Hermann Giesecke

"Humankapital" als Bildungsziel?

Grenzen ökonomischen Denkens für das pädagogische Handeln

In: Neue Sammlung H.3/2005, S. 377-389

© Hermann Giesecke

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Eine unabhängige Jury aus Sprachwissenschaftlern und Vertretern der öffentlichen Sprachpraxis hat das Wort "Humankapital" als größten sprachlichen Missgriff zum "Unwort des Jahres 2004" gewählt. Das mag auf den ersten Blick verwundern, weil sein Gebrauch in der Regel gar nicht abschätzig gemeint ist. Regierung und Opposition, Gewerkschaften, Wirtschaftsinstitute und -berater, Professoren und Pädagogen benutzen es so selbstverständlich, als sei es längst ein fester Bestandteil der öffentlichen Sprache, und niemand hat wohl Böses dabei im Sinn. Den Menschen mit allen seinen geistigen und moralischen Fähigkeiten als ein Potenzial zu verstehen, dass sich investieren lässt zum Nutzen anderer wie zu seinem eigenen - was soll daran falsch sein? Drückt diese Metapher nicht lediglich eine Modernisierung des alten Bildungsideals aus, weil doch auch die klassische Selbstformung durch Bildung nie als Selbstzweck gedacht war, sondern in irgendeiner Weise - nicht zuletzt über den Beruf - dem Gemeinwesen wieder zugute kommen sollte? Wird auf diesem Hintergrund dem menschlichen Lernen, der Bildung und Ausbildung, dem Bildungswesen insgesamt einschließlich der damit befassten Berufe nicht eine gesellschaftliche Unterstützung zuteil, wie sie wirkungsvoller nicht sein könnte?

Hätte man in den siebziger Jahren, als die neue Disziplin der Bildungsökonomie sich entfaltete, in pädagogischen Zusammenhängen eine ökonomische Metapher wie diese verwandt, so hätte das noch wie eine Verfremdung gewirkt, geeignet, festgefahrene Denkstrukturen aufzulockern. Damals nämlich wurden in der öffentlichen Debatte Pädagogik und Ökonomie noch als unterschiedliche gesellschaftliche Teilbereiche mit je eigentümlichen Handlungsstrukturen, Zielen und Begriffen sowie einer je besonderen Ethik auseinander gehalten, obwohl sie natürlich wie alle anderen gesellschaftlichen Teilsysteme auch als aufeinander bezogen galten.

Das hat sich geändert. Bis in die Sprache hinein hat die Ökonomisierung des öffentlichen Lebens inzwischen auch die Pädagogik und die Bildungspolitik erfasst. Begriffe wie Effektivität, Effizienz, Evaluation, Standard, Qualitätssicherung, Modularisierung oder auch Humankapital schaffen keine kritische Distanz mehr, sondern meinen genau das, was sie bezeichnen - nämlich die Reduktion gesellschaftlicher Erwartungen auf ökonomische Verwertbarkeit von allem und jedem. Dagegen ist mit philologischer Kleinarbeit kaum mehr anzukommen und daran knüpft die erwähnte Kritik am Wort Humankapital an.

Was sein Gebrauch verheißen könnte, deckt sich immer weniger mit der Wirklichkeit. So gelten Mitarbeiter eines Betriebes immer häufiger als ein reiner Kostenfaktor, immer weniger als ein zu pflegendes Potenzial an Wissen, Fähigkeiten und Erfahrungen, das eo ipso einen Vermögenswert darstellt, der für Erfolg und Wachstum eines Unternehmens unentbehrlich ist. Schon die Vermutung, dass

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demnächst Mitarbeiter entlassen würden, lässt den Wert der Aktien in die Höhe schnellen.

Es ist schwer auszumachen, wer für die Ökonomisierung der öffentlichen Sprache eigentlich verantwortlich ist. Jedenfalls wäre zu kurz gegriffen, darin lediglich eine interessenorientierte Propaganda etwa zum Nutzen von Wirtschaftskreisen zu sehen. Das würde nicht erklären, warum diese Diktion auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen wie gerade auch in der Bildungspolitik und Schulpädagogik Einzug gehalten hat. Offensichtlich haben wir es mit einem Zeitgeistphänomen zu tun, das als solches seinem historischen Ende nicht entgehen wird, bis dahin aber im Bereich von Erziehung und Bildung nachhaltigen Schaden anrichten kann.

Kosten des Humankapitals


Das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln hat jüngst den Wert des deutschen Humankapitals sogar errechnet, indem es ermittelte, was alle vorhandenen Bildungsabschlüsse kosten würden, wenn sie heute noch einmal erworben werden müssten - zuzüglich des Einkommensausfalls, der durch die Ausbildungszeit entsteht. Es waren demnach im Jahre 1999 3.705 Milliarden Euro - 1992 waren es, wie kritisch angemerkt wird, nur 450 Milliarden Euro weniger, was lediglich einer Steigerung von 1,8% pro Jahr entspreche (1). Während also das Humankapital weitgehend stagniere, habe sich das Sachkapital in diesem Zeitraum um das fünffache erhöht.

Derartige Berechnungen, so anschaulich sie zunächst erscheinen, haben natürlich nur eine begrenzte Aussagekraft. Stünden der deutschen Wirtschaft die Mitarbeiter lediglich zum Zeitpunkt ihres Qualifikationserwerbs zur Verfügung, könnte sie deren Humankapital nur sehr eingeschränkt nutzen. Es besteht nämlich auch aus Lebenserfahrungen und Berufserfahrungen, aus vielen komplexen Lernprozessen, die außerhalb der formellen Qualifikationen erworben wurden. Ferner muss dieses Humankapital von Geburt an, während des ganzen Arbeitslebens und bis zum Tode versorgt, gepflegt, ermutigt, umarmt, getröstet, geliebt und bei Laune gehalten werden im Rahmen verbindlicher und verlässlicher Sozialbeziehungen, sonst kann es wirtschaftlich nicht verwertet werden. Insofern dies alles nicht über den Arbeitsmarkt verkauft wird, müsste es eigentlich dieser Rechnung hinzugefügt werden. Wie viel Humankapital steckt in einem stabilen Familienleben oder einem dörflichen Fußballklub, dessen freiwillige Helfer zur sozialen Integration und Identitätsbildung von Jugendlichen beitragen und damit überhaupt erst deren Humankapital wirtschaftlich verfügbar machen und halten? Selbst wenn man dies alles berechnen könnte, bliebe ein erheblicher Rest, der sich grundsätzlich solchen Messungen - und vor allem: darauf basierenden Planungen! - entzieht und gleichwohl unverzichtbar für den Menschen als verwertbares Humankapital

