Hermann Giesecke:

Warum die Schule soziale Ungleichheiten verstärkt

Ein Zwischenruf

In: Neue Sammlung H. 2/2003, S. 254-256

(Bibiographisch korrekt ist dieser Text in Werke Band 27, Nr. 226, ediert. HG)
Als die heute Alt-Achtundsechziger noch jung waren – also Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre – propagierten sie ihre bildungspolitischen und schulpädagogischen Reformforderungen u.a. mit dem "restringierten Code"(1) als Faktum und Symbol für die schulische Benachteiligung der "unteren Klassen", als deren Avantgarde sie sich fühlten. Alles, was die Schule damals strukturell wie konzeptionell ausmachte, wurde unter diesem Gesichtspunkt einem ideologiekritischen Verriss unter dem Maßstab des cui bono unterzogen. Seitdem wurde nahezu das ganze Schulsystem darauf ausgerichtet, die leistungsschwächeren Schüler als milieubedingt entschuldbar zu betrachten und mit Hilfe von Gesamtschulen, Orientierungsstufen, Förderstufen, verlängerter Grundschulzeit, Leistungskursen und den Methoden des individualisierenden Unterrichts zu fördern. PISA hat nun gezeigt, dass das alles offensichtlich vergeblich war; der Abstand ist nicht kleiner, sondern größer geworden. Dieses Resultat wird im Allgemeinen der Dreigliedrigkeit des Schulwesens und der frühen Selektion angerechnet. Vielleicht wäre es aber auch angebracht, die alte Ideologiekritik wieder aus der Schublade zu holen und auf den sich fortschrittlich dünkenden pädagogischen Zeitgeist anzuwenden, der seine Geburt in jener Zeit erlebte(2). Dann könnte sich folgendes herausstellen:

1. Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu. Sozial selektiert wird bereits mit dem ersten Schultag. "Offener Unterricht", überhaupt die Demontage des klassischen, lehrerbezogenen Unterrichts, die Wende vom Lehren zum Lernen und damit die übertriebene Subjektorientierung, die Verunklarung der Leistungsansprüche, Großzügigkeit bei der Beurteilung von Rechtschreibschwächen, Mitwirkung der Eltern (welcher wohl?) in Schulkonferenzen – um nur einige Beispiele anzuführen - hindern die Kinder mit von Hause aus geringem kulturellen Kapital daran, ihre Mängel auszugleichen, während sie den anderen kaum schaden. Der von der Familie her vorhandene Vorsprung an "kulturellem Kapitel"(3) in den bürgerlichen Schichten reicht aus, trotz konfusem Schulunterricht den Abstand zu wahren. Wenn also Lehrer etwa bei der Wahl der weiterführenden Schulform Kindern mit wenig kulturellem Kapital trotz formal guter Schulleistungen relativ geringe Weiterbildungschancen prognostizieren, dann ist das generell – nicht im Einzelfall - offensichtlich eine realistische Einschätzung, solange jedenfalls die Schule diesen Mangel nicht kompensiert – etwa durch das Beibringen von Manieren, von geistiger Disziplin, von Verzicht auf unmittelbare Erfolge und auf Spaß an allen Ecken und Enden.

2. Exemplarisch lässt sich diese Kritik an der Grundschule festmachen. Die infantilisierende Unterforderung von Grundschulkindern ist schon Ende der sechziger Jahre entdeckt und heftig diskutiert worden, und der Bildungsrat hat seinerzeit ein ausführliches, wissenschaftlich fundiertes Reformkonzept vorgeschlagen - das aber ist schnell versandet. Weder die Schulbehörden noch die Lehrer oder die Eltern wollten eine solche Grundschule. Alles sollte dort vielmehr weiterhin "spielerisch" sein, systematischer Unterricht gilt bis heute als ebenso kinderfeindlich wie das Erteilen von Zensuren – vom Sitzenbleiben ganz zu schweigen. Klassische Lerntechniken wie Einmaleins, Auswendiglernen von Gedichten, Vorlesen von Texten und vor allem ständiges Üben des Gelernten sind weitgehend verloren gegangen. Hausaufgaben könnten die familiär benachteiligten Schüler diskriminieren. Tatsächlich jedoch trägt all das dazu bei, die Kinder mit geringem kulturellen Kapital auf diesen Status zu fixieren; nur in den ersten Schuljahren gäbe es vielleicht eine Chance zur schulischen Gegenwirkung.

Ideologiekritisch gewendet ergibt sich daraus eine merkwürdige Pointe: Wenn wir das alte Bildungsprivileg hätten erhalten wollen - was uns ja gelungen ist, wie PISA zeigt - dann hätten wir die Grundschule genauso planen müssen, wie wir sie jetzt haben - einschließlich ihrer personellen und materiellen Unterversorgung.

3. Der objektive Sinn, zumindest das Resultat des pädagogischen Zeitgeistes ist: Er hat das Bildungsprivileg der Mittelklasse nach unten hin verteidigt; er ebnete durch die Reduktion der Leistungsansprüche bzw. durch deren Umdefinition auch dem weniger leistungsfähigen Nachwuchs der Bürgerkinder den Weg zum Abitur und zum Hochschulstudium und vergrößerte auf diese Weise den Rückstand der anderen noch mehr.

