die Praxis des Staates jetzt einer zusätzlichen Legitimation. Die Frage, was konsensfähig ist, und was nicht, ist also nicht ein Problem der Spannungen zwischen den partikularen gesellschaftlichen Gruppen, sondern eines der staatlichen Intervention. Konsensprobleme in der politischen Bildung entstanden bisher überhaupt nur durch staatliche Interventionen, dadurch, daß der Staat Entscheidungen traf, durch die sich bestimmte Gruppen von Bürgern benachteiligt bzw. in ihrer "weltanschaulichen Grundrichtung" unterprivilegiert fühlten.

4. Das gilt erst recht für das formelle Schulwesen, dessen monopolistischer Träger der Staat ist. Auch hier kam - denkt man etwa an die Richtliniendiskussionen der letzten Jahre - das Konsensproblem nicht dadurch zustande, daß zwischen den gesellschaftlichen Gruppen Streitigkeiten entstanden, die der Staat nun als Hüter des gesellschaftlichen Friedens hätte zum Konsens bringen müssen, sondern dadurch, daß der Staat selbst Richtlinien festsetzte, durch die sich bestimmte Gruppen der Bevölkerung hinsichtlich ihrer "weltanschaulichen Grundrichtung" benachteiligt fühlten. Dabei ist der Begriff "weltanschauliche Grundrichtung", obwohl er ein wenig altmodisch klingt, insofern angebracht, als er zu Recht mehr ausdrückt als etwa nur "parteipolitische Grundrichtung". Das Problem des Konsenses ist nämlich nicht schon dann gelöst, wenn die im zuständigen Parlament vertretenen Parteien sich einig sind; denn die weltanschauliche Pluralität kann gar nicht adäquat in den Parteien widergespiegelt werden, weshalb auch zu Recht von einem "Toleranzgebot" des Staates z. B. in Schulfragen gesprochen wird.

5. Für die Schule und hier insbesondere für den politischen Unterricht stellt sich das Konsensproblem besonders pre-

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kär. Einerseits nämlich hat der Staat das Schulmonopol, und es ist partikularen gesellschaftlichen Gruppen praktisch kaum möglich, "Gegen-Schulen" zu errichten, so wie es im Bereich der außerschulischen Bildung wenigstens bis zu einem gewissen Grade möglich ist, sich seinen Bildungsveranstalter auszusuchen. Andererseits muß die Schule schon aus Gründen des geordneten und organisierten Lehrens und Lernens didaktische und methodische Entscheidungen treffen, die immer Entscheidungen über Inhalte, Ziele, Methoden und Verhaltensweisen sind und die damit auch notwendigerweise andere Inhalte, Ziele usw. ausschließen. Jede einzelne solcher Entscheidungen und erst recht ihre Summe, wie sie sich in Lehrplänen, Richtlinien, Curricula und Prüfungsvorschriften ausdrücken, sind auch solche gegen bestimmte gesellschaftliche Gruppen und für andere - ganz abgesehen einmal von dem, was uns heute unter Stichworten wie "heimlicher Lernplan" und "mittelständische Verhaltensweisen" der Lehrer geläufig ist. Wer das leugnet und wer meint, er könne einen konsensfähigen politischen Unterricht dadurch garantieren, daß er den richtigen Lehrplan und die richtigen Curricula entwirft, verschleiert das Problem. Unter dem Problem der Konsensfähigkeit steht nämlich nicht nur die richtige oder falsche Formulierung von Richtlinien zur Debatte, sondern die pädagogische und gesellschaftliche Funktion der Schule überhaupt.

Konsensfähig werden, das ist von nun an die These, die Schule und damit auch der politische Unterricht in Zukunft nur sein können, wenn sie sich als eine Dienstleistung für eine pluralistische, also ideologisch wie ökonomisch heterogen zusammengesetzte Schülerschaft verstehen, der sie dadurch zu dienen haben, daß sie Lebenskompetenz für unterschiedliche gesellschaftliche Perspektiven vermitteln. Das ist nur möglich, wenn die Lernpläne und didaktischen und methodischen Konzepte, also der Unterricht überhaupt, selbst pluralisiert werden.

Die Frage kann also nur sein, unter welchen Bedingungen der politische Unterricht der Schule, wenn er schon nicht die ganze gesellschaftliche Pluralität in sich aufnehmen

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kann, von denjenigen Gruppen der Bevölkerung wenigstens hingenommen werden kann, deren Interessen und Perspektiven benachteiligt bleiben.

6. Die wichtigste Bedingung ist, daß die Funktion des politischen Unterrichts im Rahmen der sonstigen außerschulischen Sozialisation gesehen und sozusagen als eine Dienstleistung für diese betrachtet wird. Die Schule kann an der gesellschaftlichen Ungleichheit wie überhaupt an allen wichtigen gesellschaftlichen Problemen und Widersprüchen nichts ändern, sie muß sie hinnehmen, wie sie sind, und sie muß auch die Tatsache hinnehmen, daß ihre Schüler aufgrund ihrer unterschiedlichen sozialen Herkunft ganz unterschiedliche Lebenschancen, Perspektiven und weltanschauliche Überzeugungen haben werden. Trotzdem muß sie allen möglichst in gleichem Maße von Nutzen sein können, und genau dies ist das Konsensproblem in seinem Kern. Faßt man den politischen Unterricht als eine solche (korrigierende, systematisierende, differenzierende, kritische) Dienstleistung für die außerschulische Sozialisation auf, dann gibt man grundsätzlich allen partikularen Interessen und Perspektiven die Chance, sie für die eigenen Probleme, Interessen und Perspektiven nutzbar zu machen: dem Sozialisten wie dem Konservativen, dem Unternehmersohn wie dem Arbeiterkind, dem Christen wie dem Atheisten, dem Mädchen wie dem Jungen. Politischer Unterricht in der Schule ist nur dann konsensfähig, wenn er sich bezieht auf die reale gesellschaftliche Situation unterschiedlicher sozioökonomischer und weltanschaulicher Interessen und Perspektiven, so wie etwa das wissenschaftliche Studium für ganz unterschiedliche Kompetenzen und weltanschauliche Perspektiven genutzt werden kann, sofern die Pluralität von Methoden, Gegenständen, Fragestellungen usw. gewährleistet bleibt.

Nimmt jedoch auch in den Hochschulen die Tendenz zur Reglementierung weiter zu - z.B. im Hinblick auf sogenannte "praxisbezogene Studiengänge" und die damit verbundene Tendenz zur Normierung der Prüfungsinhalte - , dann müssen in absehbarer Zeit Konsensprobleme auch hier auftauchen. Das wissenschaftliche Studium ist über-

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haupt das einzige historisch vorliegende Modell einer Lehr- und Lerndienstleistung, das pluralistischen Zwecken, Zielen und Perspektiven nutzen kann, ohne dabei seine Identität zu verlieren. Obwohl dieses Modell nicht ohne weiteres auf die Schule übertragbar ist, können nur seine Grundsätze in wenigstens analoger Umsetzung auf die Dauer zu einer konsensfähigen Schule führen.

Das bedeutet im einzelnen:

a) Der Unterricht muß sich auf objektiv wichtige, das heißt für alle Gruppen auch subjektiv mehr oder weniger bedeutsame Gegenstände (Inhalte) konzentrieren, die nur pragmatisch vereinbart werden können. Die Auswahl der Stoffe und Probleme muß so "ausgewogen" sein, daß wenigstens im Prinzip für alle partikularen Positionen etwas dabei "herausspringen" kann, wenn sie sie lernen und bearbeiten. Also: sowohl Kenntnis der rechtsstaatlichen Grundsätze als auch Rechtskenntnisse, die der Durchsetzung partikularer Interessen dienen können; sowohl Kenntnis der Wirtschaftsordnung als auch der gewerkschaftlichen Wirkungsmöglichkeiten usw. Unterrichtsstoffe sind zwar nicht im einzelnen, aber im ganzen nur noch dadurch zu legitimieren, daß sich alle gesellschaftlichen Perspektiven in ihnen wiedererkennen können.

Versuche, durch aufwendige Legitimationsverfahren zu einem Konsens über den politischen Unterricht zu kommen, indem etwa die Vorentscheidungen und Vorgehensweisen bei der Herstellung von Curricula Zug um Zug aufgedeckt werden (2), mußten insofern scheitern, als dadurch zwar die Entscheidungsprozesse diskutierbar wurden, der pragmatisch-politische Kompromiß selbst jedoch nicht ersetzt werden konnte. Auch in der wissenschaftlichen Lehre sind pragmatische Kompromisse nötig, weil ohne solche Entscheidungen überhaupt nicht gelehrt werden kann; dafür gelten im Prinzip dieselben Kriterien (z.B. Lebensrelevanz; Berufsbezogenheit) wie für den Schulunterricht auch. Für die Hochschule wie für die Schule bleibt jedoch wichtig, daß solche Entscheidungen als Not und nicht als Tugend erscheinen und z. B. nicht durch aufwendige Rechtfertigungsverfahren eine Glorifizierung erhalten, die

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ihnen nicht zukommen kann.

b) Der politische Unterricht muß die formalen (kategorialen; arbeitstechnischen) Aspekte besonders ernst nehmen, also die Frage, wie man sowohl sachlich vertretbar wie auch im Rahmen der eigenen Interessen-Perspektive mit politischen Problemen umgeht. Der Unterricht ist dann im besonderen Maße konsensfähig, wenn er die formalen Fähigkeiten und Fertigkeiten der einzelnen stärkt, ihnen also Mittel an die Hand gibt, die sie unabhängig vom inhaltlichen Zusammenhang, in dem sie erworben wurden, für ihre partikulare Lebensstrategie verwenden können. Wie man ein Problem angeht, ist wichtiger, als die Perfektion des Unterrichtsergebnisses.

Dem entspräche auf der wissenschaftlichen Ebene die Bedeutung der Methoden, die man zwar an konkreten Gegenständen und zu deren Aufklärung lernt, die man aber auf die Bearbeitung anderer Gegenstände wieder übertragen kann. Das methodische Können ist also das eigentlich transferierbare.

c) Der politische Unterricht muß seine Ergebnisse, sofern es sich nicht um Tatsachen, sondern um Interpretationen handelt, offenhalten und nicht nur pädagogisch-taktisch, sondern schon von der ganzen didaktischen Anlage her zur Diskussion und damit den Schülern zur Disposition stellen. Kein Schüler darf gezwungen werden, den Spielraum möglicher Interpretationen z. B. für Prüfungen einzuengen.

d) Der politische Unterricht muß die unterschiedlichen Erfahrungen der Schüler, die ja eng mit ihren partikularen Interessen und Perspektiven zusammenhängen, ernstnehmen. Dies nicht nur in dem Sinne, daß die Schüler ohne Angst auch solche Fragen und Beiträge liefern können, die aus ihrer Erfahrung erwachsen sind, sondern vor allem so, daß die Schüler erkennen, daß es im Unterricht wesentlich nicht um das Lernen ihnen mehr oder weniger gleichgültiger Stoffe geht, sondern um das Herausarbeiten, Bewußtmachen und Korrigieren ihrer eigenen Erfahrung, oder weiter gefaßt: ihrer politischen Identität.

Daß auch das wissenschaftliche Studium diese Funktion hat, ist in den letzten Jahren unter dem Einfluß eines bor-

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nierten Qualifikationsgesichtspunktes mehr und mehr aus dem Blick geraten. Auch in diesem Punkt ist die Hochschule bereits unter das Diktat der Schule geraten.

e) Der politische Unterricht muß methodisch-kommunikativ so angelegt sein, daß er diejenigen Schüler, die z. B. wegen ihrer sozialen Herkunft benachteiligt sind, in höchstmöglichem Maße fördert sowie die Schüler überhaupt als Subjekte ihrer Lernprozesse ernst nimmt. Dies ist der einzig wirkliche Beitrag, den die Schule zur Korrektur sozialer Ungleichheit leisten kann.