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bleibt - von anderen menschlichen Zwecken ganz zu schweigen. Und was geschieht bzw. soll mit denen geschehen, deren Humankapital für den Arbeitsmarkt nicht ausreicht oder die aus ihm in die Arbeitslosigkeit entfernt werden, wenn also das Kapital Mensch nicht die erwartete Rendite bringt? Ein Mensch, der im Arbeitsprozess verwertet wird, hat also erheblich mehr gekostet, als diese Berechnung erkennen lässt.

Hinzu kommt, dass Finanzkapital weltweit in Rendite versprechenden Investitionen angelegt werden kann, es kann sich dabei vermehren oder verloren gehen. Es muss aber nicht, wie das Humankapital in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, zu Hause herumsitzen und auf seine Zulassung zum Markt warten. Ob und in welchem Umfang die Investitionen, die in die Bildung von Menschen gesteckt werden, sich wirklich wirtschaftlich rentieren, ist sowohl statistisch wie erst recht im Einzelfalle höchst ungewiss.

In den 60er und 70er Jahren war man euphorisch der Meinung, eine höchstmögliche Bildung für möglichst alle zahle sich wirtschaftlich aus, schaffe Innovationen und Arbeitsplätze. Die Bildungsreformen von damals wurden letzten Endes nicht von demokratisch-politischen ("Bildung als Bürgerrecht") oder gar pädagogischen ("Chancengleichheit"), sondern von wirtschaftlichen Überlegungen forciert, die vor allem den Wettbewerb mit den kommunistischen Ländern im Auge hatten. Seitdem wurde die Abiturientenquote zu einer magischen Zahl. Aber schon damals zeigte sich, dass Massenarbeitslosigkeit nicht nur ungelernte Tätigkeiten, sondern auch akademische Berufe treffen kann, und die regierenden Sozialdemokraten hatten große Mühe, den Hochschulabsolventen zu erklären, dass aus dem Recht zum Studium nicht auch das auf einen angemessenen Arbeitsplatz abzuleiten sei. Tatsächlich gibt es keinen zuverlässigen Zusammenhang zwischen Nachfrage am Arbeitsmarkt und Qualifikationsangebot, wäre es anders, müssten Länder mit einer hohen Akademikerquote wie Ägypten wirtschaftlich besonders gut dastehen. Vieles spricht sogar dafür, dass es in einer Zeit hoher struktureller Arbeitslosigkeit kein ökonomisches Interesse mehr daran gibt, möglichst alle möglichst hoch zu qualifizieren, sondern nur noch daran, die wirklich Begabten optimal zu fördern, denn diese, und nicht die anderen, sichern die ökonomische Zukunft der Gesellschaft. Diese unangenehme Einsicht wagt kaum jemand öffentlich auszusprechen, sie wird vielmehr unter Hinweis auf andere vergleichbare Länder mit ihren hohen Absolventenquoten lieber verdrängt. Gerade die Pädagogik sollte sich jedoch in diesem Punkte keine Illusionen machen. Wer auch künftig an Chancengerechtigkeit im Bildungswesen festhalten will, braucht dafür andere Begründungen als marktgerechte ökonomische Verwertbarkeit just in time.

Dafür stehen die Chancen jedoch nicht gut. Die Öffentliche Meinung wird vielmehr beherrscht von einem neoliberalen Grundtenor, der im Wesentlichen auf Hypothesen beruht und keineswegs empirisch abgesichert ist, wie auch der Meinungsstreit unter den Fachleuten zeigt. Neoliberale Vorstellungen gehen von bestimmten Glaubenssätzen aus, nach denen allein auf die Selbstheilungskräfte des Marktes zu vertrauen sei, der Arbeitsmarkt entregelt werden müsse und der schlanke Staat als der beste aller möglichen gilt. Dabei handelt es sich jedoch

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nicht nur um ein Wirtschaftskonzept, vielmehr soll es auch auf staatliche Systeme wie Gesundheit, öffentliche Infrastruktur, Alterssicherung und eben auch Bildung übertragen werden - genau das ist das Problem. Deshalb ist es sinnvoll, das Verhältnis von Ökonomie und Pädagogik etwas genauer zu betrachten.

Überschätzung betriebswirtschaftlicher Erfahrungen


Die gegenwärtige Überflutung der öffentlichen Sprache mit ökonomischen Begriffen geht nicht schlechthin von "der" Wirtschaft aus, sondern von betriebswirtschaftlichen und weniger von volkswirtschaftlichen Erfahrungen und Denkstrukturen. Das ist ein erheblicher Unterschied. Er besteht vereinfacht gesagt darin, dass Gewinnmaximierung das Kernziel des einzelnen Betriebes ist, ein hinreichendes Steueraufkommen jedoch das einer politisch entsprechend zu regulierenden Volkswirtschaft als Gesamtwirtschaft. Das eine ergibt sich keineswegs zwingend aus dem anderen, florierende Betriebswirtschaften führen nicht automatisch auch zu einer florierenden nationalen Volkswirtschaft mit angemessenen Steuereinnahmen - nicht erfolgreiche natürlich erst recht nicht. Privatwirtschaftlicher Reichtum kann durchaus einhergehen mit Armut der öffentlichen Kassen. So war es zwar für die Betriebe kostengünstig, ältere Arbeitnehmer, die nicht mehr benötigt wurden, vorzeitig in Rente zu schicken, für die Volkswirtschaft, in diesem Falle für die sozialen Sicherungssysteme, jedoch keineswegs. Wirtschaftlichem Handeln von Marktteilnehmern geht es darum und muss es bei Strafe des Scheiterns darum gehen, die verfügbaren bzw. wahrgenommenen Handlungsspielräume nach Maßgabe von materiellen Vorteilskalkülen zu nutzen. Solange dies im legalen Rahmen erfolgt, ist es auch nicht unmoralisch, obwohl es gelegentlich - gemessen an allgemeinen Moralvorstellungen - gesinnungslos erscheinen mag. Problematisch wird es dann, wenn wie seit geraumer Zeit diese Art zu denken die Grenzen seiner Kompetenz überschreitet, z.B. sich in pädagogischen Zusammenhängen ausbreitet.

