Hermann Giesecke
Lob des Zwischenhandels 2

Zur Handlungsrelevanz von Erziehungswissenschaft

In: Hoffmann, Dietrich/Gaus, Detlef/Uhle, Reinhard (Hrsg.): Pädagogische Theorien und pädagogische Praxis. Hamburg 2005, S. 97-105

© Hermann Giesecke




Erich Weniger hat in seinem Vortrag über "Theorie und Praxis in der Erziehung" aus dem Jahre 1929 ein Problem behandelt, das sich seitdem eher noch verschärft hat und nach wie vor letzten Endes Ratlosigkeit hinterlässt, jedenfalls einer befriedigenden Lösung keineswegs näher gekommen zu sein scheint. Die Rede ist vom wechselseitigen Verhältnis von wissenschaftlicher, an den Hochschulen formulierter pädagogischer Theorie einerseits und pädagogischem Bewusstsein in der Praxis andererseits. Dass es damit schon damals nicht zum Besten stand, wenige Jahre nach der Einrichtung der pädagogischen Akademien, deren Theoriebildung im Unterschied zur Arbeitsweise der Universität immerhin auf die besondere Handlungslage von Lehrern eingestellt werden sollte, ist besonders bemerkenswert. Das "Misstrauen der Praxis" kollidiert bereits mit der "Überheblichkeit der Theorie".

Manches von dem, was Weniger zu diesem Problem ausführte, leuchtet nach wie vor ein: Dass Lehrer und Erzieher auch ohne Wissenschaft immer schon einem vorgängigen Theorieverständnis folgen, wenn sie pädagogisch handeln; dass dieses Verständnis unaufgeklärt bleiben, durch kollektive Rückversicherung verfestigt und ein ganzes Berufsleben lang zur selbstgerechten Rationalisierung von Fehlverhalten missraten kann, weil die Erfahrungen, auf die man sich dabei beruft, möglicherweise kritikresistent strukturiert und organisiert sind. Die so genannten "Erfahrungen" der Praktiker, aus deren Fundus sie pädagogisch handeln, können nämlich, obwohl in einer bestimmten historischen Situation erworben, für übergeschichtlich allgemeingültig gehalten werden und so organisiert sein, dass sie stets Recht behalten, wie immer auch die Wirklichkeit sich verändern mag. Im Falle des Widerspruchs wird dann nicht die falsche Theorie belangt, sondern die Wirklichkeit - also etwa das Fehlverhalten der Schüler. Zu korrigieren seien solche Fehlentwicklungen des pädagogischen Bewusstseins nur durch eine angemessene theoretische Reflexion sowohl auf der Ebene der in jeder Praxis bereits vorhandenen Theorien als auch durch Auseinandersetzung mit den von den Hochschulen ausgehenden Theorieangeboten. Die Schwachstellen der Theorie der Praktiker beschreibt Weniger ausführlich und nicht ohne Schärfe, und man kann daraus wohl schließen, dass zu jener Zeit die im Wesentlichen konservativ-traditionell bestimmte pädagogische Praxis sich konfrontiert sah mit den von den neuen Hochschulen ausgehenden reformpädagogischen Impulsen und sich diesen unter Berufung auf die eigenen Erfahrungen zumindest teilweise zu widersetzen trachtete.

Fehlentwicklungen der genannten Art sollen die Praktiker - so Weniger - durch eine "echte" Theorie ihrer Praxis überwinden. Aber wie kann eine solche Selbstreflexion stattfinden? Was unterscheidet also eine "echte" Theorie von einer unechten? Tatsächlich stoßen wir hier auf eine Schwachstelle der Argumentation, nämlich bei Wenigers Unterscheidung von "Theorien ersten und zweiten Grades", die im Bewusstsein der Praktiker angeblich eine Kombination eingehen.

"Theorie zweiten Grades ist alles, was auf irgendeine Art formuliert im Besitz des Praktikers

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vorgefunden und von ihm benutzt wird, in Lehrsätzen, in Erfahrungssätzen, in Lebensregeln, in Schlagworten und Sprichwörtern und was es so gibt. Dabei ist die Theorie zweiten Grades freilich nicht immer bewußt im Sinne der ausdrücklichen Verfügbarkeit in sprachlicher Prägnanz, sie ist also nicht immer gegenwärtig, obwohl sie gewußt wird. Es bedarf oft der Besinnung und des ausdrücklichen Bemühens, um sie hinter einem Tun wirkend nachzuweisen. Aber immer läßt sie sich dann in die Form eines Satzes prägen, mit dem Anspruch auf logische Gültigkeit und Verstehbarkeit bei Verwendung als Beweismittel." (S. 17).

