TitelbildHermann Giesecke:

Leben nach der Arbeit

Ursprünge und Perspektiven der Freizeitpädagogik

München: Juventa-Verlag 1983

 


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Zu dieser Edition: 

Der Text des Buches wird hier vollständig wiedergegeben.  Zum biographischen Hintergrund vgl. meine Autobiographie Mein Leben ist lernen. Das  Literaturverzeichnis befindet sich  naturgemäß auf dem Stand des Erscheinungsjahres 1983. 
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Der Text darf zum persönlichen Gebrauch kopiert und unter Angabe der Quelle im Rahmen wissenschaftlicher und publizistischer Arbeiten wie seine gedruckte Fassung verwendet werden. Die Rechte verbleiben beim Autor.
© Hermann Giesecke

INHALT

Vorweg: Worum es geht

I. Der Kampf um Freizeit (1890-1918) 

Was ist »Freizeit« ?
Der Kampf um den Achtstundentag
Urlaub als Privileg
Der Kampf um Kinder- und Jugendarbeitsschutz

Arbeiterfreizeit als sozialpolitisches Problem
Friedrich Naumann: Christliches Engagement im Rahmen der »Erholungsindustrie«

II.  Freizeitbewegung und Freizeitgestaltung (1918-1945) 

Die Entwicklung der Freizeit in der Weimarer Republik
»Freizeitbewegung"

Fritz Klatt: »Freizeitpädagogik"
Freizeitpolitik im Nationalsozialismus
 

III. Auf dem Weg zur Freizeit- und Konsumgesellschaft 

Freizeitentwicklung nach 1945
Von der Freizeiterziehung zur Freizeitsozialisation
Arbeit und Freizeit im Wandel
Freizeitpädagogische Reaktionen

IV. Resümee über Freizeitpädagogik

Wozu noch Freizeitpädagogik?
Option und Identität

Schule für die Freizeit 

Literaturverzeichnis

 

Vorweg: Worum es geht

Seit Beginn der Industrialisierung kennen wir das Diktat der Erwerbsarbeit über unsere Zeit: Die Arbeit beginnt und endet zu festgelegten Zeiten, und darum herum und von daher geprägt gruppiert sich der Rest unserer Zeit. Als Kinder und Jugendliche bereiten wir uns auf die Erwerbsarbeit vor, als Erwachsene üben wir sie aus, und als Rentner ziehen wir uns wieder aus ihr zurück. Auf dieser Zeitordnung beruhen alle wichtigen Konstruktionen unseres gesellschaftlichen Lebens, nicht zuletzt die Systeme der sozialen Sicherung und der Bildung. Wenn nicht alles trügt, gerät nun aber diese Zeitordnung ins Wanken; wir werden in Zukunft nicht nur zeitlich weniger arbeiten, sondern werden auch das Wielange und das Wann unserer Arbeitszeit individuell mit festlegen können und sogar müssen; denn alles spricht dafür, daß die bezahlbare Arbeit knapper werden wird, weil technologische Fortschritte - Mikroelektronik und Computer - Arbeitsplätze weiter vermindern werden. Wollen wir nicht einen neuen »Klassenkampf« in Kauf nehmen zwischen denen, die Arbeit haben, und denen, die keine finden, dann müssen wir die Arbeit neu verteilen, die Arbeitszeit also in irgendeiner Form verkürzen. Wir werden unterscheiden müssen zwischen einer sich verkürzenden Erwerbstätigkeit, der wir im wesentlichen unsere materielle Existenz verdanken, und anderen Tätigkeiten politischer, sozialer und wirtschaftlicher Art, die - bezahlt oder unbezahlt - uns menschlich unter Umständen mehr befriedigen als die notwendige Erwerbsarbeit. Längst gibt es neben der »offiziellen« Wirtschaft, die in unseren Statistiken erscheint, eine inoffizielle. Die Hobby-Arbeiten zum Beispiel haben einen Wert von ca. 40 Milliarden DM im Jahr, das sind rund 2,7 % des Bruttosozialproduktes, die Schwarzarbeit macht etwa 7 Prozent des Bruttosozialproduktes aus (Der Spiegel, Nr. 18/1983, S. 78). Im sozialen Bereich zeichnet sich ab, daß die von der öffentlichen Hand bezahlbaren Einrichtungen und Leistungen an