7. Dies mögen auf den ersten Blick mehr oder weniger selbstverständliche "Bedingungen" für einen konsensfähigen politischen Unterricht sein. Dennoch machen sie Front gegen drei mächtige gegenwärtige Erwartungen an den politischen Unterricht, die sich über den Staat durchzusetzen trachten und damit ihn in die Rolle dessen bringen, der den Konsens gefährdet.

a) "Progressive" Gruppen versuchen, über Richtlinien ihre Auffassungen vom politischen Unterricht und damit ihre Vorstellungen über eine zu ändernde Gesellschaft und über den kritischen und aktiven Bürger in ihr durchzusetzen. In den politischen Auseinandersetzungen darüber haben sich ihre Auffassungen als nicht konsensfähig erwiesen, wobei jetzt außer Betracht bleiben soll, inwiefern dies wirklich sich aus sachlichen Diskussionen ergeben hat, oder ob nicht wenigstens zu einem guten Teil die Konsensmöglichkeit durch unnötige Demagogisierung verspielt wurde. Die Tatsache jedoch, daß ein Konsens nicht erzielt werden konnte, mußte Grund genug für eine Revision der Richtlinien sein. Die Fehleinschätzung hatte jedoch tiefere Gründe: auch die Autoren der neuen umstrittenen Richtlinien gingen nämlich noch davon aus, daß die Schule irgendwie fertige Bilder vom wünschbaren politischen Menschen zu realisieren habe, z. B. einen solchen, der sich in bestimmten Situationen in einer bestimmten gewünschten Weise verhält. Es war noch die Vorstellung von einer Schule, die in irgendjemandes Auftrag und nach bestimmten gesetzten Normen "Menschen zu machen" habe, anstatt sich als Dienstleistung dafür zu verstehen, daß die (jungen) Men-

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schen sich selbst "machen" können.

Andererseits haben gerade die Richtlinien in Hessen und Nordrhein-Westfalen (3) insofern neue Akzente gesetzt, als sie primär auf "Qualifikationen" der Schüler zielten, also auf die Herstellung von Fähigkeiten, über die sie selbst verfügen können. Auch über ein solches Ensemble von Qualifikationen kann pragmatischer Konsens hergestellt werden, wie dies offensichtlich in Nordrhein-Westfalen bereits weitgehend geschehen ist. Die Schwierigkeit besteht jedoch in dem Bemühen, durch curriculare, lernzielorientierte Entwürfe die Herstellung dieser Fähigkeiten zu sichern und nachzuweisen. Da aber die unterrichtlichen Wege dazu sehr vielschichtig und nicht eindeutig ableitbar sind, wird dadurch der Interpretationsspielraum und damit der Spielraum pluralistischer Perspektiven wieder unzulässig eingeengt.

b) Aber auch "konservative" Gruppen wünschen nach wie vor, daß die Schule ihre eigenen normativen Satzungen an die junge Generation weitergibt. Der Streit ging darum, ob die konservativen Erwartungen oder die der anderen "richtige", "wertvolle" und "demokratische" seien, aber er enthüllte nicht, daß diese Frage falsch gestellt ist, daß die Schule, will sie konsensfähig bleiben, derlei Erwartungen überhaupt nicht mehr erfüllen kann. Das bedeutet natürlich nicht, daß es nicht immer noch einen tragenden normativen Konsens auch für den politischen Unterricht gibt, wie er sich etwa in den Werten der Grundrechte ausdrückt sowie in vielen ungeschriebenen normativen Gemeinsamkeiten. Aber sie reichen nicht mehr aus, um daraus ein konsensfähiges (politisches) Erziehungs- und Bildungsideal zu konstruieren. Im Unterschied etwa zur Weimarer Republik hat heute die pluralistische Gesellschaft voll auf die Schule "durchgeschlagen", sind Probleme wie Chancengleichheit und Ungleichheit der materiellen Startsituation so ins allgemeine Bewußtsein gedrungen, daß sie auch von Konservativen heute mehr oder weniger anerkannt werden. Weil das aber so ist, kann die Schule nicht mehr die konsensfähige "Erziehungsstätte der Nation" sein, sondern muß sich als gemeinsame Dienstleistung für ganz unter-

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schiedliche Ausgangssituationen, Qualifikationen, Statuszuweisungen, Interessen, Bedürfnisse, Perspektiven, Weltanschauungen, politische Positionen usw. verstehen, also als eine "lebensbegleitende Reflexionsinstitution" in enger Verbindung mit den Prozessen der außerschulischen Sozialisation. Schule und politischer Unterricht - sollen sie konsensfähig bleiben - können ihre Legitimation nicht mehr durch irgendwelche staatlichen "Bildungsaufträge" erhalten, sondern nur noch durch den Nutzen, den sie für die außerschulische Handlungskompetenz stiften. Insofern erhält der alte Satz, daß man für das Leben und nicht für die Schule lerne, einen neuen, unmittelbar bedeutsamen Sinn. Die Alternative wäre sonst, wieder in erhöhtem Maße Privatschulen zuzulassen, um so für die gesellschaftliche Pluralität ein geeignetes Angebot zu machen. Das aber wäre in vieler Hinsicht ein Rückschritt; denn die Chance der für alle gemeinsamen Schule ist ja gerade, die Pluralität aus ihrem bloßen Neben- oder Gegeneinander auf eine höhere Ebene zu verlagern, sie produktiv sowohl für die jeweiligen partikularen Positionen als auch für das gemeinsame Handeln im Staat werden zu lassen. Dann aber muß die Pluralität endlich auch in Richtlinien und didaktischen und methodischen Konzepten ernst genommen werden.

Die Konsequenzen aus diesen hier nur angedeuteten Tendenzen sind noch gar nicht absehbar und werden selbst in den professionellen Schulwissenschaften noch kaum gesehen. Wichtige Anzeichen sind jedoch längst erkennbar: Die Betonung der subjektiven Aspekte z. B. in kommunikations- und interaktionstheoretischen pädagogischen Bezugsmodellen (4); die Beschreibung der Lehrerfunktion mit Hilfe von "Rollen-Modellen" (5), die ja die Annahme eines Dienstleistungsmodells nahe legen. Diese und andere Entwicklungen zeigen eine entscheidende Wende an: Weg vom vorgegebenen Bildungsauftrag und hin zum individuellen Lernprozeß, dessen wichtigster Maßstab Sinn und Nutzen für den Lernenden sind.

Das bedeutet nicht, daß die Schüler einfach selbst bestimmen können, was sie lernen wollen. Deren partikulare Perspektive ernst nehmen schließt vielmehr ein, den gegebe-

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nen Horizont von Kenntnissen, Erfahrungen und Kompetenzen zu konfrontieren mit Bearbeitungsansprüchen, über deren Inhalt und Form eben Konsens zu erzielen wäre und die ja der Kern der schulischen Sozialisationsdienstleistung sind. Berufliche, kulturelle und politische Kompetenz können nicht einfach subjektiver Definition unterliegen, sondern sind unter den gegebenen historisch-gesellschaftlichen Bedingungen z. B. in Form von Rollenkompetenzen weitgehend vorgegeben.

c) Dieses auf die Dauer einzig konsensfähige Konzept wird jedoch nicht nur von "konservativen" oder "progressiven", sondern auch von "technokratischen" Erwartungen und Praktiken behindert und gefährdet, etwa durch die Versuche, Lern- und Prüfungsziele von außen möglichst für alle Schüler und Lehrer so vorzugeben, daß scheinbar "vergleichbare Leistungen" erbracht werden. Abgesehen von der juristischen Problematik, die einer solchen Vergleichbarkeit zu bedürfen scheint und die anders gelöst werden müßte, gibt es keinen vernünftigen Grund für eine derartige "Technokratisierung" grade auch des politischen Unterrichts, wie etwa das sogenannte "Normenbuch Gemeinschaftskunde" (6). Gemessen an den oben genannten Bedingungen für einen konsensfähigen politischen Unterricht sind diese Versuche nicht nur reaktionär, weil sie die "innere Pluralisierung" des politischen Unterrichts verhindern, sie setzen auch die Konsensfähigkeit in einem solchen Maße aufs Spiel, daß für die Zukunft erhebliche kulturpolitische Auseinandersetzungen zu befürchten sind. Die Schule als "pluralistische Dienstleistung" ist so nicht mehr zu organisieren, im Gegenteil bedarf sie eines großen didaktischen und methodischen Freiheitsspielraums, und es ist für die Perspektive der Schüler ganz gleichgültig, ob alle Schüler desselben Jahrgangs im ganzen Land auch dasselbe lernen und also auch dasselbe geprüft werden können. An den Interessen der Schüler gemessen ist die Tatsache, daß der Lehrer letzten Endes didaktische und methodische Entscheidungen treffen muß, verhältnismäßig belanglos, solange sich diese Entscheidungen an den oben genannten Bedingungen orientieren. Es liegt also kein Grund

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vor, das Entscheidungsproblem auf dieser Ebene unnötig hochzuspielen, wie das in der gegenwärtigen didaktischen Diskussion teilweise geschieht.

8. Die These war, daß es immer der Staat selbst ist, der durch unangemessene Interventionen den Konsens des schulischen wie auch außerschulischen politischen Unterrichts infrage stellt und daß der Dissens keineswegs aus den pluralistischen Widersprüchen von selbst erwächst. In der Tat dürften die Politiker und die Vertreter der Kultusbürokratie die größten Schwierigkeiten haben, ihre Funktionen in einer noch neu zu bestimmenden "pluralistischen Dienstleistung Schule" mit einer "inneren Pluralisierung des Unterrichts" zu akzeptieren. Sie müßten sich auf eine wesentlich defensivere Rolle einrichten, sie hätten die Bedingungen der Möglichkeit für diese Dienstleistung zu schaffen und Überschreitungen des zulässigen Spielraumes zu verhindern, sowie jene Erwartungen zurückzuweisen, die sie selbst noch allzu oft vertreten. Das Verhältnis von Staat und Schule steht für die Zukunft neu zur Debatte, wobei es allerdings auch nicht darum gehen kann, die Schule einfach den Lehrern zu überlassen; denn die oben genannten Bedingungen für einen konsensfähigen Unterricht können, wenn sie sich als richtig und nötig erweisen, z. B. nicht einfach den Lehrern zur Disposition gestellt werden, sie müßten vielmehr durch die staatliche Aufsicht garantiert werden. Die Funktion des Staates wird nicht aufgehoben, sie ändert sich nur: sie dient einer Schule für Schüler, die sich begrenzt auf das, was im Rahmen der gesamten Sozialisation ohne sie nicht möglich, aber für die Schüler nötig ist.

Setzt sich dieser Grundsatz durch, wird auch die teilweise unerträgliche Knebelung der Schule durch die staatliche Administration wieder eingeschränkt werden können. Die Administration ist nicht selbst die Dienstleistung, die zu erbringen ist, sie hat sie nur zu ermöglichen, und sie ist in ihrer gegenwärtigen Aufblähung nicht mehr der Garant, sondern eher die wirkliche Bedrohung des Konsenses.

Jene "progressiven " bzw. "konservativen " Erwartungen so wie alle anderen, die sich für konsensfähig halten, tatsäch-

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lich jedoch nur partikular sind, gehören in Zukunft in die außerschulische politische Bildung, deren Sinn es ist, die partikularen Aspekte und Perspektiven als solche ernst zu nehmen, ohne sie mit dem Odium verschleierter Parteilichkeit zu strafen. Aus diesem Grunde wird in Zukunft der außerschulischen politischen Bildung eine verstärkte Bedeutung zukommen müssen.