Die Beschreibung dieses rationalen Theorieanteils ist ohne weiteres nachvollziehbar, er ist gelernt und abrufbar sowie einer sprachlichen Verständigung zugänglich. Zumindest große Teile davon könnten gewiss in der Ausbildung auch vermittelt und in Fortbildungen kritisch überprüft werden. Dagegen irritieren Wenigers Ausführungen zur Theorie ersten Grades.

"Theorie ersten Grades ist ... die unausdrückliche Anschauung ... , die Voreinstellung, die unausgesprochene Fragestellung, die an die Wirklichkeit und die Aufgabe herangebracht wird, das Gerichtetsein auf Gegenstand und Aufgabe, ... die eingehüllte Rationalität, die in der geistigen Haltung des Menschen liegt, die anrufende und gestaltende Kraft, die in der inneren Form des Menschen immer schon enthalten ist ... das weltanschauliche Apriori, das ein ethisches Apriori in sich schließt ... das Apriori der pädagogischen Haltung und des erzieherischen oder pflegerischen Willens, das Ethos der erfahrenen und gewollten Verantwortung." (S. 16f.)

Wenn man das liest, fragt man sich, was ein Lehrer damals - von heute ganz zu schweigen - mit einer solchen Beschreibung seiner aufs Handeln bezogenen "Theorie" anfangen sollte. Planmäßig lehrbar und lernbar ist davon offensichtlich nichts, man hat es oder man hat es nicht. Am ehesten verständlich wäre noch, wenn damit gemeint wäre, was Weniger an einer früheren Stelle von Heidegger zitiert, dass nämlich "das durchschnittliche vage Seinsverständnis durchsetzt sein (kann) von überlieferten Theorien und Meinungen über das Sein, so zwar, dass dabei diese Theorien als Quellen des herrschenden Verständnisses verborgen bleiben." (S. 539) Damit wäre hingewiesen auf tief gehende Verwurzelungen pädagogischer Vorstellungen in kulturellen Traditionen, selbstverständlichen Vorannahmen und kollektiv unbewussten Dimensionen. "Zeitgeist" in unserem heutigen Sinne wäre dafür wohl schon eine zu rationale Charakteristik, obwohl die hier zum Ausdruck kommenden lebensphilosophischen Spekulationen entsprechend zu interpretieren wären. Aber in erster Linie ist wohl die grundsätzliche Haltung gemeint, die den Erzieher als Erzieher mehr im Sinne einer Berufung als einer Berufstätigkeit im üblichen Sinne auszuzeichnen hat - fundiert nicht zuletzt durch ein normatives Apriori.

Unklarer wird diese Argumentation noch dadurch, dass diese beiden Theorieanteile in ein bestimmtes Verhältnis zueinander treten sollen.

"Man wird einer echten Theorie des Praktikers abverlangen dürfen, daß in ihr, was wir Theorie ersten und zweiten Grades nannten, richtig zueinander steht. Daß also die ausdrücklichen, sprachlich gestalteten 'Erfahrungssätze', über die der Praktiker verfügt, nicht sich in Widerspruch befinden zu den ursprünglichen Theorien, die er, wenn man so sagen darf, an sich besitzt. Seine Erfahrungssätze müssen Ausdruck der Weltstellung und der Grundhaltung des Erziehers sein." (S. 17)

Was immer für den pädagogischen Beruf gelernt wird oder werden soll, muss sich also an jenem erzieherischen Apriori messen lassen, darf ihm jedenfalls

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nicht widersprechen, weil sonst die Theorie nicht "echt" sein kann. Weniger glaubte also, in diesem erzieherischen Apriori ein Fundament gefunden zu haben, das selbst nicht zur Disposition steht, sondern lediglich mit Hilfe "echter" theoretischer Reflexion ins Bewusstsein genommen werden muss. Diese Voraussetzung verdiente eine genauere Analyse, was uns hier jedoch vom eigentlichen Thema abführen würde. Deshalb sei lediglich darauf hingewiesen, dass diese Argumentation noch nicht die moderne Professionalisierung pädagogischer Berufe und die daraus resultierende Partikularität des Selbstverständnisses und der erzieherischen Aufgabenstellung kennt. Festzuhalten bleibt aber Wenigers Forderung, dass die Erzieher befähigt werden müssen, ihr praktisches Bewusstsein einer kritischen Prüfung zu unterziehen.