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ihre Grenze gelangt sind. Vielfach haben Selbsthilfegruppen, die mit geringem finanziellen Aufwand arbeiten müssen, mehr Erfolg, als zum Beispiel aufwendige öffentliche Einrichtungen. Neben Hausarbeit und Kindererziehung, die immer schon unbezahlte, aber unersetzliche gesellschaftliche Tätigkeiten waren, werden vermutlich auch andere soziale Aufgaben wieder verstärkt in Form gemeinsamer Selbsthilfe erledigt werden müssen. Möglich wäre dies unter der Voraussetzung, daß die Erwerbsarbeit zeitlich entsprechend verkürzt würde.

Wenn aber solche Prognosen, die von immer mehr Fachleuten vertreten werden, zutreffend sind, dann stehen wir vor einer Reihe von schwerwiegenden gesellschaftlichen wie privaten Problemen. Will man zum Beispiel die Jugendarbeitslosigkeit beseitigen, dann wird man wahrscheinlich die eingangs erwähnte soziale Grundstruktur unseres Lebens - Lernen im Jugendalter, Arbeiten in den mittleren Lebensjahren, als Rentner aus dem Arbeitsleben aussteigen - korrigieren müssen. Neuverteilung der Arbeit heißt ja auch, die gesamtgesellschaftlichen Kosten der Nicht-Arbeitenden neu zu verteilen. Will man also junge Leute früh in die Erwerbsarbeit bringen, müßte man den mittleren Generationen Arbeitsentlastung verschaffen, zum Beispiel durch Gewährung von Bildungsurlaub unter einigermaßen vertretbaren finanziellen Bedingungen. Das könnte zum Beispiel zur Folge haben, daß an unseren Hochschulen in Zukunft mehr 30- bis 40jährige mit Berufserfahrung studieren, als 20- bis 30jährige ohne Berufserfahrung. Man kann sich unschwer ausmalen, welche Konsequenzen dies für unsere Bildungsorganisation im ganzen hätte.

Ein weiteres Problem für die Zukunft ist, daß bisher die Erwerbsarbeit nicht nur zeitlich unser Leben bestimmte, sondern auch moralisch. Die Arbeit ordnete unseren Lebenslauf wie unseren Alltag auch hinsichtlich unserer Normen und Verhaltensweisen. Wie werden wir damit fertig, wenn die Erwerbsarbeit schrumpft? Nach welchen leitenden Ideen wollen wir tätig sein und unser Leben gestalten? An der Jugendarbeitslosigkeit ist gut zu beobachten, welche moralischen Folgen nicht zuletzt auch für das Selbstwertgefühl ein Leben hat, in dessen Mittelpunkt nicht die Arbeit, sondern nur eine wenn auch ungewollte Freizeit steht.

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Der Titel dieses Buches – "Leben nach der Arbeit" - hat in diesem Zusammenhang eine doppelte Bedeutung. Historisch gesehen verweist er auf jenen Teil des menschlichen Lebens, der sich nach der Erwerbsarbeit abspielte, also auf die mehr oder weniger »sinnvoll« gestaltete Freizeit. Auf die Zukunft bezogen signalisiert der Titel jene eben skizzierte Perspektive einer Gesellschaft, die nicht mehr in erster Linie durch die Erwerbsarbeit aller zusammen gehalten wird. Wie es zu dieser Lage kam, versucht dieses Buch nachzuzeichnen und zu erklären.