Dann ist etwa festzustellen, dass die betriebswirtschaftliche Perspektive, die in den neoliberalistischen Glaubenssätzen zum Ausdruck kommt, mit pädagogisch bedeutsamen Kategorien wie Erinnerung, Tradition oder Bildung sowie mit der dafür spezifischen, nämlich intrinsischen Motivation wenig anzufangen vermag. (Motivation wird statt dessen vor allem von materiellem Anreiz erwartet). Ihre geschichtslosen Maßstäbe sind Veränderung, Innovation und Flexibilität. Aus dieser Ecke kommt auch der permanente Hinweis, dass Wissen schnell veralte, während doch nur seine betriebswirtschaftliche Verwertbarkeit auf dem Markt veraltet - was ja nicht dasselbe ist. Biographisch gesehen, also im Rahmen eines individuellen Bildungsprozesses, wird "altes", also bisher erworbenes Wissen nicht überflüssig, sondern in neue Kenntnisse und Erfahrungen integriert und dabei erweitert, korrigiert oder modifiziert. Neues Wissen muss an "altes" anknüpfen können, sonst wird der Begriff des Lernens sinnlos, das ja nicht aus einer endlosen Kette von Löschen und Speichern im Gehirn besteht. Solche Prozesse anzuregen ist Kernaufgabe des schulischen Unterrichts. Selbst Deutungen der Realität, die sich als falsch,

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erwiesene haben, erhalten hier einen Sinn, insofern den Gründen für ihr Zustandekommen nachgegangen wird.

Wie kurzsichtig die betriebswirtschaftliche Perspektive ist, zeigt sich daran, dass viele Betriebe immer wieder diejenigen Fachleute, die sie heute brauchen, gestern erst entlassen haben, was marktgerecht Studierende dann nach den Regeln des Schweine-Zyklus vom Studium dieses Faches über Jahre hinweg abzuhalten pflegt. Was volkswirtschaftlich unvernünftig ist, kann aus Sicht der einzelnen Betriebe durchaus geboten sein - und umgekehrt. Die gegenwärtig verbreitete und propagierte Vorstellung, dass in erster Linie betriebliche Maßstäbe und Organisationsformen als fortschrittlich zu gelten hätten und deshalb auf alle gesellschaftlichen Institutionen - auch auf die Schule - zu übertragen seien, beruht also auf einer unzulässigen Expansion spezifischer, keineswegs allgemein gültiger Erfahrungen. Abgesehen davon drängt sich immer wieder der Eindruck auf, dass betriebswirtschaftliches Denken und darauf beruhende Entscheidungen so rational gar nicht sind, wenn man etwa an die "Psychologie" des Aktienmarktes oder an "feindliche Übernahmen" denkt, die Probleme schaffen, die man vorher nicht hatte. So wunderte sich jüngst Ralf Dahrendorf, "dass es im beträchtlichen Maße Entscheidungsprozesse gibt, ohne dass irgendjemand Entscheidungen trifft. Ich habe mich einmal gefragt, wie es eigentlich kommt, dass Führer großer Unternehmen, die, sagen wir einmal, höchstens zehn Prozent Weltmarktanteil haben, sagen: Wir sind zu klein, so können wir nicht bestehen. Dann geht es mit dem Auffressen der Konkurrenten los. Das ist einfach eine Grundstimmung. Es hat keine Regierung, auch keine internationale Organisation gesagt: Ein Unternehmen mit zehn Prozent Weltmarktanteil ist zu klein"(2).

Die Einschätzung, was nun marktgerecht sei und was nicht, folgt - was wir aus der Pädagogik und Bildungspolitik ebenfalls kennen - teilweise und zeitweilig einem modischen Zeitgeist, von dem niemand sagen kann, wer ihn eigentlich aufgebracht hat.

"Das modische Stichwort für Unternehmens- und Fusionsstrategen heißt Kernkompetenz. Aus diesem Grund werden auch Konzerne aufgespalten. ... In den siebziger Jahren war es modern, dass Unternehmensführer riesige Gemischtwarenkonzerne schufen. Ihr Motto: Je breiter das Angebot eines Unternehmens, desto unabhängiger ist es von der Konjunktur in einzelnen Branchen. Außerdem sollte Größe vor feindlichen Übernahmen schützen ... Inzwischen gelten die diversifizierten Konzerne als ineffizient und an der Börse als wenig attraktiv. ...

Von Lean Management oder Down Sizing, vor kurzem noch Heilsbringer für viele Konzerne, redet heute kein Mensch mehr"(3).