Dafür soll nun auch die von der Hochschule ausgehende Theorie, gleichsam eine "Theorie dritten Grades", sorgen. An diese stellt Weniger jedoch eine wichtige Bedingung, an der die folgenden Überlegungen anknüpfen sollen.

"Voraussetzung" sei nämlich "die Befangenheit des Theoretikers in der pädagogischen Aufgabe und an das pädagogische Tun. Er muß die Verantwortung der Praxis teilen, ihre Ziele bejahen, von der Verantwortung und von den Zielen aus denken, damit er die Aufgabe überhaupt in den Blick bekommt, damit die Wirklichkeit für ihn nicht stumm bleibt. Man sieht hier nur als Befangener. ... Diese Befangenheit schließt ein, daß auch der pädagogische Theoretiker die pädagogische Haltung besitzen und das pädagogische Ethos in seinem theoretischen Denken verwirklichen muß. Einem nicht selbst pädagogisch gerichteten Menschen, der nicht innerlich und untheoretisch weiß um das Eigentliche der Erziehungsarbeit, bleibt die pädagogische Einsicht letztlich verschlossen, aller Gelehrsamkeit zum Trotz."(S. 21)

Auch hier findet sich also wieder der Bezug zum erzieherischen Apriori und zugleich eine Begründung dafür, warum Lehrer an speziellen pädagogischen Akademien und nicht an der Universität ausgebildet werden sollen; denn die "Befangenheit", die hier als Voraussetzung gefordert wird, wäre an der Universität nicht zu haben gewesen - damals so wenig wie heute.

Lässt man Wenigers Argumentation Revue passieren, dann stellt sich die Frage, ob man daran heute noch anknüpfen kann oder ob sie nicht vielmehr in sich zusammen fällt, wenn man das unhaltbar gewordene Apriori streicht.

II

Ohne Bezug zu Erich Weniger habe ich - aus den unmittelbaren Erfahrungen meiner damaligen Hochschultätigkeit heraus - vor 25 Jahren ebenfalls die zunehmende Entfremdung zwischen Erziehungswissenschaft und pädagogischer Praxis kritisiert. Wiederum ging es im Kern um die Frage, wie die Ausbildung an der Hochschule gestaltet werden könnte, um möglichst produktiv auf die pädagogische Praxis einwirken bzw. von dieser inspiriert werden zu können. Meine Antwort war: Wir brauchen einen Zwischenhandel, der die Forschungsergebnisse und Theoriekonstrukte der einschlägigen Wissenschaften einerseits und die leitenden Vorstellungen der pädagogischen Praxis andererseits in einen produktiven Austausch verwickelt. Meine These heute ist: Davon sind wir so weit entfernt wie nie zuvor - und das hat Folgen. Wie Weniger bin ich davon überzeugt, dass nicht jede wissenschaftliche Erkenntnis über einen pädagogisch relevanten Sachverhalt, in

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irgendeiner Form präsentiert, für die pädagogische Praxis von Bedeutung sein kann. Anders als er greife ich jedoch nicht auf eine rational wenig zugängliche Vorstellung vom Wesen der Erziehung und des Erzieherischen zurück, sondern gehe aus von der Handlungssituation, vom Standpunkt des Handelnden also.

Meine Überlegungen von damals aufgreifend will ich nun in einigen Thesen darstellen, warum pädagogische Theorie an der Hochschule einerseits und in der pädagogischen Praxis andererseits in zwei Kulturen auseinander gedriftet sind, die kaum noch Verbindung zueinander haben - und was daraus zu schließen ist.

1. Ausgangspunkt für meine Argumentation von 1979 war eine Mode. Die Diskussion der in den Sozialwissenschaften ausgebrochenen wissenschaftstheoretischen Kontroverse - hier Positivismus, dort Kritische Theorie – hatte auch allgegenwärtig die Erziehungswissenschaft erreicht. Dafür gab es zunächst einen triftigen Grund. Anfangs ging es nämlich darum, die Grenzen der nach dem Kriege wieder dominant gewordenen geisteswissenschaftlichen Pädagogik - zu deren Vertretern auch Weniger gehörte - , zu überwinden und deren Fundus mit den empirisch-sozialwissenschaftlich orientierten Standards zum Nutzen der pädagogischen Forschung und Theoriebildung zu vermitteln. Das wäre möglich gewesen, wenn die wissenschaftliche Pädagogik von einer ganzheitlichen Vorstellung des pädagogischen Handelns und seiner Bedingungen ausgegangenen wäre, dies als ihren methodischen Kern verstanden und zur Aufklärung des Handlungsfeldes alle anderen dafür einschlägigen wissenschaftlichen Ergebnisse als Hilfsmittel sowie die anderen beteiligten Disziplinen als Hilfswissenschaften verstanden hätte.