9. Die hier nur angedeutete Tendenz läßt sich historisch plausibel machen. Im Wilhelminischen Obrigkeitsstaat war es "selbstverständlich", daß die herrschenden Klassen und Gruppen ihre - partikularen, aber hinreichend mächtigen - Vorstellungen via Staat in der Schule zur Geltung brachten. In der Weimarer Republik stand dann das Problem der Pluralität unübersehbar zur Debatte, konnte aber nicht gelöst werden, weil jede halbwegs mächtige Partikularität im Grunde ihren Totalanspruch zumindest auf die Volksschule aufrecht erhielt. Auch in den Gymnasien wurden die überlieferten Leitbilder nur durch neue ersetzt bzw. ergänzt. "Schulkampf" war "Kampf um die Seelen der Kinder" und ist es bis heute geblieben. Ansätze zur Lösung des Problems einer staatlich monopolisierten Schule in einer auch normativ pluralistischen Gesellschaft ("pädagogische Autonomie"; Anerkennung der "weltanschaulichen Grundrichtungen"; Ersatz der Lehrpläne durch Richtlinien; Erich Wenigers Lehrplantheorie) wurden durch den Nationalsozialismus zugunsten einer nun wieder unverhüllten Politisierung der Schule abgebrochen. Aber das Problem bleibt, auch nach 1945 erhielt die Schule wieder Leitbilder, die zwar für eine ganze Weile noch einmal konsensfähig waren, aber spätestens die Diskussion um neue Richtlinien - und das ist ihre epochale Bedeutung - hat gezeigt, daß diese Vorstellung von Schule als Agentur des Staates bzw. privilegierter gesellschaftlicher Gruppen an ihr historisches Ende gekommen ist. Die Gründe dafür können hier nur angedeutet werden: die Schule wandelte sich von der "Klassen-Schule", die die sozialen Klassen nur abbildete, zur "Verteilungsstelle für Sozialchancen" (Schelsky); Verwaltungsgerichtsentscheidungen tragen dem längst Rechnung, indem sie Bildungs- und Weiterbil-

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dungsrechte von Schülern zur Geltung bringen; die Schule hat im Vergleich zu den ubiquitären Massenmedien ihr Informationsmonopol für die junge Generation verloren, ihre verhältnismäßig geringe Bedeutung im Vergleich zur außerschulischen Sozialisation wird zunehmend erkannt, damit schwinden die Chancen, die sogenannte "Massenloyalität" (Habermas) ausgerechnet in den Schulen zu erzeugen; traditionelle Normen, die für den Komplex "Erziehung" prägend waren, haben ihre selbstverständliche Bindekraft verloren und müssen sich rational legitimieren, usw. Die künftige Dienstleistung "Schule für Schüler" wird eine solche sein, in der alle vorgegebenen gesellschaftlichen Erwartungen und Normen nicht mehr als Erziehungsziel, sondern als Gegenstand der unterrichtlichen Bearbeitung fungieren. In dieser Aussicht liegt eine nicht geringe Chance für die Schüler, sich von der Schule zu emanzipieren und sie gerade deshalb für wichtiger zu halten als heute.

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Anmerkungen:

(1) Vgl. H. Giesecke: Die Aufgaben der außerschulischen Bildungsstätten im Bildungssystem. In: deutsche jugend, Heft 1/ 1977, S. 22 ff.

(2) Vgl. R. Schörken (Hrsg.): Curriculum Politik. Opladen 1974.

(3) Der Hessische Kultusminister: Rahmenrichtlinien Sekundarstufe I: Gesellschaftslehre. Wiesbaden o. J. - Der Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen: Richtlinien für den politischen Unterricht. Düsseldorf 1973.

(4) Vgl. K. Mollenhauer: Theorien zum Erziehungsprozeß. München 1972.

(5) Vgl. M. Rösel: Was heißt "Lehrerrolle"? In: Neue Sammlung, Heft 1/1974, S. 43 ff. - H. Giesecke: Rollen und Funktionen des Lehrers im Politikunterricht. In: Die deutsche Berufs- und Fachschule, Heft 3/1977.

(6) Beschlüsse der Kultusministerkonferenz: Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung: Gemeinschaftskunde. Neuwied 1976. Zur Kritik an den "Normenbüchern": A. Flitner/D. Lenzen (Hrsg.): Abiturnormen gefährden die Schule. München 1977.


 
 

108. Rollen und Funktionen des Lehrers im Politikunterricht (1977)

(In: Die deutsche Berufs- und Fachschule, H. 3/1977, S. 194-200)
 

Die Frage nach den Rollen und Funktionen des Lehrers im politischen Unterricht berührt eine ganze Reihe von Zusammenhängen. Zunächst hängt die Antwort davon ab, wie der staatliche Auftrag des Lehrers im allgemeinen und für den politischen Unterricht im besonderen verstanden wird. In dem Maße, wie der Staat die Richtlinien-Kompetenz beansprucht und Lerninhalte festlegt, kann der Lehrer nur als ausführendes Organ wirken. Die Richtlinien-Diskussionen der letzten Jahre haben dieses Problem wieder zum Thema gemacht, nachdem es lange Zeit als ausdiskutiert galt (1). Die Frage ist, welchen Spielraum die staatlichen Vorentscheidungen dem Lehrer lassen, ob er auch in gewissem Umfange die Inhalte mitbestimmen kann oder nur die Freiheit der Methoden-Wahl hat.

Eine Rolle spielt ferner - auch dies haben die Richtlinien-Diskussionen gezeigt - wie sich der Beamten-Status des Lehrers im Rahmen des staatlichen Schulmonopols auswirkt. Über einige Prinzipien läßt sich sicher ein breiter Konsens erzielen: daß der Lehrer die Schule nicht für seine persönlichen politischen Überzeugungen mißbrauchen darf; daß er Teilgruppen der Schüler und der Bevölkerung überhaupt nicht weltanschaulich oder politisch diskriminieren darf; daß der allgemeine Grundsatz des Beamtentums, Gerechtigkeit gegenüber jedermann zu üben, auch für Inhalt und Stil des politischen Unterrichts gilt; daß der Lehrer als Beamter für den Frieden in der Gesellschaft einzutreten hat, also für das, was ihre Gruppen trennt. Trotz solcher Übereinkünfte besteht die Schwierigkeit jedoch wie immer in solchen Fällen darin, daß im konkreten Einzelfall die Realisierung dieser Prinzipien strittig bleibt.

Schließlich sind auch von erheblicher Bedeutung die prinzipiellen didaktischen Vorentscheidungen über den politischen Unterricht. Als Vollstrecker curricular geplanter Unterrichtsentwürfe präsentiert sich der Lehrer durchaus anders, als wenn er zum Beispiel als Vermittler auftritt zwischen der politischen Realität einerseits - soweit sie sich im Bewußtsein der Schüler spiegelt - und den von den Wissenschaften zur Verfügung gestellten geistigen Ordnungsmustern (Modelle, Kategorien usw.) andererseits. Die Beziehung zu den Schülern bestimmt sich anders, je nach dem ob es mehr um die gemeinsame Lösung gemeinsamer politischer Probleme geht, oder mehr um die Vermittlung von Lehren (also "Stoff") über diese Realität. Alle bisher vorgelegten didaktischen Theorien über den politischen Unterricht enthalten auch notwendigerweise Vorstellungen über die Funktion des Lehrers.

Diese Andeutungen zeigen, daß das, was zunächst als spezifische Schwierigkeit des politischen Unterrichts erscheinen könnte, tatsächlich auf die zutiefst verunsicherte berufliche Identität des Lehrers in der Gegenwart überhaupt verweist. Daran gemessen sind eine Reihe spezifischer Probleme des politischen Unterrichts, etwa wie der Lehrer einen lebendigen, die Kontroversen ernstnehmenden Unterricht gestalten könne ohne seine eigenen politischen Überzeugungen dabei den Schülern unzumutbar aufzudrängen, relativ zweitrangig. Allerdings bringt gerade der politische Unterricht im Unterschied zu den meisten anderen Schulfächern diese Verunsicherung der beruflichen Identität deshalb in besonderem Maße zum Vorschein, weil der Gegenstand "Politik" ja selbst dafür die wesentliche

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Ursache ist; denn gerade hier präsentieren sich ja pluralistische Wertordnungen, Interessenkonflikte und strukturelle Widersprüche in erster Linie.

Diese allgemeine Verunsicherung zeigt sich unter anderem darin, daß es gegenwärtig keine "Theorie des Lehrers" mehr gibt, die alle relevanten Aspekte seines Handelns so beschreiben könnte, daß daraus Selbstbewußtsein, Orientierung und begründbare Verhaltensperspektiven sich entwickeln könnten. Die kaum noch zu überblickende Literatur zu diesem Thema befaßt sich durchweg mit Einzelaspekten, vor allem die juristischen, beamtenrechtlichen Funktionen des Lehrers, die doch sein Amt als politisches konstituieren, ob er nun politischen Unterricht erteilt oder nicht, werden gemeinhin getrennt von den "eigentlich pädagogischen" abgehandelt. Und in vielen pädagogisch orientierten Arbeiten - und vor allem in der Hochschullehre selbst - erscheinen die staatlichen Funktionen eher einseitig als Behinderung der eigentlich pädagogischen Arbeit (der Lehrer als "Agent des Staates" oder gar "Agent des Kapitalismus"), während sie doch auch Schutz gewähren für die Erfüllung der pädagogischen Aufgaben.

Am tragfähigsten hat sich in der letzten Zeit der Versuch erwiesen, die Aufgaben des Lehrers in ihrer Widersprüchlichkeit mit Hilfe der Rollentheorie (2) zu beschreiben: danach steht der Lehrer im Mittelpunkt teils übereinstimmender, teils aber auch verschiedener und widersprüchlicher Rollenerwartungen (der Behörde; der Schüler; der Kollegen; der Eltern; der öffentlichen Meinung, usw.), die er selbst in immer wieder neuen Situationen "ausbalancieren" muß. Die Fähigkeit dazu sei seine eigentliche schöpferische Leistung, die ihm zugleich einen Spielraum für autonome Entscheidungen zusichere und ihm gestatte, seine berufliche Identität auch als eine persönliche zu verstehen.

Was vielleicht auf den ersten Blick ganz plausibel klingt, ist jedoch nichts weniger als eine geschichtlich völlig neue Vorstellung vom Lehrerberuf. Noch in den fünfziger Jahren und erst recht etwa um die Jahrhundertwende wäre eine solche Deutung nicht nur auf Unverständnis, sondern auch auf massive Kritik gestoßen. Damals galt der Lehrer noch als Mitglied eines "Standes" auch in dem Sinne, daß sein privates wie öffentliches und berufliches Verhalten gleichsinnig zu sein hatten, seine soziale Umwelt sah ihn nicht als Träger unterschiedlicher Rollen, sondern als vorbildliche Repräsentanz aller wichtigen gesellschaftlichen Normen und Werte. Sein Auftrag war klar, und klar war auch, wer ihn zu erteilen hatte. Das erzieherische Moment, also die Einwirkung auf Gesinnung und Verhalten der Schüler stand im Mittelpunkt.

Inzwischen jedoch sind alle wichtigen Aspekte der Lehrerexistenz unklar geworden. Ob es sich um die Grenzen der Kompetenzen des Staates, um die Aufgaben der Schule überhaupt, um die Inhalte des Unterrichts, um die "richtige" Ausbildung des Lehrers handelt - , dies alles unterliegt der Diskussion und muß immer wieder, wie das Rollenmodell nahe legt, neu interpretiert und integriert werden. Was man "pluralistische Gesellschaft" im normativen wie faktischen Sinne nennt, ist voll auf die Schule und damit auf die Tätigkeit des Lehrers durchgeschlagen.

Allerdings ist das Problem eigentlich nicht neu, es besteht schon zumindest so lange, wie es eine demokratisch verfaßte Gesellschaft gibt. Nur gelang es über Jahrzehnte, die Schule aus den pluralistischen Widersprüchen herauszuhalten - entweder dadurch, daß man die Widersprüche durch Konfessionsschulen auffing, oder dadurch, daß man die Schule als "politikfreien Raum" begriff, in dem das Kind vor dem Widerstreit des Politischen geschützt werden und der Unterricht sich auf das konzentrieren sollte, was wenig-

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stens nicht unmittelbar durch diesen Widerstreit verunsichert war. Nach der Lehrplantheorie von Erich Weniger (3) die zum letzten Mal die realen politischen Widersprüche mit den Prinzipien einer den politischen Konflikten selbst enthobenen Schule zu versöhnen versucht hat und die bis heute bezeichnenderweise keine Nachfolge gefunden hat, fanden die auch ihm notwendig erscheinenden politischen Auseinandersetzungen um die Schule vorher, bei der Festlegung des Lehrplans, statt. Danach hatte für ihn die Schule nicht mehr ein Feld für politische Auseinandersetzungen zu sein.