Ob also betriebswirtschaftliches Denken generell auf einer hinreichenden Rationalität beruht, die einen Transfer in andere gesellschaftliche Bereiche nahe legt oder gar geboten erscheinen lässt, ist mehr als zweifelhaft. Hinzu kommt, dass ein Wirtschaftsbetrieb neben politischen auch von pädagogischen Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht schaffen kann. "Die" Wirtschaft - verstanden als Summe

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der einzelnen Betriebe bzw. als deren verbandliche Repräsentation im Rahmen einer Volkswirtschaft - kann gewiss Mängel der Schulausbildung oder Erziehungsdefizite konstatieren und rückmelden, darauf sind pädagogische und bildungspolitische Entscheidungen sogar angewiesen. Sie kann aber von sich aus keine konstruktiven Programme für deren Beseitigung entwickeln, geschweige denn im Rahmen ihrer institutionellen Struktur realisieren. Äußerungen aus Kreisen der Wirtschaft über bildungspolitische oder pädagogische Themen bleiben deshalb spekulativ und gehen selten über das hinaus, was der journalistische mainstream ohnehin für pädagogisch fortschrittlich hält. Aus ihrem eigenen Handlungs- und Verantwortungshorizont heraus vermag die Wirtschaft nicht einmal zu ermitteln, welche Bildungsgehalte und didaktischen Konstruktionen für sie selbst besonders nützlich sind - geschweige denn, dass sie wüsste, wie über Jahre hinweg in den Schulen didaktisch-methodisch entwickelt werden muss, was sie zu brauchen glaubt. Wenn alle Schüler den Abschluss eines humanistischen Gymnasiums erreichten - würde das der Wirtschaft nützen oder nicht? Von der Langfristigkeit und Komplexität individueller Bildungsprozesse hat sie im Rahmen ihrer Denkmuster keine angemessenen Vorstellungen, ebenso wenig von denjenigen Motivationen, die dafür erforderlich sind. Selbstverständlich können auch Fachleute der Wirtschaft sich über pädagogische Fragen kundig machen, aber sobald sie pädagogisch argumentieren, müssen sie ihre betriebswirtschaftliche Logik verlassen.

"Die Wirtschaft" benötigt z.B. - wie ihre Repräsentanten immer wieder betonen - Flexibilität, also die Fähigkeit, sich veränderten Arbeitsweisen, Zielen und Methoden am Arbeitsplatz und auch am Arbeitsmarkt zügig anzupassen. Aber welche pädagogischen Strategien nötig sind, um eine dafür geeignete geistige, soziale und affektive Disposition zu lernen, weiß sie von sich aus nicht. Die Schule soll zur "Teamarbeit" erziehen - heißt es - , weil diese Fähigkeit als "Schlüsselqualifikation" im Betrieb gebraucht werde - aber Sinn und Zweck der betrieblichen Teamarbeit, die übrigens dort so verbreitet gar nicht ist, kann die Schule in ihren Räumen nicht arrangieren, weil hier nichts mit Gewinn produziert wird, also das entscheidende Erfolgskriterium fehlt. Die für das unterrichtliche Lernen optimalen Sozialformen sind nicht identisch mit den im Betrieb gebotenen. Übersieht man das, würde "Teamfähigkeit" nur in den Rang einer prinzipiellen Tugend erhoben, als sei sie mehr als nur eine situationsbezogene Verhaltensstrategie, die in anderen Situationen unangebracht ist. Dass unterrichtliche Arrangements gesellschaftliche Veranstaltungen sui generis sind, mit eigenen Regeln und einer eigenen Logik, wird merkwürdigerweise auch in breiten Teilen der Bevölkerung leicht ignoriert; nur wenn der Schulunterricht von etwas angeblich Wichtigerem - z.B. der Produktion - abgeleitet wird, kann man ihm eine Bedeutung abgewinnen. Das planmäßige Lehren hat jedoch selbst dann eine andere innere Struktur und Ordnung als das marktgerechte Produzieren, wenn es sich ausdrücklich wie in der Berufsschule darauf bezieht. Diese Erfahrung mussten auch diejenigen machen, die in der Vergangenheit versucht haben, den Unterricht mit der Arbeitsorganisation zu verbinden - ein bekanntes Exempel war etwa die polytechnische Erziehung und Bildung in der DDR

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("Unterrichtstag in der Produktion"). Stets konnte die Lösung nur im Wechsel von der einen Tätigkeit in die andere bestehen - entweder Schule oder Produktionsort. Wer seinen Arbeitsplatz zum Zweck der Fortbildung verlässt, bemerkt diesen Unterschied schnell.

Der Begriff "Schlüsselqualifikation" - ein weiteres Zauberwort, mit dem Wirtschaftskreise gerne hantieren - tauchte in den achtziger Jahren im Rahmen von Reformüberlegungen zur Berufsausbildung auf. Dort hatte sich die überlieferte Praxis, die gewerbliche Ausbildung in Hunderte von Einzelberufen aufzugliedern, als kaum noch durchführbar und wenig erfolgreich erwiesen. Historisch gesehen beruhte dieses System auf einer Notlösung, weil es von einem relativ niedrigen Niveau der in der früheren Volksschule erworbenen Allgemeinbildung auszugehen hatte. Nun fahndete man nach komprimierten Grundlagen für möglichst viele Berufe. Als man jedoch daran ging näher zu bestimmen, was darunter zu verstehen sei, stellte sich schnell heraus, dass die dabei ermittelten generellen Qualifikationen eigentlich für akademische Berufe ebenso gelten können wie für Facharbeiter. Im Grunde handelt es sich hier um Fähigkeiten, die man früher als "formale Bildung" bezeichnet hat, nämlich um Techniken der geistigen Arbeit und der Kommunikation, die allerdings ebenso wenig wie eine gründliche Allgemeinbildung leicht und offensichtlich auch nicht von allen Schülern im erwünschten Maße und vor allem nicht inhaltsfrei gelernt werden können. Von der "lernenden Organisation", zu der auch die Schule werden sollte, spricht inzwischen kaum noch jemand, weil dieses Konzept selbst im Hinblick auf einen Wirtschaftsbetrieb von zu vielen realitätsfernen Prämissen ausgeht (4).