Diese Aufgabe geriet jedoch bald in Vergessenheit. Statt dessen wurden die wissenschaftstheoretischen Positionen als ideologische Instrumente innerhalb der politischen Polarisierung im Betrieb der Hochschulen benutzt; schließlich ging es um Hochschulreform und dafür brauchte man wissenschaftliche Dignität ausstrahlende Parolen. "Man" - das war durchaus kollektiv zu verstehen - ging von der einen oder anderen Position im Sinne von letztlich politisch motivierten Bekenntnissen aus und grenzte diese im Sinne einer undiskutierten Prämisse gegenüber anderen ab - unter Verzicht auf die Frage nach der Reichweite der unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Ansätze und damit auf deren vergleichende Diskussion im Hinblick auf das jeweils in Frage stehende Thema. Nicht alle Erziehungswissenschaftler machten dabei mit, aber wer mitmachte, erreichte öffentliche Aufmerksamkeit.

Diese spezielle Debatte ist längst vergessen, ihre ideologische Funktion wird nicht mehr gebraucht. Geblieben ist aber ein Wechsel der Moden, die immer wieder wie Stürme über das pädagogische Geschäft hinweg fegen. Zur Gewohnheit wurde, für die eigene Argumentation von vornherein von so genannten "Ansätzen" auszugehen - marxistischen, feministischen, systemtheoretischen oder konstruktivistischen - , was stets nur begrenzte Aspekte der pädagogischen Praxis berühren konnte, diese jedoch in Gänze aufzuklären versprach. Was immer als Neuheit auf dem sozialwissenschaftliche Markt auftauchte, wurde auch der pädagogischen Praxis etwa in den Schulen angeboten, diesen sogar nicht selten als "didaktischer Fortschritt" ministeriell verordnet. Die Geschichte der Reformpädagogik und der Bildungsreformen der letzten Jahrzehnte steckt dafür voller Belege. Was als ernsthafter Versuch einer disziplinären Selbstevaluation begann, endete in Lagermentalitäten, die sich mit den bildungspolitischen Grundpositionen verbandelten. Die "Befangenheit", die Weniger im Prinzip zu Recht forderte, wurde politisch-parteilich einge-

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löst und insoweit einer wissenschaftlichen Kritik weitgehend enthoben. Auf diese Weise konnte sich, wie Weniger ebenfalls schon moniert hatte, die Theorie der Praktiker kritikresistent verfestigen. So sind etwa die Prämissen und Wunschbilder des reformpädagogischen Milieus durch keine externen Einwände zu erschüttern, egal, wie empirische oder andere Forschungsergebnisse auch lauten mögen.

2. Die ursprüngliche Idee, die philosophierenden Strategien der geisteswissenschaftlichen Pädagogik sinnvoll zu verknüpfen mit den empirisch orientierten Sozialwissenschaften wurde nicht durchgehalten, vielmehr setzte sich nun ein Verständnis der Erziehungswissenschaft als Sozialwissenschaft durch. Auf diese Weise ließ sich neue wissenschaftliche Reputation gewinnen, weil damals die Sozialwissenschaften in dem Ruf standen, auf der Grundlage empirischer Forschungen überzeugende Reformen des gesellschaftlichen Lebens und eben auch des Bildungswesens durchführen bzw. vorschlagen zu können. Das hat sich inzwischen als Täuschung erwiesen, selbst mit den Ergebnissen der PISA-Studien lässt sich keine einzige Unterrichtstunde verbessern.