Die Vorstellung von der politischen Exterritorialität der Schule war bis in die fünfziger Jahre hinein ein Fundamentum des Lehrerbewußtseins, und sie machte von Anfang an den politischen Unterricht für die Lehrer schwierig, weil dieser per se, d.h. ganz unabhängig von seiner konkreten Ausprägung, zu einer Kritik dieses Bewußtseins werden mußte. Viele Diskussionen über den politischen Unterricht in den fünfziger Jahren sind überhaupt nur auf diesem Hintergrund heute noch verständlich. Allerdings war diese Vorstellung spätestens in dem Augenblick problematisch, als die gesellschaftliche Mobilität ein solches Ausmaß erreicht hatte, daß das Schulwesen nicht mehr nur die Klassen- und Schichtunterschiede abbildete, sondern selbst als "Verteilungsstelle für Sozialchancen" (Schelsky), also als Selektionsinstrument fungierte, nämlich selbst nun mitbestimmte, wer welche Position in der Gesellschaft einnehmen wird. Dieser Prozeß begann im größeren Ausmaß etwa in der Mitte der fünfziger Jahre. Nun wurde aber die Frage nach der "Chancengleichheit" des Schulwesens unüberhörbar und allein diese Frage wirkte notwendigerweise auf alle Aspekte der Schule zurück: auf die staatliche Kompetenz ebenso wie auf die Lehrpläne und das Selbstverständnis des Lehrers.

Die Rollen und Funktionen des Lehrers haben sich also auf Grund gesellschaftlich-politischer Wandlungen erheblich verändert. Aus dem primär erzieherischen Amt ist eine Lerndienstleistung geworden, die voller Widersprüche steckt, die der Lehrer selbst ausbalancieren muß. Dies ist Problem und Chance zugleich: Problem, insofern die Orientierung schwieriger geworden ist; Chance, insofern dies eben auch eine historisch neue Möglichkeit für Selbstbestimmung im pädagogischen Beruf ist. Allerdings - auch das haben die Auseinandersetzungen um die neuen Richtlinien gezeigt - ist auch die Öffentlichkeit selbst über die Aufgaben des Lehrers höchst verunsichert. Die traditionellen Erwartungen mischen sich mit den rational-distanzierten Vorstellungen, die im Begriff "Dienstleistung" angedeutet sind. Die Heftigkeit der öffentlichen Auseinandersetzungen rührt nicht zuletzt daher, daß unumstrittene Kriterien über den Komplex Staat - Schule - Lehrer - Schüler - Eltern praktisch fehlen, was die Ideologisierung der Diskussion begünstigt, wenn nicht unausweichlich macht.

Wendet man diese Analyse auf den speziellen Fall des politischen Unterrichts an, so folgt daraus zunächst, daß sich die Frage nach den Rollen und Funktionen des Lehrers auch hier nicht eindimensional lösen und auch nicht auf einen einzigen Begriff bringen läßt. Es handelt sich offenbar um verschiedene Funktionen und Rollen, die der Lehrer sowohl variieren wie zu einem persönlichen Stil integrieren muß.

Neben dem Rollenmodell, daß die moderne widersprüchliche berufliche und politische Existenz des Lehrers beschreibt, ist für die Beschreibung des Unterrichts in letzter Zeit immer mehr das Kommunikations-Modell herangezogen worden, das mit dem Rollenmodell eng zusammenhängt (4). Während in der traditionellen Vorstellung der Lehrer im Unterricht eindeutig dominierte - er wußte, was zu unterrichten war und wie es zu geschehen

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hatte und war dabei nicht belastet mit Legitimations-Problemen - wird nun seine Rolle im Unterricht wesentlich differenzierter gesehen. Jene dominante Position gilt nicht mehr unter allen Umständen und in jeder Hinsicht, sondern nur je nach Situation und Zielsetzung im Rahmen des Unterrichtsprozesses. Das betrifft schon den inhaltlichen Aspekt des Unterrichts, insofern das, was man herkömmlich "Methoden" nennt, sich als eine je spezifische Kommunikationsstruktur deuten läßt, die sowohl das Vorgehen (also die "Methode" im engeren Sinn) wie auch die inhaltlichen Fragen (Stoffe; Ziele) mit entscheidet. Zugleich ist aber auf diese Weise der Beziehungsaspekt beschreibbar, insofern in der jeweiligen konkreten Unterrichtskommunikation unterschiedliche Dimensionen der politisch-pädagogischen Beziehung zwischen Lehrern und Schülern zum tragen kommen. Die Leitfrage des Kommunikationsansatzes für den Unterricht lautet: als was (in welcher Funktion, in welcher Rolle) tritt der Lehrer in einer bestimmten Situation den Schülern gegenüber, und wie wird durch diese besondere Perspektive die Beziehung zu den Schülern bestimmt? Für eine erste, notwendigerweise noch oberflächliche Betrachtung lassen sich folgende Beziehungs-Dimensionen unterscheiden:
 

1. Der Lehrer als erwachsener Bürger

Auf dieser Ebene ist er Bürger wie seine Schüler auch. Auch wenn diese noch minderjährig sind, haben sie - wie er - ihre eigenen Interessen und stehen teils denselben, teils - je nach ihrer sozialen Herkunft - auch anderen politischen Problemen gegenüber. Auf dieser Ebene des Bürgerstatus, der daraus resultierenden Pflichten, Rechte, Interessen und Perspektiven sind Lehrer und Schüler gleichrangig. Daraus folgt zum Beispiel, daß die Schüler Anspruch darauf haben, daß ihre eigenen Erfahrungen, Bedürfnisse und Interessen thematisiert werden, nicht nur die des Lehrers (bzw. die seiner Auftraggeber). Das bedeutet nichts anderes, als daß der Lehrer keine Legitimation haben kann, politische Meinungen, Einstellungen, Interessen, Erfahrungen usw. der Schüler als solche zurückzuweisen oder durch andere zu ersetzen; denn sie sind ja nicht beliebig, bloß "falsche Meinungen", sondern resultieren aus der politischen, sozialen und ökonomischen Existenz des Schülers bzw. seiner Familie. Von daher gesehen sind nicht nur bestimmte "linksradikale" Versuche fehl am Platz, die Schüler zu einem bestimmten politischen Verhalten zu erziehen, sondern überhaupt alle - etwa auch durch moderne Curriculum-Theorien veranlaßte - Intentionen, die Schüler zu irgendwelchen bestimmten Verhaltensweisen oder Gesinnungen zu erziehen, sofern diese nicht unstreitig konsensfähig sind. Vielmehr kann es nur darum gehen, den Schülern Gelegenheit zu geben, ihre mitgebrachten Erfahrungen usw. durch Konfrontation mit anderen Erfahrungen usw., mit allgemeinen Normen, wissenschaftlichen Erklärungen u.a. bearbeiten zu lassen.

Daß der Lehrer zudem erwachsene - und nicht gleichaltriger - Bürger ist, ändert an der Gleichrangigkeit nichts, bestimmt aber wohl den Stil des Umgangs: Vom Erwachsenen erwartet man, daß er das, was die Schüler noch lernen sollen, bereits einigermaßen gut beherrscht, zum Beispiel emotionale Selbstkontrolle, ausgewogenes Urteil, Fairneß in Auseinandersetzungen, Toleranz gegenüber anderen Positionen usw. Die Gleichrangigkeit des Status "als Bürger" kann sich übrigens außerhalb der Schule darin äußern, daß Lehrer und Schüler gemeinsam an politischen Aktionen, z.B. an Bürgerinitiativen, teilnehmen, oder auch auf verschiedenen Seiten eines öffentlichen Konfliktes stehen.

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2. Der Lehrer als Repräsentant der Schule

Die Schule ist Teil eines großen, übergeordneten bürokratischen Systems, dessen Erwartungen der Lehrer entsprechen muß. Diese im engeren Sinne "berufliche Beauftragung" des Lehrers ist jedoch nicht die einzige bzw. die einzig wichtige Handlungsdimension, weshalb wir sie bewußt auch an die zweite Stelle gesetzt haben. Das bürokratische System der staatlich monopolisierten Schule ist kein Selbstzweck, sondern eine öffentliche Dienstleistung, die als solche kritischer Betrachtung unterliegt, und zwar unter anderem im Hinblick auf den unter Punkt 1) genannten gleichrangigen Bürgerstatus. Unbeschadet der Legalität der jeweils vorhandenen rechtlichen Regelungen ist immer wieder neu zu prüfen, ob diese noch dem Maßstab der Legitimität angemessen sind, wozu unter anderem gehört, ob die Schule noch ihren Auftrag erfüllt, die gleichberechtigten Bürger das zu lehren, was sie für die Ausübung ihrer Bürgerrechte und Bürgerpflichten benötigen.

Diese Handlungsdimension enthält nun eine Reihe von Aspekten, die hier nicht im Ganzen behandelt werden können. Wichtig für den politischen Unterricht sind aber vor allem zwei:

a) Die Schule als staatliche Monopolschule ist gehalten, die Gemeinsamkeit der Bürger ins Bewußtsein zu heben, etwa im Sinne der Normen des Grundgesetzes.

b) Da jedoch die Gesellschaft aus Gruppen (bzw. Schichten; Klassen) unterschiedlicher sozio-ökonomischer Potenz und damit auch unterschiedlicher Interessen, Chancen und Perspektiven besteht, die zudem hinsichtlich politischer und weltanschaulicher Überzeugungen noch einmal in sich differenziert sind, steht die Schule (und damit auch der Lehrer als Repräsentant der Schule) vor einem prekären Widerspruch, der ausbalanciert werden muß, nämlich vor dem unausweichlichen Problem der "Parteilichkeit". Einerseits darf die Schule schon um des inneren Friedens willen nicht eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe auf Kosten anderer favorisieren und damit andere benachteiligen, andererseits muß sie dies bis zu einem gewissen Grade auf sich nehmen, weil der Unterricht, der angesichts materieller und kultureller Ungleichheit und Chancenungleichheit erteilt wird, immer eher den einen oder den anderen Vorteile für ihre gegenwärtige und künftige gesellschaftliche Position bringt. Das ist der reale, wenn auch von den politischen Parteiungen mehr oder weniger verleugnete Kern der Auseinandersetzungen um die neuen Richtlinien gewesen. Dieses Problem ist nicht einfach dadurch zu lösen, daß sich die Schule im politischen Unterricht aus der Tatsache der Ungleichheit herauszuhalten versucht - etwa durch den Rückzug auf bloße Institutionenkunde; denn ob man z.B. das Rechtswesen aus der Perspektive der staatlichen Gewalt oder aus der Perspektive des "kleinen Mannes" darstellt, der lernen soll, seine Chancen in diesem System optimal wahrzunehmen: beides ist zwar legitim im Sinne des Grundgesetzes, macht aber gleichwohl für die Unterrichtskonzeption und die Auswahl der stofflichen Schwerpunkte—angesichts einer sehr knapp bemessenen Unterrichtszeit einen erheblichen Unterschied.

Die Schule muß also beides ermöglichen: die Vermittlung des gesellschaftlichen Konsens und die Herausarbeitung partikularer gesellschaftlicher Perspektiven durch die Schüler selbst. Dieser Widerspruch ist nur sehr begrenzt durch allgemeine staatliche Maßnahmen zu regeln, er gehört zu denen, die letzten Endes der Lehrer selbst ausbalancieren muß. Helfen kann ihm dabei eine didaktische Konzeption, die einerseits die wichtigen gesellschaftlichen Kontroversen selbst zum Unterrichtsgegenstand macht, und die andererseits

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den Unterricht weitgehend zu verwissenschaftlichen sucht.

In der Beziehung zu den Schülern hat der Lehrer die Regeln der Institution Schule zur Geltung zu bringen, z.B. auch die oben genannten. Weder im politischen Unterricht noch in anderen Fächern kann es also eine davon "freie" Unterrichtskommunikation geben, eine dahingehende "pädagogische" Auffassung vom Unterricht wäre einerseits unpolitisch und würde andererseits im Extremfalle nur zum belanglosen Gerede führen, das genau so gut in einer Kneipe stattfinden könnte. Die institutionellen Regeln sind eben nicht nur Hindernis für die pädagogische Tätigkeit, sondern auch - sofern sie legitimierbar sind - konstitutiv für die Vernünftigkeit dessen, was da gelernt wird und wie es gelernt wird.