Begonnen hat die kulturelle Revolution, in der wir uns befinden und die ihren Höhepunkt noch nicht erreicht hat, ganz unscheinbar, mit der gesetzlichen Einführung des arbeitsfreien Sonntags im Jahre 1891. Aufmerksame Zeitgenossen wie Friedrich Naumann erkannten, daß damit nur eine Entwicklung ihren Anfang nahm, die bedeutsame kulturelle Folgen haben werde. Mit dem freien Sonntag und dem bis 1918 erkämpften Achtstundentag fiel den Arbeitnehmern Zeit zu, die nicht nur frei von Arbeitsverpflichtungen und den damit verbundenen Reglementierungen war, sondern auch frei für neue Möglichkeiten: für Vergnügungen, für politische Tätigkeit, für Bildung. Vor allem aber: Die arbeitsfreie Zeit machte normativen weltanschaulichen Pluralismus erlebbar und ließ damit auf Dauer kulturelle und normative Relativierung der eigenen Existenz erfahrbar werden. Freizeit war die Zeit, wo die Christen atheistische Positionen zur Kenntnis nehmen konnten und umgekehrt. Gleichwohl hielten sich bis in die Weimarer Zeit unterschiedliche politisch-kulturelle Milieus - vor allem der Arbeiterbewegung, des Bildungsbürgertums und des Katholizismus -, an deren Leitbildern sich das Alltagsleben orientieren konnte. Aber die Erfindung des Rundfunks und vor allem des Kinos und deren massenhafte Verbreitung unterhöhlten die Bindekraft dieser Milieus, so daß am Ende der Weimarer Republik sich privatistische Neigungen und Interessen schon weitgehend durchgesetzt hatten.

Während vor dem Ersten Weltkrieg bürgerliche Kreise die Arbeiterfreizeit zum sozialpolitischen Problem machten - sie fürchteten sittliche Schäden und vor allem zunehmende politische Agitation - und die Sozialreformer unter ihnen sozialpädagogische Überlegungen darüber anstellten, wie man den Arbeitern bürgerliche Kultur und Geselligkeit - als

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Inbegriff »sinnvoller« Freizeitgestaltung – nahebringen könne, empfanden die Arbeiter selbst die zunehmende Freizeit keineswegs als problematisch. Hingegen wurde für die mittleren bürgerlichen Schichten die Freizeit insofern zum Problem, als normativer Pluralismus zusammentraf mit einer durch den Krieg und seine Folgen verursachten Identitätskrise. "Freizeitpädagogik" als Begriff und Sache entstand in diesem Zusammenhang als volksbildnerisches Angebot, in Distanz zum Alltag in "Freizeiten" experimentelle Lebensformen durchzuspielen, um auf diese Weise vielleicht eine neue, "sinnvollere" Lebensführung zu finden. Die in der Weimarer Zeit sich durchsetzenden kommerziellen Freizeitangebote - vor allem Kino, Massenschrifttum und Schlager bzw. Tanzmusik - wurden als erziehungs- und bildungsfeindlich gedeutet mit der Folge, daß der "Jugendschutz" eine neue Dimension bekam: Wurde er vorher im wesentlichen als Jugendarbeitsschutz verstanden, so nahm er nun den Charakter eines Jugendfreizeitschutzes an. Der kommerzielle Freizeitmarkt erwies sich jedoch langfristig als Sozialisationsfaktor, der, selbst nicht pädagogischen, sondern profitorientierten Maximen gehorchend, die traditionellen pädagogischen Leitbilder Zug um Zug relativierte und inzwischen praktisch außer Kraft gesetzt hat. Im Freizeitbereich vollzieht sich die Ablösung der Erziehung durch Sozialisation. Mehr und mehr erwiesen sich die vom Freizeitsystem ausgehenden Verhaltenserwartungen und Normen als das entscheidende pädagogische Freizeitproblem. Das wird deutlich im zähen und immer erfolgloser werdenden Kampf freizeitpädagogischer Konzepte gegen die kommerziellen Angebote. Dieser Kampf fand sein Ende etwa Anfang der sechziger Jahre, als das Bildungsbürgertum seine kulturelle Führungsposition in der Öffentlichkeit schnell

verlor und damit die Maßstäbe fehlten, an denen "sinnvolles" Freizeitverhalten zu messen gewesen wäre. Die Zeit des Nationalsozialismus ist in diesem Zusammenhang nur als Zwischenspiel anzusehen, insofern der Nationalsozialismus die liberalisierenden und individualisierenden Tendenzen des Freizeitsystems einerseits außer Kraft zu setzen, andererseits die schon erwähnte Verunsicherung der mittleren Schichten durch eine "Umwertung der Werte" (Arbeit als Dienst an der Volksgemeinschaft, Freizeit als notwendiger Ausgleich dafür) aufzufangen trachtete. Die Entwicklung