Andererseits hat sich die Erziehungswissenschaft durch diese Kehrtwende vollends im Kreise der anderen Disziplinen als Wissenschaft emanzipiert. Das gilt insbesondere für ihren empirischen und historischen Zweig. Gelungen ist diese Qualitätssteigerung jedoch vor allem dadurch, dass die Erziehungswissenschaft den methodischen Standard der Geschichts- bzw. der empirischen Sozialwissenschaft adaptiert hat. Diese Disziplinen könnten aber durchaus auch von sich aus die entsprechenden Forschungen leisten, die Bildungshistoriker und die Bildungsforscher also statt in der Erziehungswissenschaft auch bei den jeweiligen Bezugswissenschaften ihren Platz finden. Das gilt jedenfalls insofern, als das methodische Handwerk prinzipiell unabhängig vom jeweiligen Gegenstand zur Verfügung steht; wer etwa Firmengeschichte betreibt, weiß auch, wie man Schulgeschichte anpacken müsste, und die Autoren von PISA könnten ebenso gut Unfallforschung in der Industrie zum Thema machen. Gewiss sind bei jedem Forschungsvorhaben zunächst einmal die Eigenarten des jeweiligen Gegenstandes und der Forschungsstand zu eruieren, aber für Projekte der Bildungsforschung wären möglicherweise Praktiker des jeweiligen pädagogischen Feldes eher als Informationsquelle von Bedeutung als Vertreter der universitären Erziehungswissenschaft, und das notwendige Literaturstudium kann jeder betreiben, der genug von diesem Handwerk versteht. Paradoxerweise scheint sich die Erziehungswissenschaft, je besser sie als Wissenschaft geworden ist, um so überflüssiger als autonome Disziplin zu machen. Sie scheint gerade dadurch ihre "Eigenständigkeit" verloren zu haben. Für unseren Zusammenhang bedeutsamer ist jedoch die Entfremdung von den Problemen der pädagogischen Praxis, weil die "Befangenheit" im Sinne Wenigers diesem Wissenschaftsverständnis prinzipiell widerspricht.

3. Ein weiteres Paradox ist zu konstatieren: Einerseits hat gerade die historische Erziehungswissenschaft neben der empirischen in den letzten Jahrzehnten einen großen Aufschwung genommen, andererseits wird sie im öffentlichen Bewusstsein so gut wie gar nicht wahrgenommen. Die empirische Bildungsforschung hat statt dessen das öffentliche Interesse besetzt, ist ihrer Natur nach jedoch wenig an historisch-kritischer Reflexion interessiert und darauf innerhalb ihres Argumentationszusammenhangs auch nicht angewiesen. Historische Prozesse sind schließlich empirisch kaum rekonstruierbar. Wenn historische Rückgriffe überhaupt stattfinden, dann werden sie als Erfolgsgeschichte des eigenen aktuellen Denkens ent-

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sprechend sortiert. Obwohl beispielsweise inzwischen sehr subtile Analysen zur Geschichte der deutschen Reformpädagogik vorliegen, werden sie bei aktuellen Auseinandersetzungen über reformpädagogisch begründete Ziele und Strategien der Schulpädagogik kaum zu Rate gezogen. Die gegenwärtigen bildungspolitischen und pädagogischen Kontroversen werden - außer natürlich gelegentlich in Fachpublikationen - keiner historischen Reflexion unterworfen: Wann sind sie warum entstanden und wie werden sie durch wen und warum gegenwärtig aktualisiert?

Der Verlust der historischen Dimension ist keine Nebensächlichkeit. Er treibt nämlich alle Reformprojekte in einen geradezu nihilistischen Veränderungswahn und die Praktiker, die daraus resultierende Strategien und Anforderungen als willkürlich und unbegründet erleben, in permanente Orientierungslosigkeit und in eine innere Abwehrhaltung. Wer pädagogisch handelt, braucht ein Minimum an Kontinuität, an Gewissheit darüber, dass sein Tun in einer bestimmten, im Prinzip erfolgreichen Tradition steht und deshalb alles in allem bisher vernünftig war. Veränderungen sind nur dann akzeptabel, wenn sie bestimmte Aspekte des Handelns zu verbessern versprechen. Um diesen Unterschied zu sondieren, ist eine historisch-kritische Perspektive unerlässlich. Sie muss klären, warum etwas so geworden ist, wie es ist, und was warum verändert bzw. verbessert werden müsste. Nur wenn dabei zugleich Veränderung und Kontinuität angestrebt wird, können diese Veränderungen in den biographischen Kontext der Handelnden eingebaut und diese zur Mitwirkung motiviert werden.

Dafür, dass dies so nicht geschieht, ist gewiss nicht nur die sich sozialwissenschaftlich verstehende Erziehungswissenschaft verantwortlich, aber weil diese den Bezug zur pädagogischen Handlungssituation aufgegeben hat, hat sie die Bahn freigemacht für alle möglichen Einflüsse wissenschaftlicher, politischer oder ökonomischer Art, gegen deren pädagogische Begrenztheit sie nur noch schwer kritisch argumentieren kann. Wenigers Suche nach dem eigentlichen Kern des Pädagogischen ist wieder aktuell, wenn er verschwindet oder ignoriert wird, droht die Überschwemmung der Praxis durch beliebige, einander ablösende Moden.