3. Der Lehrer als Wissenschaftler

Daß vom Lehrer ein wissenschaftliches Studium verlangt wird, hat eine Bedeutung, die weit über den Unterricht hinausreicht, die nämlich die ganze hier angedeutete Rollenproblematik betrifft. Die wissenschaftliche Grundlage seiner Ausbildung ist seine wichtigste Legitimation für jenen subjektiven Spielraum, der ihm für die Entscheidung angesichts widersprüchlicher Erwartungen gewährt wird. Eine andere Legitimationsgrundlage ist nicht auszumachen, und gäbe es überhaupt keine, so bliebe dieser Handlungsspielraum ja bloße persönliche Willkür.

Es würde jetzt zu weit fuhren, die ganze Problematik von "Wissenschaftlichkeit" in diesem Zusammenhang zu erörtern. Übereinstimmung dürfte darüber zu erzielen sein, daß damit einerseits die Fähigkeit des methodischen Umgangs mit Problemen gemeint ist, andererseits aber auch die Zuverlässigkeit und Richtigkeit der Unterrichtsinhalte selbst.

In dieser Funktion des Fachmannes hat der Lehrer einen Vorsprung vor seinen Schülern; sie enthält einen wichtigen Kern der "Dienstleistung", die der Lehrer den Schülern schuldet; denn der Schüler muß darauf setzen können, daß ihm der Lehrer bei der Entdeckung seiner politischen Interessen und Perspektiven, bei der Beurteilung von Sachverhalte und Konflikten mit seiner Sachkenntnis hilft.

4. Der Lehrer als Lernhelfer

Unter dieser Funktionsbezeichnung lassen sich die sogenannten "pädagogischen" Aufgaben zusammenfassen, also die unterrichtsmethodischen und kommunikativen Fähigkeiten des Lehrers, die dem Schüler so gut wie möglich helfen sollen, Lernschwierigkeiten zu überwinden. Bei dieser Handlungsdimension könnte man wieder von "Gleichrangigkeit" zwischen Lehrern und Schülern sprechen; denn die Aufgabe der optimalen Lernhilfe ist nur zu lösen, wenn darüber gleichberechtigt und möglichst "herrschaftsfrei" kommuniziert wird. Zwar kennt der Lehrer im Unterschied zum Schüler das "handwerkliche" Repertoire für die möglichen Lernhilfen, dies nutzt jedoch so lange nichts, wie nicht eine entsprechende Rückmeldung durch die Schüler erfolgt, die wiederum nur gelingen kann in einer offenen und gleichberechtigten Kommunikation.

Diese knappe Skizze der unterschiedlichen Handlungsdimensionen des gegenwärtigen Lehrerberufes, die noch weiter differenziert werden könnte, zeigt am Beispiel des Politiklehrers exemplifiziert -- noch einmal die Komplexität des gegenwärtigen Lehrerberufes und die Notwendigkeit, jedes eindimensionale Selbstverständnis zu vermeiden. Konflikte in diesem widersprüchlichen Spannungsfeld sind sozusagen als "normal" anzusehen, und

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gewachsen ist die Chance des Lehrers zur Autonomie und zu einer selbstbestimmten beruflichen Identität. Allerdings wird es noch eine Zeit dauern, bis sowohl die Behörden wie auch die Öffentlichkeit von der Veränderung der Rollen und Funktionen des Lehrers hinreichend Kenntnis genommen haben.

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Anmerkungen:

(1) Vgl. H. Giesecke u.a.: Pädagogische und politische Funktionen von Richtlinien. In: Neue Sammlung, Heft 2/1974, S. 84-132.

(2) Vgl. Janpeter Kob: Die Rollenproblematik des Lehrerberufes. Die Erzieherrolle im Selbstverständnis des Lehrers und in den Erwartungen der Eltern. In: Soziologie der Schule, hrsg. von Peter Heintz, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Sonderheft 4, Köln und Opladen 1970. Klaus Mollenhauer: Die Rollenproblematik des Lehrerberufs und die Bildung. In: Klaus Betzen und Karl Ernst Nipkow (Hrsg.): Der Lehrer in Schule und Gesellschaft. München 1971, S. 93 ff. . Arno Combe: Kritik der Lehrerrolle. Gesellschaftliche Voraussetzungen und soziale Folgen des Lehrerbewußtseins. München 1971. Zusammenfassend und kritisch: Manfred Rösel: Was heißt "Lehrerrolle"? In: Neue Sammlung, Heft 1/1974, S. 43 ff.

(3) Erich Weniger: Die Theorie der Bildungsinhalte und des Lehrplans. 9. Aufl., Weinheim 1971.

(4) Klaus Mollenhauer hat die Ergebnisse der Kommunikations- und Interaktionsforschung nicht nur für den Unterricht, sondern überhaupt für pädagogische Beziehungen systematisch nutzbar zu machen versucht: Klaus Mollenhauer: Theorien zum Erziehungsprozeß. München 1972.


 
 

109. Aufklärung und Subjektivität (1977)

Zur Kritik der gegenwärtigen Reformpädagogik

(In: H. Giesecke (Hrsg.): Ist die bürgerliche Erziehung am Ende? München 1977, S. 163-175)
 
 

Eines der wichtigsten Prinzipien der bürgerlichen Bildung und Erziehung ist das der Individuierung. Die Erziehung, insbesondere auch die schulische, sollte so verlaufen, daß die individuellen Fähigkeiten des Kindes gefördert und ihm bewußt würden, daß es sich mit vorgegebenen Normen, Traditionen und kulturellen Stoffen individuell auseinandersetzt, diese sich sozusagen in einer persönlichen Version aneignet. Diesem Sinn dienten auch die verschiedenen Unterrichtsfächer, in denen wenigstens die wichtigsten kulturellen und gesellschaftlichen Objektivationen sich repräsentieren sollten; die Fächer sollten dem Kind dazu verhelfen, die umfassende Repräsentation seiner historischen Kultur kennenzulernen und sich in denjenigen Gebieten, die es aus welchen Gründen auch immer für besonders interessant hielt, mit besonderem Engagement anzusiedeln. Die Idee war nicht, daß das Kind in allen Fächern gleich gut und gleich interessiert sein müsse, sondern daß es entsprechend seiner Individuierung Schwerpunkte setzen dürfe und solle. Diese Intention kommt noch in dem Angebot der gymnasialen Oberstufe zum Ausdruck, zwischen bestimmten Fächern wählen zu dürfen.

Erst die Verrechnung von Noten aus ganz verschiedenen Fächern, die unter dem Aspekt des subjektiven Engagements gar nicht verrechenbar sind, nach dem absurden Verfahren des Numerus Clausus hat nicht nur diesen Sinn zerstört, sondern darüber hinaus eine Umkehrung des Bildungssinnes erzwungen. In dem Maße, wie durch derartige Verfahren jeder individuelle Bildungssinn aus den Schulen herausgerechnet wird, wird das schulische Lernen zur entfremdeten Arbeit wie jede andere auch, also ohne jede persönlich verbindliche Bedeutung. Das Gelernte bleibt ein persönlich Fremdes, wird zu einem Ding, zu einem bloßen Instrument für soziale Karrierestrategien.

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Der eben skizzierte Prozeß der Individuierung hatte zur Voraussetzung, daß er nur durch Abarbeitung an kulturellen Objektivationen wie Literatur, Kunst, Musik, Naturwissenschaft, Gesellschaft usw. stattfinden könne. Das Individuum konnte sich nur dadurch profilieren, daß es sich auseinandersetzte mit etwas, dem es prinzipiell gleichgültig war, das nicht zum Zwecke seiner Profilierung erfunden worden, also auch nicht pädagogisch konstruiert war. In diesem dialektischen Spiel zwischen Aufklärung über die ohne Rücksicht auf die Interessen und Bedürfnisse des Subjekts geltenden objektiven Sachverhalte und Normen einerseits und der Anregung zur je individuellen Aneignung andererseits realisierte sich die Idee der bürgerlichen Bildung und Erziehung. Der Anspruch des Objektiven und das Recht auf Individuierung gehörten untrennbar zusammen, oder anders: Aufklärung über die Objektivität galt als Bedingung der Möglichkeit für Subjektivität, die wiederum nur durch das Spannungsverhältnis zur Objektivität der Dinge und Normen sich selbst aufklären und damit der Gefahr des blinden Subjektivismus entgehen konnte.

Dies war im Prinzip nicht strittig, strittig waren immer nur die Einzelaspekte: z. B. welche Fächer und welche Stoffe daraus warum besonders bildend waren. Zu bestreiten ist auch nicht, daß dieses Prinzip im schulischen Alltag oft bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt wurde, aber immerhin hat es sich doch als ein wichtiges Selbstverständnis der bürgerlichen Bildung und Erziehung bis gegen Ende der sechziger Jahre durchgehalten. Das änderte sich mit der Studentenbewegung und den sich daran anschließenden pädagogischen und bildungspolitischen Reformbewegungen. Die Paradoxie dieser Bewegungen besteht nun darin, daß sie einerseits angetreten waren, das Individuum aus unnötigen Zwängen der Gesellschaft zu befreien, und daß sie andererseits durch ihre Konzepte und durch ihre Maßnahmen das Individuum diesen Zwängen erst recht ausgeliefert haben. Wie war das möglich?

Meine These ist: Dies war möglich und sogar unausweichlich, weil der eben beschriebene Zusammenhang von Aufklärung und Subjektivität zerstört oder zumindest ignoriert wurde. Es war eben der antibürgerliche, bildungsfeindliche Affekt dieser Bewe-

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gung, der die Absicht, das Individuum zu stärken und zu befreien, ins Gegenteil verkommen ließ.

Nun kann man sich fragen, ob diese Entwicklung eine Konsequenz der reformpädagogischen Bewegung ist oder nicht vielmehr umgekehrt eine Folge dessen, daß sich die Reformabsichten nicht oder nicht genügend haben durchsetzen können. Meine These dazu ist, daß die pädagogischen Reformbewegungen zumindest die "nützlichen Idioten" für die Verbürokratisierung des Bildungssektors, für die Industrialisierung von Schule und Hochschule, für die Zerstörung von Aufklärung und Subjektivität gewesen sind. Dies soll im folgenden in einigen Punkten verdeutlicht werden.

I. Eines der wichtigsten Reformziele war und ist, die Lerneffektivität der Schüler zu erhöhen, das Lernen also mit wissenschaftlichen Methoden zu planen und zu organisieren. Nur dadurch - so glaubte man - könne die je subjektive Lernfähigkeit bis an die Grenze ihrer Leistungsmöglichkeit gesteigert werden. Alles, was dem im Wege steht, sollte wissenschaftlich erforscht und beseitigt werden. Was auf den ersten Blick ungemein plausibel klingt, hat jedoch Folgen. Wenn man die Effektivität des Lernens prüfen will, müssen die Lernprozesse meßbar werden; dies wiederum setzt voraus, daß die Lernziele möglichst präzise angegeben werden, damit man möglichst genau messen kann, ob sie auch erreicht wurden.

Zu diesem Zweck wiederum müssen komplexe Lernziele - z. B. einen Text verstehen und beurteilen können - in eine Reihe von Teillernzielen "zerlegt" werden (man nennt das »Operationalisieren"), denen Schülerreaktionen, z. B. Schülerantworten, möglichst eindeutig zugeordnet werden können.

Das Problem dabei ist jedoch, daß sich nicht alles einem solchen Verfahren unterwerfen läßt. Was z. B. an einem Text mehrdeutig ist, also der Interpretation bedarf, entzieht sich nämlich weitgehend diesen Zuordnungen. Man erkennt das u. a. an der Schwierigkeit, Aufsätze zu zensieren. Nun markiert aber gerade dieser nicht meßbare Spielraum an sachgerechter Interpretation den

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Punkt, wo die Subjektivität des Schülers sachgerecht sich entfalten könnte.