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nach 1945 ist vor allem gekennzeichnet durch eine erhebliche Vermehrung der Freizeit - vor allem des Urlaubs - sowie durch eine vorher unbekannte Erhöhung des Freizeit-Etats, also der für die Freizeit zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel, die wiederum die massenhafte Verbreitung hochwertiger technischer Erzeugnisse erlauben (Funk, Fernsehen, Tonträger, Video). Nun setzte sich ein Prozeß vollends durch, der schon in der Weimarer Zeit begonnen hatte und von den Nationalsozialisten nur unterbrochen worden war: die Verschiebung des Lebenssinns von der Arbeit auf die Freizeit, wobei die Arbeit immer mehr als notwendiges Übel für die materielle Sicherung eines befriedigenden Freizeitlebens gesehen wurde. Die eingangs geschilderten Zukunftsperspektiven sind also nicht über Nacht entstanden, sondern in einer jahrzehntelangen "kulturellen Revolution" vorbereitet worden.

Sieht man auf diesem Hintergrund die pädagogischen Reaktionen, so waren sie bis Anfang der sechziger Jahre geprägt von den schon erwähnten bildungsbürgerlichen Bemühungen, die neuen Massenfreizeitangebote wie Film, Schlager, Fernsehen in die Traditionen der alten Bildung einerseits und des von der Jugendbewegung entwickelten "Jugendgemäßen" andererseits zu integrieren, zum Beispiel dem Gesellschaftstanz den Volkstanz, dem Schlager das Volkslied, dem Kino das Theater entgegenzustellen, oder aber das Interesse an diesen Angeboten zu kultivieren, zum Beispiel vom Groschenheft zur guten Literatur, vom banalen Unterhaltungsfilm zum künstlerisch wertvollen Film hinzuführen. Andererseits setzten sich die in der Weimarer Zeit erfundenen "Freizeiten" in vielfacher Hinsicht als besondere Chance durch, freie Zeit auch für pädagogische Programme zu nutzen.

Das entscheidende pädagogische Problem aber wurden seit Ende der sechziger Jahre die vom Freizeit- und Konsumsystem ausgehenden Sozialisationswirkungen, also entsprechende Einstellungen, Verhaltensweisen oder Erwartungen, die alle anderen Lebensbereiche wie Schule und Arbeit überwältigen. Hinzu kommt die kulturelle Verunsicherung, die durch das Entschwinden jener Milieus entstanden ist, die vorher noch gewisse anerkannte regulative Ideen für ein kulturell angemessenes Verhalten angeboten hatten. In dieser Situation erhalten die Gleichaltrigen eine überragende, aber

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auch unzuverlässige, regelnde und selektierende Funktion für Kinder und Jugendliche. Die Verhaltensorientierung ist deshalb nicht sehr verläßlich, weil sie weitgehend ein Produkt von rasch wechselnden Moden ist. Die vom Freizeit- und Konsumsystem ausgehenden Schwierigkeiten lassen sich als das Verhältnis von Option und Identität charakterisieren: Was man in seiner Freizeit tun will, wofür man sein Geld ausgeben will, mit wem man welche Beziehung eingehen will und bis zu einem gewissen Grade auch: nach welchen konkurrierenden Werten man sich verhalten will, muß immer wieder entschieden werden. Sich Entscheiden aber bedeutet Verzicht auf das, wofür man sich auch hätte entscheiden können, und dieser Verzicht läßt eine latente Unzufriedenheit mit dem Gewählten aufkommen. Wie kann in einer solchen Lage Identität entstehen, also zum Beispiel ein Verhalten, das mit innerer Überzeugung durchgehalten werden kann?