Der Verzicht auf historisch-kritische Aufarbeitung pädagogischer Probleme ist allerdings keineswegs bloß fachspezifisch zu sehen. Er korrespondiert vielmehr mit einem zentralen Kern des gegenwärtigen allgemeinen Zeitgeistes, der den unschätzbaren Vorteil hat, alle diejenigen aus der Verantwortung zu entlassen, die tatsächlich für die gegenwärtigen Zustände verantwortlich sind. Alles, was bisher gegolten hat, gilt als überholt, neuen Anforderungen nicht mehr gewachsen. Zu dieser Tendenz können sich alle bekennen, gerade auch diejenigen, die in den letzten Jahrzehnten in Wirtschaft, Politik und eben auch in der Pädagogik falsche Entscheidungen getroffen haben; alle sind exkulpiert angesichts des scheinbar unaufhaltsamen und schicksalhaften Trends zur "Globalisierung" von allem und jedem, der wie ein geschichtsloses Naturereignis über uns hereingebrochen zu sein scheint. Die Forderung nach einem radikalen "Systemwechsel", die man den Achtundsechzigern noch als Verrat an demokratischen Grundwerten angelastet hat, ist nun in aller Munde. Die Globalisierung der Märkte und der daraus resultierende weltweite Wettbewerb würden den Standort Deutschland überrollen, wenn das Arbeits- , Sozial-, Steuer- und eben auch das Bildungssystem dem neoliberalistisch interpretierten Wirtschaftssystem nicht unterworfen würden. In dieser Vorstellung ist verständlicherweise historisch-kritische Reflexion nichts weiter als störender Sand im Getriebe. Wem sollte sie denn im Rahmen dieser Mentalität nützen? Wa-

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rum sollte man sich die Zeitverschwendung leisten, die real existierenden Verhältnisse und Strukturen in ihrem Entstehungszusammenhang zu analysieren und hinsichtlich ihrer künftigen Tragfähigkeit zu überprüfen, so dass man überzeugende Argumente erhielte, was warum und wie zu verbessern ist? Es ist doch ganz gleichgültig, welche Ursachen die kritisierten Ist-Zustände haben, wenn sie nur auf einen erwünschten künftigen Soll-Zustand hin verändert werden. Forschungen zur Gesamtschule z.B. gibt es seit ihrer Gründung, aber kaum einen Verantwortlichen scheint zu interessieren, was aus ihr warum über die Jahrzehnte geworden ist. Diese geschichtslose Argumentationsfigur suggeriert eine Aura des historisch Unausweichlichen, es scheint so, als müsse alles Wichtige auch im Bildungswesen neu erfunden werden. In diesem Zeitgeistmilieu kann die ins Getto einer erziehungswissenschaftlichen Teildisziplin platzierte historische Erziehungswissenschaft aus Mangel an öffentlicher Resonanz ihre aufklärerischen Trumpfkarten nicht ausspielen; sie werden nicht gebraucht, obwohl sie der Sache nach alles andere als unnütz wären. Man müsse jetzt nach vorne blicken, sagt die Bildungspolitik, nicht rekonstruieren, wieso und warum die gegenwärtige Misere überhaupt zu Stande gekommen ist; es reiche doch der Konsens darüber, dass alles besser werden soll. Auf diesem Hintergrund geht es nicht mehr um eine theoretische Reflexion des praktischen Bewusstseins, sondern um dessen Austausch durch ein anderes. Schon vor 25 Jahren war dieser antihistorische Affekt erkennbar.