In dem Maße nun, wie durch die innere Logik der Lernzielformulierungen und der Effektivitätserhöhung dieser Spielraum eingeengt oder gar beseitigt wird, zerstört die zur Steigerung der subjektiven Fähigkeiten inszenierte Lerntechnik sowohl die Aufklärung wie die Subjektivität. Die Möglichkeiten zur Aufklärung deshalb, weil der originäre Zugang zur Sache durch vorweggenommene Lernziele verstellt und atomisiert wird; denn die Lernziele werden nicht mit der Absicht formuliert, die Sache selbst verständlich zu machen, sondern im Hinblick darauf, was man in bestimmten Lebenssituationen, z. B. in der Freizeit, mit dieser Sache machen könnte, genauer: wie man sich dort mit Hilfe dieser Sache verhalten könnte. Indem die curricularen Lernziele diese Vermittlung von Aufklärung und Subjektivität selbst generalisierend vorwegnehmen, betrügen sie das Individuum gleichsam um die Chance seiner eigenen Interpretation und Anwendung und damit um eigene Erfahrungsmöglichkeiten. Heraus kommt dabei nicht Individuierung, sondern die Unterwerfung der Individuen unter standardisierte Verhaltenserwartungen in standardisiert gedachten Situationen. Man könnte dies auch als eine totale Pädagogisierung bezeichnen, insofern der prinzipiell unüberbrückbare Gegensatz von Schule und Leben - der nur als je individueller Vermittlungsakt aufzuheben wäre - nun durch die Verschulung des Lebens - und deshalb irreal - gelöst wird. Der Betrug ist also ein mehrfacher: Erstens wird die Lebenswirklichkeit durch pädagogische Konstrukte verstellt; zweitens wird dadurch den einzelnen Subjekten die Chance genommen, sich selbst aufzuklären durch die Aufklärung dessen, was sie nicht selbst sind; drittens erhält das Lernen keinen subjektiven Sinn mehr, weil die Erfahrungen, die in einen Lernprozeß eingebracht werden, gleichsam nur als "Aufhänger" fungieren können, eben nicht als individuelle gelten gelassen werden, sondern nur, insofern sie sich der Standardisierung der gewünschten Verhaltensweisen in bestimmten Lebenssituationen unterwerfen. Gemessen daran ist es ganz gleichgültig, zu welchen unterrichtlichen Finessen man da greift: ob

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man vom Buchlernen abgeht und statt dessen Rollenspiele inszeniert oder mit reißerischen Schlagzeilen arbeitet oder sich sonst etwas einfallen läßt, was die blutleere pädagogische Provinz mit sogenanntem "Leben" füllen soll. Die nachgerade notorische Lebensferne der Schule, die andererseits ihre Chance wäre, insofern das Leben selbst eben nicht bildet, kann nur dadurch korrigiert werden, daß die außerschulischen Erfahrungen der Kinder, so wie sie sind, als Bestandteil des Unterrichts zugelassen werden. Die im modernen Curriculumsystem angelegte Industrialisierung der Lernprozesse kommt selbstverständlich einem Prüfungssystem entgegen, das unter dem Zwang des Numerus clausus, aber auch aus eigener bürokratischer Logik kein Interesse an individuellen Versionen von Aufklärung und Subjektivität haben kann.

2. Daß es sich hier keineswegs um eine zufällige Fehlentwicklung handelt, sondern um einen Aspekt eines komplexen pädagogischen Zeitgeistes, zeigt sich u. a. an den pädagogischen Hochschulen. Der Ruf nach Professionalisierung des Lehrerstudiums, also nach sogenannter Berufsbezogenheit und nach Praxisbezug, hat längst zu einer instrumentellen Studierhaltung geführt, die auf eigene Aufklärung und auf Entwicklung der eigenen Subjektivität verzichtet zugunsten der möglichst rentablen Unterweisung darüber, wie man die Kinder später zu den Lernzielen möglichst effektiv hinmanipulieren kann. Die Unfähigkeit der gegenwärtigen Studentengeneration, lesend wie zuhörend einem komplexen Gedankengang zu folgen und ihn zugleich mit der bisherigen Erfahrung zu konfrontieren, woraus dann so etwas wie Auseinandersetzung, Rückfragen, neue kognitive Interessen usw. entstehen könnten, wird allgemein beklagt. Meinungen und Standpunkte zu allen wichtigen Lebensfragen werden gleichwohl mit Entschiedenheit vertreten, aber sie werden vom Studium der Sachverhalte kaum noch beeindruckt, bleiben vielmehr sorgsam vor ihm geschützt. Unterschieden wird zwischen dem Standpunkt, den man hat und der als eine Art von sozialem Erkennungssignal fungiert, und dem Stoff, den man für äußere Zwecke, z. B. für Prüfungen und für die Manipulation von Kin-

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dern, lernt. Unter diesen Umständen kann sich natürlich die Hoffnung auf die sogenannte "Vermittlung von Theorie und Praxis" nicht erfüllen. Sie wäre nur zu leisten als eine je individuelle Vermittlung im Zusammenhang von Erfahrungen, Aufklärung und Subjektivität. Sie muß scheitern, wo das Studierte für die eigene Person etwas Fremdes, jederzeit Austauschbares ist. Was von den Reformern als "Verwissenschaftlichung der Lehrerausbildung" oder einfacher als Entwicklung von der Lehrerbildung zur Lehrerausbildung gefordert wurde, hat zu einer Mentalität geführt, die Aufklärung, Subjektivität und Individuierung weder für sich selbst will, noch später den Kindern zugestehen könnte.

Was die pädagogischen Reformer selbst mit zerstört haben, nämlich die Fähigkeit der individuellen Vermittlung, müssen sie nun zusätzlich organisieren. Der Ausfall der individuellen Fähigkeiten wird ersetzt durch eine Planung für alle, sei es durch sogenannte fächerübergreifende Lehrveranstaltungen, sei es durch die Verplanung der Praktika. Dies kann jedoch nicht gelingen, weil die eben beschriebene Mentalität des verdinglichten Studierens auch auf diese Weise die widersprüchlichen Informationen und Aspekte von Sachverhalten nicht zu einem Sinn zu integrieren vermag. Deshalb kann es auch nicht verwundern, wenn gerade in solchen Veranstaltungen ideologische Setzungen und Postulate im wesentlichen das Feld beherrschen. Wo die Vermittlung von Aufklärung und Subjektivität vorgekaut wird, handelt es sich allemal um Ideologie. Zudem wird durch solche pädagogischen Organisationen der Spielraum individueller Erfahrungen und deren Interpretation weiter eingeengt. So hat die Diplom-Studienordnung der Pädagogischen Hochschule Niedersachsen ausführliche Vorschriften für das Praktikum erlassen. Jedes Praktikum muß durch besondere Lehrveranstaltungen vorbereitet werden, jeder Praktikant von einem Lehrenden angeleitet und betreut werden; eine ganze Kommission wacht darüber, daß das auch geschieht.

Im Grunde heißt das, daß ein Student im 7. oder 8. Semester nicht für fähig gehalten wird, selbst in einer Schule oder einem Erziehungsheim Erfahrungen zu machen, sie mit seinem bisherigen Studium sinnvoll zu vermitteln und daraus weitere Perspekti-

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ven für dieses Studium abzuleiten. Vielmehr sollen andere ihm möglichst genaue Lernziele setzen, denen er dann nur noch seine Beobachtungen und Eindrücke zuordnen soll. So wird selbst in der wissenschaftlichen Hochschule durch schulmeisterliche Planung wegorganisiert, was gerade die Chance wäre: nämlich das rückhaltlose Sich-Einlassen auf eine Realität, die nicht zum Zwecke des Lernens für Studenten organisiert ist, sondern diesem Bedürfnis gleichgültig gegenübersteht.

3. Wo Subjektivität sich nicht durch Aufklärung abarbeiten kann, wird sie zum irrationalen Subjektivismus, der sich festsetzt auf augenblickliche Gefühle, Stimmungen und Bedürfnisse. Der Zerstückelung des Weltbildes und jedes systematischen Zusammenhangs von Vorstellungen durch curriculare Lernzielsequenzen entspricht die Hinwendung zur Unmittelbarkeit der Kommunikation. Es gibt seit einigen Jahren einen wahren Boom an pädagogischer Literatur, die sich mit den gruppendynamischen Zusammenhängen in der Schulklasse bzw. im Hochschulseminar befaßt. Sie wird ergänzt durch theoretische Konzepte über menschliche Interaktionen, die sich bezeichnenderweise am Ideal der herrschaftsfreien Kommunikation orientieren und nicht etwa an den realen gesellschaftlichen Beziehungen und ihrem jeweiligen Sinn für die menschliche Sozialisation.

Nun zeigt dieses starke Interesse zunächst einmal an, daß die menschlichen Beziehungen auf allen gesellschaftlichen Ebenen zunehmend problematisch geworden sind. Horst Eberhard Richter hat dies damit zu erklären versucht, daß auf allen gesellschaftlichen Ebenen - von der Familienerziehung bis zur politischen Auseinandersetzung - das Individuum durch die Drohung mit Isolation beherrscht wird. Dies ist zweifellos eine treffende Beobachtung. Die Drohung kann aber nur funktionieren - so muß man hinzufügen - wenn jede menschliche Kommunikation jederzeit zur Disposition gestellt werden kann, wenn also z. B. nicht mehr damit gerechnet werden kann, daß menschliche Beziehungen einem Mindestmaß an Krisen widerstehen können. Gerade diese Tendenz wird aber unterstützt durch jene, die die Chancen

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der unmittelbaren Kommunikation überfordern und ihr eine zu große Bedeutung beimessen. Denn die stabilisierenden, kontinuierliche Erfahrungen ansammelnden Aspekte können gerade nicht aus solcher Unmittelbarkeit erwachsen, sondern nur aus ihrer Transzendierung, eben aus ihrer Aufklärung. Die unmittelbare Kommunikation - sei es in der Familie oder in der Schulklasse - stiftet keine Tradition, keine biographischen Prozesse, sondern nur die Addition von situationsgebundenen Erlebnissen; sie kommt nicht vom Fleck und zwingt die Individuen nur immer wieder, sich total, d. h. nicht nur im Hinblick auf eine bestimmte Rolle, zur Disposition zu stellen. Dies mag einer der Gründe dafür sein, warum gerade in Gesamtschulen, die ja in besonderem Maße mit häufig wechselnden Gruppen arbeiten, aggressives Verhalten der Schüler so augenfällig ist. Konsequent zu Ende gedacht, gibt es für das der Unmittelbarkeit derart ausgelieferte Individuum keine persönliche Vergangenheit, keine von ihm selbst zu planende Zukunft mehr, sondern nur noch eine zeitliche Augenblicksexistenz, die von der Hand in den Mund lebt.

Bei vielen Reformpädagogen gerade auch unter den Lehrern gilt die Hinwendung zur Gruppe, also zur Schulklasse, das Anknüpfen an die dort vorliegenden Interessen und Bedürfnisse als unabdingbar für demokratischen Unterricht. Die Unterrichtsstoffe und ihre Perspektiven sollen möglichst aus solchen unmittelbaren Kommunikationen erwachsen und von daher definiert werden. Auch dies ist auf den ersten Blick ungemein plausibel. Das Problem besteht aber darin, daß die dabei formulierten sogenannten Bedürfnisse und Interessen der Schüler so, wie sie sind, festgeschrieben werden, nicht aus sich heraus können. Systematischer Unterricht wird so zu einer Sequenz von Geplauder, schlimmstenfalls von Geschwätz, weil er die Schüler gleichsam mit ihren Bedürfnissen und Interessen ins Leere laufen läßt. In diesem Dunstkreis entstehen jene schon bei Studenten feststellbaren Meinungen und Standpunkte, die sich durchs Denken nicht mehr belangen lassen, sondern nur noch dem sozialen Durchsetzungsvermögen dienen. Nicht Kritikfähigkeit wird hier trainiert, sondern der Umgang mit Phrasen und Schlagworten.

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Durch die Unterordnung der Schüler unter die Gruppe werden diese nicht nur sozial, sondern auch intellektuell unentwegt zur Disposition gestellt. Denn die Lernziele, mit denen der schulmeisterliche Zwischenhandel sie von den Originalen trennt, sind für sie konstruiert, in einem Verfahren, das ihnen undurchschaubar bleiben muß und an dem sie nicht beteiligt sind. Zudem werden in den Gruppen intellektuelle Bedürfnisse und Interessen durch Mehrheiten entschieden, nicht im Kontext individueller biographischer Perspektiven. Die Analogie zur Organisation der entfremdeten Arbeit liegt hier auf der Hand. Wenn es z. B. darum geht, einen politischen Text, z. B. den Katalog der Grundrechte, zu verstehen, dann liegt nach traditioneller Auffassung den Schülern dieses Original vor, und sie müssen es im Kontext seiner Bedeutung und in Konfrontation mit ihren eigenen Erfahrungen sich erarbeiten. Vielleicht interessiert sie dieser Text nicht, vielleicht verstehen sie ihn nicht, vielleicht verweigern sie die Mitarbeit. Dies gilt vielen Reformpädagogen als eine schlimme Kränkung ihre beruflichen Ehre; es ist ihnen dann, wie sie meinen, nicht gelungen, die Schüler zu motivieren. Als ob außerhalb der Schule die Menschen immer motiviert wären für das, was sie nun einmal tun müssen. Wo die Schule aufhört, die Kinder mit dem Anspruch des Objektiven zu konfrontieren, wird sie im Vergleich zur Massenkommunikation überflüssig, wird sie zu einer bloßen Bewahranstalt, weil die berufstätigen Eltern die Kinder in dieser Zeit nicht gebrauchen können. Aber wie dem auch sei: Auch im Falle des Desinteresses der Schüler läge das, worum es ginge, offen auf dem Tisch.