Nimmt man dieses Problem mit dem eingangs erwähnten des tatsächlichen und moralischen Bedeutungsrückgangs der Arbeit zusammen, so läßt sich unschwer feststellen, daß erstens die traditionelle Freizeitpädagogik keinen Sinn mehr ergibt und daß zweitens unsere Bildungspolitik, auch die sogenannte "fortschrittliche", an der Vergangenheit und nicht an der Zukunft ausgerichtet ist. Der nötige Perspektivenwechsel kann - das ist eine These des Buches - nur darin liegen, daß nicht mehr überlegt wird, ob die eine Freizeittätigkeit "besser" sei als die andere, sondern nur darin, durch eine Rekonstruktion des Bildungsbegriffes die enge Bindung des Bildungswesens an die von der Erwerbsarbeit ausgehenden Kategorien gelockert wird zugunsten eines Konzeptes, das möglichst viele Fähigkeiten und Fertigkeiten fördert - gerade auch solche, die für die Erwerbsarbeit gar nicht benötigt werden.

Damit ist die Thematik der vorliegenden Veröffentlichung umrissen. Sie setzt Überlegungen fort, die ich in den Büchern "Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend" (München: Juventa 1981) und "Die Jugendarbeit" (München: Juventa 1980) begonnen habe. Ging es dort um die Darstellung eines besonders wichtigen Teiles der Freizeitpädagogik - die außerschulische Jugendarbeit - so richtet sich der Blick nun auf die skizzierten prinzipiellen Zusammenhänge zwi-

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schen Freizeit und Pädagogik. Die Texte, die ich in dem Reader "Freizeit- und Konsumerziehung" (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 3. Aufl. 1974) zugänglich gemacht habe, mag der Leser ergänzend hinzuziehen. - Frau Anneliese Probst habe ich erneut herzlich für die Herstellung des Manuskripts zu danken.

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I. Der Kampf um Freizeit (1890-1918)

Was ist »Freizeit« ?

"Freizeit" ist nicht dasselbe wie arbeitsfreie Zeit schlechthin. Für arbeitsfreie Zeit gibt es auch andere Bezeichnungen, zum Beispiel Muße, Feier, Feierabend. Man hat "Muße" etwas zu tun, das heißt niemand bedrängt einen, es gibt keinen Zeitplan, man bestimmt selbst Anfang und auch Ende der Tätigkeit. "Muße" ist inhaltlich gefüllte Zeit. Wer Muße hat, hat Zeit für etwas. Der moderne Begriff "Freizeit" dagegen hat von sich aus keine positive Kennzeichnung, er ist eine "Restzeit", die übrigbleibt, wenn man die Arbeit des Tages erledigt hat. Möglicherweise hat man dann noch "Muße", etwas zu tun. Dabei ist "Freizeit" kein Komplementärbegriff zur Arbeit und Tätigkeit schlechthin, sondern nur zu einer bestimmten, nämlich der industrialisierten. "Freizeit" paßt nicht zum alten bäuerlichen Lebensraum, da gibt es "Feierabend", nämlich fließende Übergänge zwischen Arbeitstätigkeiten und anderen Tätigkeiten (vgl. Timm 1968; Feige 1936). Auch "für die Handwerker war das Feiern ein begehrtes Vorrecht, das immer wieder gegen die Zünfte und gegen staatliche Verordnungen durchgesetzt wurde: der sogenannte 'blaue Montag' hat eine alte Tradition" (Bausinger, S. 45). Daß die Menschen nicht nur arbeiten, sondern auch zeitweilig anderes tun, dürfte für jede menschliche Gesellschaft gelten, aber dieses andere "Freizeit" zu nennen, dürfte nur für den Typus der industriellen Arbeit beziehungsweise für die von ihr freie Zeit sinnvoll sein.

Zur industriellen Arbeit gehört die Trennung von Arbeitsplatz und sonstigem Leben, strenge zeitliche Regelung und Begrenzung des Arbeitsablaufes, optimale Teilung der Arbeit.