4. Schule ist unvermeidlich eine Mittelklasseinstitution. Sie begünstigt deshalb notwendigerweise diejenigen Kinder, die aus diesem Milieu kommen. Nicht nur sind sie mit einem besseren sozialen und kulturellen Startkapital ausgestattet, ihre Schulerfahrungen und Schulerfolge werden auch zu Hause selbstverständlicher sozial akzeptiert und unterstützt. "Subjektorientierung" etwa, wie sie durch die psychologisch fundierte Schulreformpädagogik propagiert wird, ist ein Projekt der Mittelschicht, in den unteren Schichten hat sie keinen rechten sozialen Resonanzboden und gilt deshalb von Hause aus wenig. "Lebensweltorientierung" des Unterrichts meint das bürgerliche, nicht das depravierte Ambiente - davon versteht die Schule außer der Vermutung von materieller oder kommunikativer Armut nichts. In diesem Milieu ist man auch nicht "intrinsisch" motiviert - das kann man sich gar nicht leisten. Andererseits ist diese Form der Motivation Voraussetzung für allgemeinbildende, vor allem höhere Schulkarrieren.

5. Kinder aus bildungsbenachteiligten Familien müssen sich also mit Hilfe der Schule von ihrem Familienhintergrund und von dem dazugehörenden kollektiven sozialen Milieu emanzipieren oder zumindest eine innere Gegenwelt dazu aufbauen, wenn sie das schulische Lernangebot optimal nutzen wollen; das behindert die Gleichheit ihrer Chancen enorm. Das einzige Kapital, das diese Kinder von sich aus – ohne Hilfe ihres Milieus - vermehren können, sind ihr Wissen und ihre Manieren; dafür brauchen sie eine Schule, in der der Lehrer nicht nur "Moderator" für "selbstbestimmte Lernprozesse" ist, sondern die Führung übernimmt und die entsprechenden Orientierungen vorgibt. Gerade das sozial benachteiligte Kind bedarf, um sich aus diesem Status zu befreien, eines geradezu altmodischen, direkt angeleiteten, aber auch geduldigen und ermutigenden Unterrichts. Das gilt erst recht für solche Kinder, die der deutschen Sprache kaum mächtig sind; vielfach werden sie jedoch einfach in die Grundschulen gesteckt, weil es so für die Administration am bequemsten und vor allem am billigsten ist.

Die Hoffnung, man könne solche tief fundierten Benachteiligungen mit ein paar zusätzlichen Förderstunden in den Griff kriegen, verrät schiere Sozialromantik. Erfolgreicher könnten schon Ganztagsschulen sein, aber nur dann, wenn sie möglichst früh, nachhaltig und relativ dauerhaft ein Gegenmilieu bilden würden, das diesen Kindern im Vergleich zu ihrer sonstigen Umgebung attraktiv erscheint. Solche und andere nützliche Angebote speziell für entsprechende Regionen bzw. Stadtteile einzurichten, verteufeln die Sozialromantiker jedoch als Diskriminierung. Die objektiv Benachteiligten sollen sich nicht als solche fühlen - ein klassischer ideologischer Trick, von dem die Betroffenen nichts haben. Es ist ähnlich wie in der Sozialpolitik: Wenn die benachteiligten sozialen Schichten schon etwas bekommen sollen, wie das Kindergeld, dann sollen es alle anderen auch haben. Unter den Bedingungen der Ungleichheit ist aber Gleichbehandlung immer Ungleichbehandlung.

6. Der entscheidende pädagogische Denkfehler, der schon in der Weimarer Zeit bei der pädagogischen Begründung der gemeinsamen Grundschule zu Tage trat, liegt in der Definition des Kindes "als solchem". Da damals die Kinder des Bürgertums gemeinsam mit den anderen die Grundschule besuchen sollten, brauchte man eine pädagogische Idee, die als über den sozialen Klassen stehend angesehen werden konnte; dafür bot sich die reformpädagogische Vorstellung einer gelungenen Gestaltung der Kindlichkeit des Kindes an. So wurde die Grundschule zu einer Kinderschule, die der erzieherisch-pflegerischen Förderung aller kindlichen Kräfte den Vorrang einräumte gegenüber einer für einseitig und kinderfeindlich gehaltenen kognitiven Bildung. Dabei ist es im Wesentlichen bis heute geblieben. Das Kind "als solches" ist aber eine psychologische Fiktion. Sozial gesehen gibt es nur Kinder, die in Blankenese oder in Kreuzberg, in Reichtum oder Armut, mit gebildeten oder ungebildeten Eltern aufwachsen - um nur gröbste Differenzen zu nennen.

Ginge es um das Schulschicksal von Mittelschichtkindern, hätten wir längst eine entsprechende Milieuforschung, die nach lernrelevanten milieuspezifischen Prädispositionen und den Möglichkeiten ihrer Korrektur fahnden würde. So aber begnügen wir uns mit meist irrelevanten Schuldzuweisungen und vergießen Krokodilstränen.

Anmerkungen

1. Basil Bernstein: Soziokulturelle Determinanten des Lernens, in: P. Heintz (Hg): Soziologie der Schule, Köln - Opladen 1959, S. 52-79

2. Dazu ausführlicher H. Giesecke: Wozu ist die Schule da? Stuttgart 1996, vor allem S. 121 ff.

3. Zu diesem Begriff Pierre Bourdieu: Wie die Kultur zum Bauern kommt. Über Bildung, Schule und Politik. Hamburg 2001, vor allem S. 112 ff.