Zwischen einem Wirtschaftsbetrieb und einer Schule bestehen gravierende Unterschiede. Was die Schule leistet, lässt sich nicht über eine Preisfindung in den Markt einbringen und dort verkaufen. Eine Schule kann zwar - aus welchen Gründen auch immer - geschlossen werden, aber sie kann nicht in Konkurs gehen. Im eingeschränkten Sinne gibt es zwar eine Marktkonkurrenz zwischen einzelnen Schulen, insofern sie - zumal bei geburtenschwachen Jahrgängen - um Schüler werben, aber wer dabei ins Hintertreffen gerät, muss keine existenziellen Konsequenzen fürchten. Das Personal - die Lehrer - kann selbst beim Schließen einer Schule (in Deutschland) nicht entlassen und nach Bedarf wieder eingestellt werden, und die Kunden haben kaum die Wahl zwischen mehreren Produkten. Für das, was man hier als Produkt bezeichnen könnte - nämlich den Bildungsstand der Schüler - muss keine Haftung übernommen werden. Was soll unter diesen Bedingungen "Qualitätssicherung" heißen (5)? Man muss also mit der Übertragung betriebswirtschaftlicher Begriffe auf die Institution Schule vorsichtig umgehen. Man mag die Schule als eine Dienstleistung betrachten, aber deshalb ist sie noch lange kein Dienstleistungsunternehmen. Die Schüler bzw. deren Eltern sind keine Kunden, weil es hier nichts zu

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kaufen gibt und weil der Schulträger Staat nicht als Unternehmer agiert. Wird die Idee des Wettbewerbs, der keineswegs ein gesellschaftliches Allheilmittel ist, hier übertrieben, setzt sich wie beim Fernsehen möglicherweise ein relativ niedriges Niveau durch. Soll oder muss eine Hochschule um die meisten oder um die besten Studenten mit anderen in Wettbewerb treten? Das hängt wesentlich davon ab, worauf sich ihre Finanzierung gründet.

Gleichwohl können in einem analogen Sinne betriebswirtschaftliche Leitmotive von Nutzen sein. Die Verwaltung kann mit ihrer Hilfe gestrafft, die Leistungskontrolle getrennt davon effektiv organisiert werden. Nützlich sind auch zeitökonomische Überlegungen im Hinblick darauf, welche Unterrichtsmethoden in einer bestimmten Situation besonders ergiebig sind. Wenn man der Einzelschule einen eigenen Etat zur Verfügung stellt, mit dem sie selbstständig wirtschaften darf, würde viel bürokratische Umständlichkeit verschwinden; zudem erhielte die Mitbestimmung der Schüler einen neuen Sinn, weil Haushaltsfragen bekanntlich immer auch Anlass zu inhaltlichen Debatten geben; man muss begründen, wofür man warum wie viel Geld oder Dienstleistungen haben will.

Es kann also nicht um die Übertragung betriebswirtschaftlicher Maßstäbe auf die Schule gehen. Vielmehr muss der Eigensinn der Schule zunächst einmal auf dem Hintergrund ihrer besonderen Aufgabenstellung und der daraus abzuleitenden sachlichen und menschlichen Dimensionen ermittelt werden. Dann stellt sich schnell heraus, dass die Schule als Ort des planmäßigen und langfristigen Lehrens und Lernens in wesentlichen Punkten mit keiner anderen gesellschaftlichen Institution vergleichbar ist, in ihr gelten vielmehr die Regeln der Bildungsgemeinschaft, nicht einer Betriebsgemeinschaft. So wie Lehrer mit ihren Schülern im Idealfall umgehen sollten, kann man nicht ohne weiteres im Betrieb miteinander umgehen - von den allgemeinen Regeln der Höflichkeit einmal abgesehen. Die eigentümliche "pädagogische Beziehung" etwa zwischen Lehrern und Schülern kann weder aus anderen gesellschaftlichen Tätigkeitsbereichen importiert noch dorthin exportiert werden.

Unterschätzung volkswirtschaftlicher Notwendigkeiten


Volkswirtschaftlich betrachtet sieht das Verhältnis von Pädagogik und Ökonomie etwas anders aus. Das Bildungswesen kostet die staatliche Gemeinschaft viel Geld, ohne dass sein wirtschaftlicher Nutzen exakt zu berechnen wäre. Als die mit der Bildungseuphorie der 60er und 70er Jahre verbundenen expandierenden Reformpläne von der Universität bis zum Kindergarten und zur Jugendhilfe, die nicht zuletzt ökonomisch begründet wurden, sich schon Anfang der 70er Jahre als nicht mehr finanzierbar erwiesen, kamen zunehmend Zweifel daran auf, ob die erheblich gestiegenen Kosten zu einem vertretbaren Resultat geführt hatten. Die nun eingeleiteten Sparmaßnahmen legten die Frage nahe, ob ein nennenswerter Effekt nicht auch mit weniger Investitionen zu erreichen sei. Daraus hat sich inzwischen unter dem Diktat neoliberaler Marktradikalität ein parteiübergreifender Wettbewerb der Kostensenkung gerade auch im Bildungsbereich ergeben; Sparen ist "in" geworden, der Staat wird verbetriebswirtschaftlicht.