Damit es dazu - also auch zu der uns heute geläufigen Trennung von Arbeit und Freizeit - kommen konnte, mußten sich das Zeitbewußtsein und der Arbeitsbegriff entsprechend ändern, und die sozialen Ordnungen - die Zünfte, in

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denen eine andere Vorstellung von Zeit gültig war - mußten sich erst auflösen.

Insbesondere die Veränderung des Zeitbewußtseins hatte weitreichende Folgen nicht nur für das Arbeitsleben, sondern für das Leben der Menschen überhaupt. "Die neue Zeitordnung löste zwei nebeneinander bestehende, zum Teil gleichzeitig benutzte Zeitsysteme ab: Am natürlichen Zeitsystem, das durch die kosmischen Zyklen - die regelmäßige Wiederkehr von Ebbe und Flut, Tag, Monat und Jahr - und durch die Wachstumsvorgänge in der Natur geprägt war, orientierte sich, wer der Natur selber seinen Lebensunterhalt abgewinnen mußte; das rituelle Zeitsystem mit seiner Abfolge von Gebetsstunden, Sonn- und Feiertagen, das dem mönchischen Leben des Mittelalters sein Maß verliehen hatte, trat ergänzend hinzu. Die Anschaulichkeit und Wirklichkeitsfülle dieser Chronologien, an denen sich das Zeitbewußtsein der Menschen abstützte, ging mit der neuen Zeitordnung verloren, denn sie war nur noch ein gleichförmiges, regelhaftes, nüchternes Maß" (Huck, S. 13 f.). Zeit wurde nun "von konkret ausgefüllter Zeit zur abstrakten Verrechnungseinheit für jedes menschliche Tun" (S. 14). Nun erst konnte man auf die Idee kommen, "Zeit zu teilen, Zeit zu sparen, Zeit zum Maßstab für Leistung zu machen, 'freie' Zeit von Arbeitszeit strikt abzugrenzen" (S. 14). Daß Arbeit nun in regelmäßiger, gleichförmig ablaufender Zeit sich vollzog, war den Menschen neu und machte ihnen zunächst erhebliche Schwierigkeiten.

Hinzu kam die neue Arbeitsgesinnung. Als Folge des Dreißigjährigen Krieges, der in Deutschland große Verwüstungen hinterlassen und außer der menschlichen Arbeitskraft kaum Produktivkräfte übriggelassen hatte, setzte sich das protestantisch-calvinistische Arbeitsethos durch: Arbeiten wurde zum Selbstzweck, zur von Gott auferlegten Pflicht, Muße wurde zum verpönten "Müßiggang". Die Lebenszeit bestand nun aus der Zeit, in der man seine Pflicht tat (Arbeit), und der "Restzeit", die zur Erholung für die weitere Pflichterfüllung dienen sollte. "Mit dem Calvinismus beginnt die unpersönliche Einstellung zur Arbeit im Sinne eines Job im Interesse des bestmöglichen Erfolges auch in einem scharfen Wettbewerb" (Timm, S. 35). Luxus und Genuß waren verpönt. Der deutsche Pietismus verschärfte die Vorschriften für diese asketische Lebenshaltung noch.

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"Mehr als der Gesundheit nötiger Schlaf, Geselligkeit, Sport und Spiel, Genuß von Kultur-, Kunst- und Luxusgütern galten als nutz- und wertlose Zeitvergeudung und als prinzipiell schwerste aller Sünden" (Opaschowski 1976, S. 19). Max Weber hat diese "protestantische Ethik" für die entscheidende geistige Grundlage des modernen Kapitalismus gehalten: Die persönliche Bedürfnislosigkeit sowie die antikulturellen Affekte machten Kapital für Investitionen frei, die religiös fundierte Pflichterfüllung in der Arbeit gab gleichsam "grünes Licht" für dessen unentwegte Vermehrung. Zudem blieb der formale Pflichtbegriff gleichgültig gegen die konkreten Lohn- und Arbeitsbedingungen: Man hatte unter den jeweils vorgefundenen Bedingungen seine Pflicht zu tun. Die protestantische Vorstellung über das Verhältnis von Arbeit und Freizeit hat jedenfalls das gesellschaftliche Bewußtsein und die gesellschaftliche Praxis bis in die Gegenwart hinein nachhaltig bestimmt.