4. Nun ist es keineswegs so, dass die moderne Erziehungswissenschaft überhaupt keinen Praxisbezug mehr hätte, es ist nur nicht die Praxis der Schulen und der anderen pädagogischen Einrichtungen, sondern schlicht ihre eigene. Sie publiziert für sich selbst. Die personelle Expansion der Erziehungswissenschaft in den letzten Jahrzehnten zwingt zur wissenschaftlichen Profilierung von immer mehr Personal. Die dafür benötigten Publikationen kann die pädagogische Praxis thematisch gar nicht hergeben, selbst wenn man dies versuchen würde. Zudem muss man sich, um innerbetrieblich zu reüssieren, Schwerpunkte und Spezialgebiete suchen, die einen möglichst hohen Neuigkeitswert haben. Hier liegt die Nachfrage nach den erwähnten "Ansätzen" und den sich ablösenden Moden begründet. Als hochschulinterne Produkte geraten solche Publikationen natürlich kaum in die öffentliche Aufmerksamkeit, vielmehr müssen sie zu diesem Zweck der nichtfachlichen Öffentlichkeit als wichtiger Vorschlag zur Verbesserung der pädagogischen Praxis ins Bewusstsein gebracht werden, wofür sich nicht zuletzt Fortbildungseinrichtungen als geeignete Umschlagsplätze erwiesen haben. Bis sich herausstellt, dass das alles für die diagnostische und planende Qualität des Unterrichts weitgehend irrelevant ist, steht bereits die nächste Mode vor der Tür. Ob die Erziehungswissenschaft wenigstens ihren eigenen Lehrbetrieb - ihre Theorie der Praxis im Sinne Wenigers - etwa im Rahmen einer Wissenschaftsdidaktik kritisch reflektiert, ist nicht recht erkennbar.

III

Weniger hatte darauf bestanden, "dass die Theorie als Theorie erzieherischen Verhaltens der Eigengesetzlichkeit der Pädagogik und des pädagogischen Weges entspreche, dass also Pädagogisches zu gestalten und zu decken ist durch

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pädagogische Theorien." (S. 18) Davon kann gegenwärtig keine Rede mehr sein. Daraus kann man zwei verschiedene Schlüsse ziehen:

1. Unter der Voraussetzung, dass die geschilderte Entwicklung der Erziehungswissenschaft ebenso wenig aufzuhalten sein wird wie die damit verbundene Distanz zur pädagogischen Praxis außerhalb der Universität, entsteht die Notwendigkeit eines "Zwischenhandels", wie ich ihn in meinem Beitrag von 1979 zu begründen versucht habe. Dies wäre die Aufgabe einer von der Erziehungswissenschaft deutlich abgesetzten wissenschaftlichen "Pädagogik". "Das Pädagogische" als deren Kern wäre dann jedoch nicht im Sinne Wenigers als ein rational kaum zugängliches Apriori zu verstehen, sondern pragmatischer als in der Gesellschaft zu verhandelnde generelle Zielvorstellung für den Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Spätestens seit Beginn der siebziger Jahre besteht darüber kein Konsens mehr. Ein solcher kann deshalb auch nicht mehr vorausgesetzt werden - auch nicht von der Erziehungswissenschaft oder der wissenschaftlichen Pädagogik.

Gliederungsprinzip einer so verstandenen Pädagogik und damit auch des von ihr angebotenen Studiums wäre nicht die Systematik der Erziehungswissenschaft, sondern der Komplex der zentralen Gegenstände, die das pädagogische Handeln konstituieren, je nach der Eigenart des pädagogischen Feldes etwa: Schule, Lehrer, Schüler, Unterricht, pädagogischer Bezug, Erziehung, Bildung, Sozialisation (und deren Scheitern). Diese Gegenstände wären vor allem von den ihnen immanenten Problemen und Widersprüchen her und nicht zuletzt auch historisch aufzuklären. So verstandene Theorien würden den wissenschaftlichen Forschungsstand gleichsam "filtern" unter dem Gesichtspunkt ihrer eigenen strukturellen und insoweit "eigenständigen" Fragestellungen. Dabei wäre die Erziehungswissenschaft nichts weiter als eine "Hilfswissenschaft" wie andere für das pädagogische Handeln relevante Humanwissenschaften auch. Die Pädagogik im so verstandenen Sinne könnte sich allerdings nicht mehr als Sozialwissenschaft verstehen, vielmehr müsste sie phänomenologisch verfahren, das pädagogische Handlungsfeld stets im ganzen in den Blick nehmen, auch wenn nur ein einzelner Faktor behandelt wird. Das hieße noch einmal dort anzuknüpfen, wo die geisteswissenschaftliche Pädagogik aufgehört hat: Bei ihren "einheimischen Begriffen" und Fragestellungen und bei ihrem Theorie-Praxis-Verständnis. In diesem Sinne könnte die "Befangenheit", die Weniger für die akademische pädagogische Theorie fordert, in eine realistische Version gebracht werden.