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Andererseits ist in den letzten Jahrzehnten dem Bildungswesen gegenüber innerhalb der Bevölkerung eine sozialpolitisch fundierte Anspruchshaltung entstanden, die die Balance von Angebot und Leistung in eine Schieflage gebracht hat: Der Andrang auf die höheren Bildungseinrichtungen - Gymnasium wie Universität - wurde verbunden mit der Einstellung, dies alles stünde einem zu, sei als ein Recht ohne Gegenleistung zu verstehen. Selbst der offenkundig lernunwillige Schüler oder auch Student habe das Recht, optimal gefördert zu werden. Wer nicht begabt sei, müsse eben begabt werden - nicht etwa zumindest auch sich selbst zu begaben versuchen. Universitäten und Gymnasien sind teilweise besetzt mit Schülern und Studenten, die im Grunde dort nicht hingehören, bzw. nur dann dort einen Platz beanspruchen dürften, wenn sie das Ihre zu einer effektiven Nutzung dieser Einrichtungen beitragen würden. Inzwischen hat sich wieder herausgestellt, dass Bildung auch bei uns - in Entwicklungsländern ohnehin - ein knappes und deshalb teures Gut bleibt. Der Erziehung von Kindern und Jugendlichen würde gewiss nicht schaden, solche wirtschaftlichen Gesichtspunkte wieder ins Feld zu führen und deutlich zu machen, dass Ökonomie die Verwaltung eines Mangels ist und dass deshalb die Inanspruchnahme einer gesellschaftlichen Ressource wie des Bildungswesens einer je persönlichen Gegenleistung bedarf. Selbst pädagogische Grundphänomene haben eine ökonomische Basis. So ist das Generationenverhältnis, auf dem letztlich jedes pädagogische Selbstverständnis nach wie vor beruht, im Kern ein volkswirtschaftlich fundiertes. Es resultiert bekanntlich aus der biologisch bedingten Tatsache, dass die nachwachsende Generation von sich aus über Jahre hinweg nicht nur physisch nicht überlebensfähig ist, sondern auch ihren Unterhalt nicht selbst erwirtschaften kann. Deshalb hat das Generationenverhältnis die ideelle Form eines Kredits, der von den Kindern zurückgezahlt werden muss, wenn sie erwachsen geworden sind. Entsprechendes gilt für das Angebot von Schulen. Auch sie sind Bestandteil des Generationenvertrages, auch sie beruhen demnach auf dem Grundsatz eines wechselseitigen Gebens und Nehmens. Sie sind primär eine Veranstaltung des Staates bzw. der Gesellschaft, und dies nicht zuletzt in ökonomischer Hinsicht, nämlich zur Sicherung der wirtschaftlichen Produktion und Reproduktion zum Nutzen aller Mitglieder der Gesellschaft. Wenn dabei in der Moderne der Persönlichkeit und der Individualität des Kindes nachdrücklich Rechnung getragen wird, dann nicht aus romantischer Sentimentalität, sondern weil moderne Gesellschaften eines hohen Maßes an Individualisierung möglichst aller Menschen bedürfen. In diesen Zusammenhang gehört auch die Freisetzung des Kindes- und Jugendalters von unmittelbaren ökonomischen Zwängen sowie die Abschaffung der Kinderarbeit, was die Ausdifferenzierung eines hochkomplexen Bildungs- und Erziehungssystems überhaupt erst möglich machte. Kinder und Jugendliche - heißt das - können dem Arbeitsmarkt für eine Reihe von Jahren entzogen werden. Dies war nur möglich auf dem Hintergrund entsprechend gestiegener volkswirtschaftlicher Ressourcen; aber die ökonomischen Implikationen und Zwecke verschwanden damit nicht, sondern wurden nun auf eine höhere, effektivere Ebene gehoben: der Nutzen sollte später um so höher ausfallen.

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Auf der anderen Seite war dieser Prozess der ökonomischen Ausgliederung von Kindheit und Jugend auch Voraussetzung für eine weitgehende Emanzipation der professionellen Pädagogik von unmittelbaren wirtschaftlichen Abhängigkeiten. Die Gesellschaft konnte sich zunehmend den Luxus relativ autonomer pädagogischer Einrichtungen und darauf bezogener Konzepte und Theorien leisten. Und erst in diesem Prozess entfalten sich auch die modernen pädagogischen Vorstellungen und Begriffe. Die Pädagogik erhält nun einen relativ unabhängigen eigenen professionellen Handlungsrahmen, von dem aus sie Erwartungen der gesellschaftlichen Interessenten - auch der Wirtschaft - nach eigenen Maßstäben überprüfen und sortieren kann. Die enormen Kosten für all das mussten aber erst einmal der Volkswirtschaft zur Verfügung stehen, und es hat lange gedauert, bis es so weit war. Die Pädagogik tut gut daran, diesen ökonomischen Zusammenhang, die Basis ihrer eigenen Existenz, nicht zu vergessen - auch nicht im Hinblick auf ihre gegenwärtigen Programme, Ziele und Wünsche.

Betriebswirtschaftlich gesehen mag es in einer Zeit hoher struktureller Arbeitslosigkeit kein Interesse mehr daran geben, möglichst alle möglichst hoch zu qualifizieren, sondern nur noch die wirklich Begabten optimal zu fördern, wobei die bestmögliche Förderung des ganzen Nachwuchses allenfalls zur Ermittlung der besonders Begabten dient. Das betriebswirtschaftliche Interesse beschränkt sich hier auf das Vorhandensein eines Reservoirs von unterschiedlich qualifizierten Menschen, die nach Bedarf eingestellt und gegebenenfalls auch möglichst problemlos wieder entlassen werden können.

Volkswirtschaftlich betrachtet gilt eine andere Rechnung. Hier müssen Kosten beglichen werden, die im Gemeinwesen entstehen, ohne dass sie als solche auf einem Markt erwirtschaftet werden können: für die notwendigen staatlichen Organe und Tätigkeiten, für Arme, Arbeitslose und Rentner und eben auch für das Bildungswesen. Auf dieser Ebene entsteht zum Beispiel die Frage, ob durch einen Mangel an Bildung (mit) verursachte Marginalisierung von Bürgern das Gemeinwesen letztlich teurer zu stehen kommt als höhere Investitionen in das Bildungswesen. Oder ob Bildungsausgaben nicht eine präventive Wirkung gegen Kriminalität haben. Auch das sind für sich genommen berechtigte Kostenkalküle, die abgewogen werden müssen.

Aber solche volkswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Rechnungen reichen allein nicht aus, um Pädagogik und Bildungspolitik gesellschaftlich zu verorten. Hinzukommen muss der politische Wille. Eine höchstmögliche Bildung für alle lässt sich nicht allein aus wirtschaftlichen Erwägungen ableiten, obwohl sie dazu nicht in Widerspruch stehen muss, sondern beruht auf einem demokratischen Menschenbild, wie es Dahrendorf mit der Formel von der "Bildung als Bürgerrecht" formuliert hat. Demnach ist es Aufgabe des Bildungswesens, die menschlichen Fähigkeiten insgesamt zu fördern, nicht nur im Hinblick auf die wirtschaftliche, sondern auch auf die politische und kulturelle Beteiligung - auch wenn diese Partizipationschancen sich nicht in betrieblichen und volkswirtschaftlichen Bilanzen niederschlagen. Eine solche Vorstellung entsteht nicht am Markt, sondern im Rahmen politischer Entscheidungen. Die Ökonomisierung der öffentlichen Sprache scheint diese politische Verantwortung des

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Staates allerdings allmählich zum Verschwinden zu bringen und dies im gleichen Atemzug zu rechtfertigen.