Wenn jedoch dieser selbe Text, der Katalog der Grundrechte, unter vorweg entwickelte Lernziele subsumiert wird, dann liegt das, worum es geht, nicht mehr offen auf dem Tisch, dann wird daraus vielleicht nur ein kleiner Teil benötigt, vielleicht nur ein Satz, der als Material für die Veranschaulichung des Lernziels gebraucht wird. Der sachliche Zusammenhang wird gesprengt und atomisiert, das Lernen wird additiv, wenn der Schüler ein solches Teilstück verstanden hat, weiß er nicht, was er nun verstanden

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hat. Durch die Subjektivierung alles dessen, was objektive Bedeutung hat, wird Subjektivität planmäßig verhindert.

Unsere These ist, daß die gegenwärtige Reformpädagogik den Durchbruch industriell-bürokratischer Prinzipien im Bildungsbetrieb, den Umschlag des Lernens in entfremdete Arbeit, die Zerstörung individueller Bildungsgänge selbst verursacht hat, obwohl das Gegenteil ihre erklärte Absicht war. Diese wenigen Beispiele müssen hier als Beleg genügen. Ganz falsch ist jedenfalls die unter vielen Reformpädagogen vertretene Ansicht, Schuld an der nachgerade sozialpathologischen Situation in unserem Bildungssystem habe allein die gegenreformatorische Bürokratie. Diese hätte vielmehr ihren Siegeszug ohne die Schützenhilfe der Reformer nicht so schnell antreten können.

Bleibt zum Schluß die Frage nach den Gründen für diese Selbsttäuschung. Einige davon können hier nur noch angedeutet werden, sie beleuchten jedoch noch einmal auf andere Weise, was mit pädagogischem "Zeitgeist" gemeint ist.

1. Im Unterschied zur früheren Reformpädagogik der Weimarer Zeit, die sich als längst fällige historische Durchsetzung der durch den Obrigkeitsstaat lange behinderten modernen pädagogischen Prinzipien verstand, ist die gegenwärtige Reformpädagogik nahezu völlig geschichtslos. Ihre Konzepte entstanden nicht in der konkreten Auseinandersetzung mit überlieferten Lehrplänen und Bildungszielen, sondern wurden gleichsam vom historischen Nullpunkt aus am Schreibtisch konstruiert. Die Vergangenheit wurde gleichsam liquidiert, so daß auch die Gründe dafür, warum und an welchen Punkten das überlieferte Bildungsideal fraglich geworden war, nicht ins Bewußtsein dringen konnten. Über Bord gingen dabei fast notwendigerweise auch jene Maximen, von denen hier die Rede war und die einer Aufbewahrung bzw. einer Neuformulierung würdig wären. Dieser geschichtslosen Mentalität kommt die logische Konstruktion von Curricula natürlich entgegen. Sie kann sich nicht einlassen auf historische Kritik, historische Korrektur, ihr Verfahren zwingt sie dazu, logisch-systematisch vorzugehen. Auch einen industriellen Produktionspro-

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zeß würde man nicht als historische Korrektur früherer Verfahren organisieren - diese bleiben allenfalls museale Erinnerung - sondern nach den Gesetzen des höchstmöglichen Profits. Wenn das nicht reibungslos geht, weil z. B. die Gewerkschaften auf bestimmte Erinnerungen nicht verzichten wollen, dann ist das ein leider nicht zu umgehender Störfaktor.

2. Mit dieser historischen Ahnungslosigkeit hängt zusammen das theoretische Defizit der Reformbewegung. Die Begründungen sind durchweg dürftig und vordergründig und zudem einem schnellen modischen Verschleiß unterworfen. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse werden begierig aufgegriffen, aber ohne Kontinuität und Erfahrung verwendet, bis man sie wieder fallen läßt. Die Reformpädagogik hat keine Theorie des Unterrichts, der Schule oder des Kindes hervorgebracht. Sie lebt nach wie vor theoretisch von der Hand in den Mund. Auch an diesem Punkt unterscheidet sie sich ganz wesentlich von der alten Reformpädagogik.

3. Gemeinsam mit der alten Reformpädagogik hat sie aber die Hoffnung, man könne das, was politisch mißlungen ist, auf pädagogischem Weg doch noch realisieren. Von daher sind eine ganze Reihe von widersprüchlichen und konfusen politischen Erwartungen in die Reformhoffnungen eingegangen, aber auch sie blieben bloße Postulate und ohne theoretische Wirkung.

4. Die pädagogische Reformbewegung ist nur von bestimmten Gruppen in unserer Gesellschaft getragen worden. Abgesehen von den relativ zurückhaltenden Gewerkschaften gehörten dazu vor allem die Volksschullehrer und die Lehrkräfte an den pädagogischen Hochschulen, hier insbesondere der sogenannte "Mittelbau". Die pädagogischen Reformvorstellungen waren von vornherein eingebunden in standespolitische Ziele, und viele Konzepte hatten ihre Funktion nicht zuletzt darin, eine Art von Aufstiegsideologie gegen die herkömmliche wissenschaftliche und bürgerliche Bildung und ihre Repräsentanten zu formulieren.

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Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum pädagogische Planungen und Verplanungen in diesen Konzepten eine so große Rolle spielten; sie liegen von Berufs wegen nahe. Andererseits wird von daher auch erklärlich, warum es so schwierig war und ist, über bestimmte Prämissen dieser Reformpädagogik öffentlich zu diskutieren: solche Bemühungen rufen nicht nur Argumente, sondern auch standespolitische Reaktionen hervor.

Als Fazit läßt sich jedenfalls festhalten: Wenn die beschriebenen Tendenzen nicht nur vorübergehende Mode bleiben, sondern sich auf die Dauer voll durchsetzen, dann wird es keine bürgerliche Bildung und Erziehung mehr geben, also eine solche, der es wenigstens auch um Individuation und Autonomie geht; der Sozialisationstypus, der dann zum Durchbruch kommt, ist heute erst in Umrissen erkennbar. Es wird aber einer sein, der sich sozial und intellektuell jeder Zeit für von außen kommende Ansprüche zur Disposition stellt.

Zur Frage, ob die bürgerliche Erziehung am Ende sei, läßt sich also sagen: Möglicherweise gelingt es dem Zusammenspiel von Bürokratie und sich fortschrittlich dünkender Reformpädagogik, den Prinzipien der bürgerlichen Bildung und Erziehung endgültig den Garaus zu machen, die ohnehin nie in reiner Form realisiert wurden und bisher sowieso nur einer Minderheit zugute kamen. Ohne Zweifel war bürgerliche Bildung Standes- und Klassenbildung, und der Hinweis darauf, daß die große Mehrheit der Heranwachsenden immer davon ausgeschlossen war, bleibt ein ernst zu nehmendes politisches Argument. Aber man kann daraus zwei entgegengesetzte Schlüsse ziehen: Man kann für die Liquidation von utopischen Prinzipien plädieren, weil sie sich nicht haben durchsetzen können und Privileg für eine Minderheit geblieben sind. Man kann aber auch die Frage prüfen, ob unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen und materiell-ökonomischen Bedingungen dieses Privileg zum ersten Mal in der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft nach unten sozialisiert und damit beseitigt werden, also zur Chance für eine ganze nachwachsende Generation werden könnte. Die großen Leitziele für die Erziehung der heranwachsenden Generation wie "Mündigkeit" und "Emanzipa-

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tion", denen ja auch die gegenwärtigen Reformpädagogen verpflichtet sind, entstammen jedenfalls dem Horizont der bürgerlichen Bildungsprinzipien und sind ohne sie nicht denkbar: Nimmt man also an, daß die bürgerliche Erziehung an ihrem historischen Ende sei, dann bedeutet dies auch das Ende jener pädagogischen Leitvorstellungen und darüber hinaus das Ende derjenigen politischen Prinzipien, auf denen unsere gesellschaftliche Verfassung und der Katalog der Grundrechte beruhen. Dieser Zusammenhang sollte zumindest Grund genug sein, vorsichtig mit anti-bürgerlichen Parolen umzugehen. Eine Alternative zur bürgerlichen Erziehung ist jedenfalls in den fortgeschrittenen Industrieländern einschließlich der sozialistischen nicht in Sicht, und derjenige Sozialisationstypus, der sich im Augenblick durchzusetzen beginnt, nämlich der jederzeit und vorbehaltlos sowohl intellektuell wie emotional disponible Mensch, der jederzeit jedermann zur Verfügung steht, ist keine Alternative zur bürgerlichen Erziehung, sondern markiert nur deren Liquidation; er benötigt keine irgendwie geartete Leitvorstellung, weil er keine Distanz zur Unmittelbarkeit gesellschaftlicher Ansprüche und zur "Normativität des Faktischen" benötigt.

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110. Spontaneität und Bürokratie (1977)

Überlegungen zu Horst Eberhard Richters Buch "Flüchten oder Standhalten?"

(In: Neue Sammlung, H. 2/1977, S. 200-204)
 
 

Wie alle Bücher des Gießener Psychoanalytikers Horst Eberhard Richter, so hat auch sein letztes, unter dem Titel "Flüchten oder Standhalten?" im Rowohlt-Verlag erschienen, eine zentrale These: Wir werden beherrscht und manipuliert durch die Drohung mit Isolation, durch die Drohung, aus einer wichtigen menschlichen Beziehung ausgeschlossen zu werden. Das beginnt bei der Kindererziehung: Die Mütter bedrohen ihre Kinder, indem sie sie mit Trennungsangst disziplinieren, die Eltern bedrohen sich gegenseitig, die Kollegen untereinander, die Chefs die Untergebenen usw. Jeder versucht, seine eigene Angst vor Isolation dadurch zu bewältigen, daß er die Angst der anderen vor ihr dazu benutzt, diese anderen an sich zu binden, damit sie seine eigene Angst bannen. Aber das kann nicht gelingen, denn auch derjenige, der in einer menschlichen Beziehung der Mächtigere ist und deshalb andere von sich abhängig halten kann, gerät in die Isolation. Wer auf der Chef-Etage sitzt, erkauft seinen Status-Vorteil mit einem mehr oder weniger hohen Maß an Einsamkeit. Karriere ist eine Art von psychischem Selbstmord auf Raten. Die Trennungsangst wird von einem zum anderen weitergegeben und kommt doch immer wieder auf den Absender zurück.

Richter spielt diese bedrückende Analyse für verschiedene Lebensbereiche durch: für die Erziehung, den Beruf, die Verwaltung, das Gesundheitswesen, die Politik. Überall in seinem Leben findet sich der Mensch in Situationen, in denen die Erfahrung der frühkindlichen Trennungsangst wieder auftaucht; nicht zuletzt dies macht ihn manipulierbar. Besonders beeindruckend ist das Kapitel über die sozialen Berufe, weil es zeigt, daß dieses neurotische Beziehungsmuster gerade hier - gleichsam als Diakonie-Syndrom eine erhebliche Rolle spielt:

"Es findet sich allenthalben bei solchen Lehrern, Krankenschwestern, Sozialarbeitern, Ärzten usw., die in einem Maße auf eine emotionelle Bestätigung seitens ihrer Betreuten angewiesen sind, das sich nicht mehr mit ihrem professionellen Auftrag vereinbaren läßt. Sie mißbrauchen ihr Amt, um genau die Prinzipien der zitierten Manipulationskette zu realisieren, bei welcher der jeweils sozial Mächtigere seine innere Abhängigkeit dadurch abdeckt, daß er den Anklammerungszwang anderer verstärkt und bedingungslos auf sich fixiert" (S. 150).