2. Denkbar ist aber auch eine andere Schlussfolgerung. Man müsste vielleicht einmal darüber nachdenken, ob es sich hier nicht um ein Scheinproblem handelt. Ausgangspunkt bei Weniger war ja nicht das Verhältnis von Theorie und Praxis, sondern der Versuch, die "Eigenständigkeit der Erziehung in Theorie und Praxis" und im Zusammenhang damit eine spezifische akademische Ausbildung für pädagogische Berufe zu begründen. Möglicherweise ist aus der Rückschau dieser Versuch als gescheitert zu betrachten. Lässt man etwa die seitherigen Bemühungen um eine Reform der Lehrerausbildung Revue passieren, dann gibt es keinen Beleg dafür, dass irgendeine dieser Varianten wirklich erfolgreicher war bzw. ist als irgendeine andere. Die gegenwärtige Tendenz zur Modulisierung der Ausbildung ist jedenfalls keine pädagogische, sondern eine bürokratische Idee, deren pädagogische oder erziehungswissenschaftliche Begründung nicht einmal mehr versucht wird. Gewiss bleibt es dabei, dass Erziehung eine gesellschaftliche Praxis eigener Art ist wie in anderer Weise Politik oder Wirtschaft, und dass deshalb hier auch

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spezifische Erfolgskriterien und ethische Maßstäbe gelten. Das ethische Apriori kann sich jedoch nicht mehr, wie Weniger noch glaubte, aus einer in der Erzieherpersönlichkeit fundierten bzw. von dieser einzufordernden Substanz berufen. Die Ethik der pädagogischen Berufe ergibt sich aus den für alle geltenden Grundrechten, aus der Rechtslage sowie aus der besonderen professionellen Aufgabe. Von Anfang an war das Problem des Verhältnisses von Theorie und Praxis weniger eines der Lehrer oder Sozialarbeiter, sondern eher eines von Professoren, die das pädagogische Denken und damit ihre eigene Tätigkeit in den Rang einer Wissenschaft erheben wollten. Ein Problem für die Praktiker entstand daraus erst, als sie mit den Theorien von Professoren konfrontiert wurden, die diese nicht auch selbst etwa im schulischen Alltag realisieren mussten. Andererseits verband sich mit diesem Theorieanspruch die professionelle Identität der Praktiker - der Studienräte in Bezug auf ihre Universitätsfächer, der Volksschullehrer in Bezug auf die pädagogische Wissenschaft. Verloren in diesem Wettbewerb haben dabei einstweilen die Studienräte, aber das muss nicht so bleiben. Jedenfalls ist das Thema "Theorie und Praxis" durchsetzt von allen möglichen politischen, ökonomischen und verbandlichen Interessen, als wissenschaftliches Problem interessiert es kaum noch jemanden. Vielleicht sind die finnischen PISA-Ergebnisse auch deshalb so gut, weil dort keine komplex ausdifferenzierte Erziehungswissenschaft den Betrieb stört. Die bei uns hingegen seit Jahrzehnten überbordende Pädagogisierung, Psychologisierung und Didaktisierung der Schularbeit hat jedenfalls den simplen Ausgangspunkt fast zum Verschwinden gebracht, dass Lehrer Schüler mit dem Ziel des Beibringens unterrichten sollen.

Die Bedeutung Erich Wenigers für die gegenwärtige Diskussion liegt weniger in seinen Antworten, als vielmehr in seinen Fragestellungen: Worin besteht das Eigentümliche des pädagogischen Handelns, das es von anderen gesellschaftlichen Handlungsstrukturen unterscheidet? Wie können diejenigen, die in pädagogischen Einrichtungen tätig sind, ihr in jedem Falle vorhandenes theoretisches Bewusstsein von der eigenen Tätigkeit selbst überprüfen? Wie ist es möglich, die nahezu unbegrenzte Fülle der pädagogisch relevanten wissenschaftlichen Theorien und Erkenntnisse auf die pädagogischen Handlungsfelder hin komprimiert und sinnvoll selektiert zu transformieren? Was muss einer können bzw. gelernt haben, wenn er eine Tätigkeit in einer pädagogischen Einrichtung beginnt? Mein Eindruck ist, dass wir bei der Beantwortung dieser Fragen seit 1929 nicht viel klüger geworden sind.

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Literaturverzeichnis

GlESECKE, Hermann: Lob des Zwischenhandels - Überlegungen zum Verhältnis von Erziehungswissenschaft und pädagogischer Praxis. In: Neue Sammlung 19(1979), S. 489-501

GlESECKE, Hermann: Wer braucht (noch) Erziehungswissenschaft? In: Neue Sammlung 44 (2004), S. 151- 165.

WENIGER, Erich: Theorie und Praxis in der Erziehung. In: ders.: Die Eigenständigkeit der Erziehung in Theorie und Praxis. Weinheim o.J. (1953), S. 7-22.

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