Ein Zurückweichen des Staates ist auch unverkennbar im Hinblick auf seine politische Verantwortung für die Rahmenbedingungen des privatwirtschaftlich betriebenen Marktes, die dieser von sich aus nicht herstellen und garantieren kann. Ohne solche Bedingungen könnte sich das ökonomische Vorteilskalkül nicht entfalten. Der Markt kann seine Existenz nicht selbst garantieren, nicht z.B. Handel statt Raub durchsetzen. In der Notwendigkeit des politischen Handelns treffen das - in der erwähnten Bedeutung - gesinnungslose ökonomische Vorteilsdenken einerseits und wertorientiertes Denken über das erwünschte und nach Lage der Dinge mögliche gesellschaftliche Zusammenleben andererseits aufeinander.

Die neoliberale Weltanschauung erweckt dagegen den Eindruck, als seien die mit dem Stichwort "Globalisierung" bezeichneten Veränderungen eine Art Naturereignis, dem sich niemand entziehen könne. Tatsächlich jedoch ist das daraus resultierende Wirtschafts- und Finanzsystem politisch gewollt und könnte deshalb hinsichtlich seiner Rahmenbedingungen auch politisch geändert und modifiziert werden. Die Verantwortung dafür trägt also nicht die Wirtschaft, sondern die nationale bzw. internationale Politik (6). Ohne einen international verabredeten bzw. geduldeten politischen Schutz könnte der "Heuschrecken-Kapitalismus" in Gestalt des weltweit die Chancen zu seiner Maximierung abgrasenden Finanzkapitals so nicht funktionieren. Schon eine geringfügige Steuer auf jeden Kapitaltransfer würde die Bedingungen dafür verändern. Das macht aus der Sicht des Bürgers den wesentlichen Unterschied zwischen Politik und Wirtschaft aus: Politiker kann er wählen und abwählen, Unternehmer nicht. Wenn Politiker an die Moral von Unternehmern appellieren, anstatt ihnen die dafür nötigen Rahmenbedingungen vorzugeben, sind sie gemeinhin mit ihrem wirtschaftspolitischen Latein am Ende. Die Pädagogik und hier vor allem die politische Bildung sollte sich nicht daran beteiligen, eine richtige (politische) Moral im dafür falschen (ökonomischen) Handlungszusammenhang zu erwarten.

 

Homo neoliberalis


In der neoliberalen Ökonomisierung der Sprache drückt sich aber auch eine bestimmte Anthropologie aus, die der Pädagogik nicht gleichgültig sein kann. Friedhelm Hengsbach hat sie am Beispiel der gegenwärtig durchgesetzten Agenda der Bundesregierung wie folgt kritisiert:

"Die Agenda rechnet mit gesellschaftlich entkoppelten Menschen. Deren Individualisierung wird als Chance gedeutet. Dass ihr eine Individualisierung gesellschaftlicher Risiken korrespondiert, wird verschwiegen. Die Individuen gelten als hochgradig flexibel und mobil. Sie

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verknüpfen ihre Biographien und Rollen zu einem variablen Identitätsbündel. Die Agenda nutzt die individuellen Bedürfnisse betrieblicher, beruflicher und zeitlicher Flexibilität sowie räumlicher Mobilität, um verkrustete Regeln des Arbeitsmarkts zugunsten der Freiheit des Individuums zu verändern. Sie unterscheidet nicht zwischen authentischen Flexibilitäts- und Mobilitätsbedürfnissen souveräner Individuen und der erzwungenen Flexibilität und Mobilität abhängig Beschäftigter. Den flexiblen und mobilen Agenda-Menschen, denen eine Erwerbsgelegenheit angeboten wird, ist zuzumuten, dass sie die Rücksichtnahme auf familiäre, partnerschaftliche oder regionale Bindungen sowie alle Emotionen abstreifen, die ihre Karriere behindern"(7).

Das in der Moderne entstandene gesellschaftliche Konzept der Individualisierung, das uns zahlreiche öffentliche und private Freiheiten errungen, die persönliche Verantwortung für die Lebensgestaltung freigesetzt hat und zur Grundlage der Idee einer allgemein gültigen Menschenwürde wie auch der klassischen Bildung wurde, droht hier auf die Freiheit des Marktzugangs reduziert zu werden. Deshalb ist es an der Zeit, auch pädagogische Vorstellungen von Individualisierung einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Führen sie zu einer vielseitigen Entwicklung der Persönlichkeit oder nicht lediglich zur vorweggenommenen Eingliederung in eine ökonomische Reservearmee, deren wirtschaftliche Inanspruchnahme gleichwohl ungewiss bleibt? Wie ist auf diesem Hintergrund die teilweise geradezu kultische Betonung der kindlichen Individualität zu deuten - bis hin zur Forderung nach individualisierten Unterrichtsangeboten in der Schule?

"Die These vom 'selbständigen Kind' korrespondiert mit (vermeintlichen) psychischen und sozialen Entwicklungsnotwendigkeiten, die als zwingende Folge von Globalisierungsprozessen angesehen werden. In Zeiten schnellen gesellschaftlichen Wandels, so die Auffassung der Modernisierungsbefürworter, verlieren bisher sicher geglaubte Zukunftsvorstellungen an Wert. Man wisse nicht mehr, was Kinder für ihr zukünftiges Leben brauchen und deshalb auch nicht, wohin man ihren Weg leiten soll. Ihre Lebensgestaltung werde weitgehend individualisiert sein, mit enormen Gestaltungsspielräumen versehen, von Unvorhersehbarem geprägt. Flexibilität gilt als unumgängliche Voraussetzung, um im Leben zu bestehen, und damit die Fähigkeit, sich schnell auf Neues einzustellen und Altes zu vergessen. In den Hintergrund gerät dabei all das, was auf Langfristigkeit ausgelegt ist. Sicher sei nur der Wandel. Auf Grund einer solchen Ungewißheit verbiete sich ein zielgerichtetes Einwirken auf Kinder und Jugendliche"(8).