Wie kann man nun seine Überzeugung, Identität und Individualität durchhalten angesichts dieser Realität? Wie kann man, statt zu flüchten, ihr standhalten? Richters Antworten deuten dafür nur die Richtung an, wobei er auf

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seine früheren Arbeiten über die Spontangruppen zurückgreift. Die Isolation ist überwindbar, wenn die Menschen gemeinschaftlicher, ganzheitlicher und spontaner arbeiten: gemeinsam sind sie weniger bedrohbar als einzeln; wenn sie ihre spezialistische Funktion, also ihre offiziell definierte Kompetenz überschreiten und eine Aufgabe ganzheitlich angehen, sind sie weniger bedroht, als wenn sie sich mit der vorgegebenen Rolle abfinden; wenn sie mit anderen spontan handeln, anstatt abzuwarten, bis auf dem Dienstwege durch die Institutionen etwas geschieht, haben sie eine größere Chance, ihre Bedürfnisse umfassend einzubringen. Richter plädiert also erneut für die Bildung von Gruppen "an der Basis", für das "Lernziel Solidarität" - im Sinne einer Gegenwelt, die die verkrustete institutionelle Arbeitsteilung nicht aufheben, aber doch zu einer Reform zwingen soll: "Es ist ein Vorurteil zur Selbstrechtfertigung einer allenthalben hierarchisch strukturierten Arbeitsorganisation, daß nur der Druck von Kontrolle und Sanktionen eine Bereitschaft zu gleichbleibender verbindlicher Leistung sichere."

Dies alles wird erfahrungsträchtig, anschaulich, mit Leidenschaft und auch für Laien verständlich entfaltet; kein Wunder, daß das Buch wieder ein Bestseller wurde. Das liegt nicht nur am Thema, sondern auch an den schriftstellerischen Fähigkeiten des Autors. Gerade wegen der öffentlichen Wirkung rechtfertigen sich aber auch einige kritische Anmerkungen und Präzisierungen.

Im Grunde kritisiert Richter das, was man seit langem "Entfremdung" nennt. Und es ist die Frage, welche Reichweite zu ihrer Bekämpfung den von ihm favorisierten Spontan-Gruppen zugestanden werden kann, zumal - wie Richter selbst sieht - der beschriebene Kreislauf von Isolationsangst und Isolationsdrohung sich in nicht wenigen solcher Gruppen gerade in voller Barbarei entfaltet. Möglicherweise ist gerade der zunehmende Zwang, sich in immer mehr Gruppen zu präsentieren, zu behaupten, zu legitimieren, seine Identität durchzuhalten, eher die Krankheit selbst als ihre Heilung. Er treibt das Individuum zur ständigen totalen Selbstinszenierung, läßt morgen schon wieder ungesichert, was heute mühsam errungen wurde, stiftet keine Kontinuität, akkumuliert keine Erfahrung, tilgt das Gedächtnis und führt nur zur Wiederkehr des Immergleichen, ohne daß man im historischen wie im biographischen Sinne vom Fleck käme. Institutionen und ihre funktionalisierten und hierarchisierten Regelungen, deren subjektive und objektive Bedeutung für die Regelung gesellschaftlicher Verhältnisse Richter offensichtlich unterschätzt, bringen nicht nur Probleme, sondern auch Entlastungen für die menschlichen Beziehungen, und vielleicht käme es in Zukunft gerade darauf an, das Individuum mit derartigen nicht wählbaren Kommunikationen etwas mehr in Ruhe zu lassen. Ohne institutionelle Regelungen - wie problematisch und reformbedürftig sie im einzelnen auch sein mögen - gäbe es keine Tradition, keine halbwegs humane gesellschaftliche Ordnung, keine Kontinuität, kein verläßliches Rechtswesen, keine organisierte Bekämpfung von Armut und Ungerechtigkeit, keinen gesellschaftlichen Fortschritt, keinen Schutz der Schwachen, sondern nur das Chaos diffuser Interessen und Bedürfnisse. Die

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Beschränkung des menschlichen Handelns durch Rollen und institutionelle Vorschriften macht dieses auch für andere kalkulierbar und läßt insofern überhaupt erst planmäßigen Widerstand zu, der sich nicht in wirren Rundumschlägen verbrauchen muß, bevor er überhaupt sein Ziel findet.

Zudem hat die Drohung mit Isolation auf den verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen wohl unterschiedliche Bedeutung. Die Angst des Kindes vor dem Verlust der Mutter ist eine Sache; auf der beruflichen Ebene ist die Drohung mit Isolation wohl eher ein Instrument, das eigentlich Bedrohliche aber etwas anderes: die Furcht des Angestellten, "nicht weiter zu kommen", die Furcht des Arbeiters vor Arbeitslosigkeit. Die Frage ist, was einem durch solche Drohungen weggenommen werden kann und wie wichtig das einem ist.

Spontane Kommunikationen haben nur dann die von Richter erhoffte Wirkung, wenn man sich die Partner aussuchen kann, und das ist in beruflichen und politischen Beziehungen allenfalls zufällig und teilweise möglich. Versucht man es hier trotzdem, so führt das entweder zur Manipulation aller durch alle oder zu einem ungeheuren Verschleiß an emotionalen Kräften auf Kosten der sachlichen Ziele. Mir ist da jene altmodische Trennung von "Privat" und "Öffentlich" immer noch einleuchtender, die die Tatsache der entfremdeten Gesellschaft voraussetzt, Ganzheitlichkeit, Spontaneität und Gemeinschaftlichkeit eher den privaten, selbstgewählten Beziehungen überläßt, durchaus im Sinne einer Kompensation, und die damit die funktionalen, arbeitsteiligen Beziehungen der Menschen von unangemessenen, weil dort nicht ohne Strafe für alle realisierbaren emotionalen Erwartungen entlastet. Das bedeutet nicht, daß spontane Organisation von Bedürfnissen an der Basis - zum Beispiel in Bürgerinitiativen - nicht gefördert und gefordert werden sollte. Nur werden solche Initiativen, je länger sie dauern und je erfolgreicher sie sein wollen, desto mehr ihre Spontaneität zugunsten der üblichen Organisationsformen verlieren, also auch wieder funktional versachlicht werden müssen. Meine Vermutung ist - Richter hat sie selbst bei der Analyse des Scheiterns von Spontangruppen im sozialpädagogischen Bereich bestätigt -, daß viele Menschen insbesondere aus der jüngeren Generation aus welchen Gründen auch immer nicht in der Lage sind, verläßliche private Beziehungen miteinander einzugehen, die jene Wünsche nach Totalität erfüllen können, und daß sie diesen Mangel nun auf die Bereiche von Beruf und Politik projizieren; das aber kann deren humaner Regelung nur schaden. Es gibt seit einigen Jahren - besonders an den Hochschulen zu beobachten - eine Vorstellung von Politik, die Ziele, Mittel und Regeln ganz ungeniert nach dem chaotischen Muster persönlicher Stimmungen definiert. Da reden Leute von "Solidarität", die einander nicht über den Weg trauen und durch listige oder gar betrügerische Formalismen einander bei der Stange halten. Das ist nicht die Reform, sondern das Ende von Politik - frei nach Sartres Satz: "Die Hölle - das sind die anderen!"

Das von Richter beschriebene System der Manipulation durch Isolierung kann doch nur funktionieren, insoweit die Menschen kein soziales Refugium,

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keinen emotionalen "Heimathafen" mehr haben, wo sie sicher sein können, so angenommen zu werden, wie sie nun einmal sind, und aus dem sie die Kraft schöpfen können, die Versagungen der entfremdeten Gesellschaft nicht nur erhobenen Hauptes zu ertragen, sondern auch so weit wie möglich für deren Humanisierung zu sorgen. Freilich ist fraglich, ob in Zukunft dieses Refugium allein die Familie sein kann, oder ob nicht andere selbstgewählte Primärgruppen-Beziehungen - vielleicht unter Einschluß der Familie - dafür nötig sind. Es ist richtig: die Maßstäbe für Humanität können nur noch aus der Erfahrung geglückter menschlicher Beziehungen und der wechselseitigen Erfüllung fundamentaler menschlicher Bedürfnisse entstehen. Dies wäre, nachdem die mit den kapitalistischen Werten konkurrierenden traditionellen Normen, z.B. die kirchlichen, wirkungslos geworden sind, die einzige Quelle möglichen Widerstandes. Nur muß man sehr genau sehen, in welcher Art von Beziehungen bzw. an welchen Orten des sozialen und gesellschaftlichen Systems sie möglich und wirksam sind. Es käme darauf an, gerade mit Hilfe psychoanalytischer Erkenntnisse und Methoden die Menschen fähiger zu machen, verbindliche und geglückte Primärbeziehungen zueinander einzugehen, aber das schließt die rationale Distanz zu gesellschaftlichen, z. B. beruflichen und politischen Beziehungen ein. Die Ausbeutung des Menschen wäre vollkommen, wenn man ihm einreden könnte, moderne gesellschaftliche Systeme könnten seine Bedürfnisse umfassend erfüllen, wenn man dort nur neue psychologische und kommunikative Regeln zulasse. "Standhalten" kann das Individunm den gesellschaftlichen Ansprüchen nur in dem Maße, wie es sich nicht mit ihnen identifiziert, sondern Distanz hält, wie es sozusagen die Tatsache der Entfremdung in seine Handlungsmotivation mit aufnimmt. Dies kann es allerdings nicht allein, sondern nur in der Solidarität von Bezugsgruppen, in denen es sich "zu Hause" fühlen kann. Der gefährliche Nachteil aller modernen Gruppen- und Interaktionsmodelle ist, daß sie diese Grenzen verwischen und deshalb Illusionen leicht fördern, die sie eigentlich aufklären müßten. In der entfremdeten Gesellschaft ist "Standhalten" und "Überleben", so scheint mir, vor allem eine Frage der richtigen Kompensation am richtigen sozialen Ort.

Dennoch ist Richters ständiger Hinweis darauf ernstzunehmen, daß die institutionalisierte Bürokratie um so unfähiger zu sachgerechtem Handeln werde, je mehr sie Einzelheiten zu regeln versuche und je mehr sie die menschlichen Sachverhalte ihren eigenen Regeln und Verfahrensweisen anpassen wolle, anstatt möglichst flexibel auf sie zu reagieren. Gerade der Kultus- und Sozialbereich bietet nachgerade genug Beispiele dafür, wie konsequent durchbuchstabiertes Verwaltungshandeln weniger Probleme löst als produziert. Mehr Kompetenz an die unteren Ebenen zu geben, wie Richter fordert, ist zwingend nötig, wenn das System sich in Zukunft nicht mit einem gewaltigen Kostenaufwand selbst lahmlegen will. Schlimm ist nicht nur, daß das System Fehler macht, sondern vor allem, daß niemand mehr persönlich dafür zur Verantwortung gezogen werden kann, daß das System also seine Verantwortung weg-verwaltet. Ohne ein System persönlicher Verantwort-

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lichkeit würden aber auch Gremien und Gruppen an der Basis alles nur noch schlimmer machen. Mehrheiten, die irgendwelche Beschlüsse fassen, können für deren Folgen genau so wenig zur Verantwortung gezogen werden wie die bürokratischen Amtsträger. Delegation von Kompetenz nach unten müßte also einerseits den Handlungsspielraum der unteren Amtsträger erweitern, andererseits aber auch ganz neue lokale Kontroll- und Kritikinstanzen zulassen. Der Sinn von Spontangruppen und Bürgerinitiativen wäre nicht, die Arbeit der bürokratischen Amtsträger ganz oder teilweise zu übernehmen, sondern deren Handeln mit den unmittelbaren Bedürfnissen und Interessen der Bevölkerung zu konfrontieren und es so zur Rechenschaft zu ziehen. Der epochale Konflikt zwischen Bürokratie und den Bedürfnissen der Bürger hat gerade erst begonnen, und der Kampf um "mehr Demokratie" wird in Zukunft zweifellos vor allem an dieser Front ausgetragen werden.

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 URL des Dokuments: http://www.hermann-giesecke.de/werke14.htm

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