Bernd Ahrbeck sieht solche Tendenzen insbesondere in systemisch-konstruktivistischen Ansätzen, wonach sich die kindliche Entwicklung vor allem als Selbstkonstruktionsprozess vollziehe, der einer inneren, von außen kaum noch zu beeinflussenden Entwicklungslogik folge. Die Frage, inwieweit pädagogische Theorien der im Begriff Humankapital verdichteten ökonomischen Reduktion der Individualisierung nahe stehen, bedürfte einer gründlicheren Untersuchung, als sie an dieser Stelle erfolgen kann.

Sieht man auf den gegenwärtigen öffentlichen Sprachgebrauch, dann besteht eine erhebliche Differenz zwischen "Bildung" und "Humankapital", insofern die öko-

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nomische Engführung substanzielle Aspekte des Bildungsprozesses außer Acht lässt, nämlich "eigenständige Urteilskraft, intrinsische Motivation, Stärke der Persönlichkeit, Empathie, kulturelle Offenheit, Sprachen als Schlüssel zu zeitgenössischen und vergangenen Lebenswelten, historisches Bewusstsein, Orientierungswissen, auch mathematisch-naturwissenschaftliches, statt Vielwisserei"(9). Versteht man unter Humankapital jedoch das, was die Wirtschaft an menschlichen Fähigkeiten tatsächlich braucht, dann ergibt sich ein Paradox: Was sie benötigt, kann nur entstehen, wenn man möglichst wenig dabei an sie denkt. Die beste Berufsausbildung beruht auf einer möglichst hohen Allgemeinbildung, weil nur sie anschlussfähig ist für jeweils notwendige An- und Umlernprozesse. "Deutschland sollte sich in diesem Sinne wieder als eine Bildungs- und Kulturnation definieren. Wenn es dabei am wenigsten an den unmittelbaren ökonomischen Nutzen denkt, wird dieser am größten sein. Bildung darf nicht lediglich der Ausbildung dienen, nein, paradoxerweise ist Bildung spätestens heute zur besten Ausbildung geworden"(10).

"Der Humboldtsche Bildungsbegriff ist moderner denn je. Fast alle scheinbar ewigen Formen, Unsicherheit zu bewältigen, verlieren an Bedeutung - Familie, Ehe, Geschlechterrollen, Klassen, Parteien, Kirchen, zuletzt auch der Wohlfahrtsstaat. Auf diese Vervollkommnung der Unsicherheit gibt es bislang nur drei Antworten: Bildung, Bildung, Bildung!"(11)

Voraussetzung für entsprechende pädagogische Strategien ist jedoch nach wie vor ein besonderer, institutionell abgesicherter sozialer Ort - Schule bzw. Hochschule - , der in Distanz zu Staat und Markt bleiben darf und gerade deshalb auch zu seiner Selbstverständigung eine eigentümliche, nämlich relativ komplexe Begrifflichkeit für seine spezifischen Denk- und Handlungsmuster braucht. "Humankapital" im Sinne ökonomischer Verwertbarbeit ist dann ein Resultat von Bildung neben anderen, macht aber nicht deren Substanz aus; sie muss vielmehr für die gesamte Lebensführung und gerade auch für diejenigen Menschen "verwertbar" sein, die ganz oder zeitweilig vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind. So gesehen bezeichnet Bildung "die Spannung oder Brücke ... zwischen tradierten Idealen und aktuellem Kompetenzbedarf, zwischen philosophischer Selbstvergewisserung und praktischer Selbsterhaltung der Gesellschaft. Ich hätte auch - mit Platons großem Gleichnis - sagen können: Bildung ist beides - Aufstieg ans Sonnenlicht und Abstieg in die Höhle. Das eine ist ohne das andere sinnlos und unbekömmlich"(12).

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Anmerkungen

1 Iwd (= Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft) Nr. 3/2005, S. 6f.

2 Ralf Dahrendorf in: DIE ZEIT Nr. 5/27.1.05

3 Wilfried Herz: Variabel wie die Rocklänge. Politiker, Manager und Wissenschaftler unterwerfen sich wechselnden Moden - oft zum Schaden ihrer Sache. In: DIE ZEIT Nr:11/4.3.05, S. 28

4 Vgl. Konrad Fees: Schule als "Lernende Organisation". Zur Problematik eines Theorieimportes. In: Die Deutsche Schule, H1/2004, S. 10-22

5 Vgl.: Ewald Terhart: Qualität und Qualitätssicherung im Schulsystem. In: Zeitschrift für Pädagogik, H. 6/2000, S. 809-829

6 Eine knappe Beschreibung der politischen und ökonomischen Hintergründe in: Friedhelm Hengsbach: Das Reformspektakel. Freiburg 2004

7 Friedhelm Hengsbach: Das Reformspektakel. Freiburg 2004, S. 10f.

8 Bernd Ahrbeck: Das Schlüsselkind - ein Held der neuen Zeit? Der Rückzug der Erwachsenen aus der Erziehung. In: Forschung& Lehre, H. 4/2005, S. 178-180, hier S. 179f.

9 Julian Nida-Rümelin: Das hat Humboldt nie gewollt. Weil wir uns nur für den wirtschaftlichen Nutzen interessieren, verkennen wir den Wert der Bildung. Das muss sich ändern. Aus Deutschland sollte wieder eine Kulturnation werden. Ein Plädoyer. In. DIE ZEIT Nr. 10/3.3.05

10 ebenda

11 Ulrich Beck: Vorwärts zu "Humboldt 2". Als nationale Institution ist die Universität am Ende. Sie muss neu erfunden werden. In: DIE ZEIT Nr. 47/11. Nov. 2004

12 Hartmut von Hentig: Bildung. München/Wien 1996, S. 58


 
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