Die Entwicklung des protestantischen Arbeitsethos hatte theologische Hintergründe, man kann also nicht sagen, daß Luther und Calvin absichtlich den Kapitalismus erfunden hätten. Luthers Problem war zum Beispiel die Rechtfertigungslehre, nach der unter anderem die "guten Werke" des Menschen ihm keine Garantie für sein Seelenheil gewähren können. "Wenn alles das, was der Mensch tun mochte, vor Gott nichtig war, wenn - von Gott aus gesehen - nur die Gnade, sola gratia, und - vom Menschen aus gesehen - nur der Glaube, sola fides, das Leben heiligen konnten, wo lag da noch ein Motiv für tugendhafte Anstrengung und Askese?" (Blankertz, S. 28 f.). Luthers Antwort war, daß Gott den Menschen in seinen Beruf gestellt hat, in dem er seinen Glauben bewähren muß, obwohl auch die berufliche Pflichterfüllung wie andere Werke des Menschen vor Gott nichtig sind.

Calvin verschärfte dieses theologische Problem noch durch seine "Prädestinationslehre", nach der Gott vorausbestimmt hat, wer zu den Auserwählten gehören wird und wer nicht. Aber Berufseifer und wirtschaftlicher Erfolg können als Zeichen für die Auserwähltheit gedeutet werden. Die Bedeutung dieser Lehre bestand unter anderem darin, daß nun Reichtum nicht mehr religiös verdächtigt wird als Zeichen sündhaften Lebens, so daß der Kapitalismus hier gleichsam legitimiert wurde.

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Neben dem erwähnten neuen Zeitverständnis und der protestantischen Arbeitsauffassung wurde ein weiterer Faktor wichtig: die Auflösung der ständisch-gemeindlichen Ordnung. Der Arbeitsbegriff der Zünfte widersprach dem, der im Kapitalismus benötigt wurde, an entscheidenden Punkten. Einmal standen das menschliche Leben, die Arbeitstätigkeit und das Verhältnis des Arbeitenden zum Arbeitsprodukt unter dem Leitmotiv der "Ganzheit". Moderne Vorstellungen wie die Trennung von Arbeit, Freizeit und Religiosität oder eine das öffentliche Verhalten parzellierende Rollentheorie, wie überhaupt die Definition des Menschen als Individuum, als außerhalb seiner zugehörigen sozialen Kontexte zu verstehendes Rechtssubjekt und Rechtsobjekt, waren in dieser Form unbekannt. Die Arbeitsorganisation richtete sich nach den vorhandenen Berufen, die Arbeitsteilung fand darin ihre Grenze, während im Kapitalismus umgekehrt die Berufsstruktur sich nach der technologisch-ökonomischen Entwicklung richtet, so daß Berufe entstehen und auch wieder überflüssig werden. Ferner wurde der einmal erlernte Beruf lebenslänglich ausgeübt, was die für den Kapitalismus benötigte berufliche Mobilität unmöglich machte. Und da die ganzheitliche, nicht arbeitsteilig zerlegte Arbeitsorganisation eine spezifische Ausbildung verlangte, die lange dauerte, wäre ein Berufswechsel im modernen Sinne auch gar nicht sinnvoll gewesen (vgl. Blankertz, S. 31 f.).

Im Zunftwesen war die Arbeit also einbezogen in eine den Einzelnen integrierende Sozialordnung einschließlich sozialer Fürsorge. Zahlreiche kirchliche Feiertage sorgten für arbeitsfreie Zeit. Ihre Zahl ging allerdings ständig zurück. Zudem war die Arbeit durch natürliche Faktoren begrenzt: Man mußte sich dem Tageslicht anpassen und dem Wechsel der Jahreszeiten. Erst die Erfindung der Gaslampe (um 1800) ermöglichte es, gleichsam gegen die Bedingungen der Natur zu arbeiten. Das Agrarproletariat, das am Anfang der Industrialisierung in die neuen Industriezentren strömte, um dort Arbeit zu finden, verlor damit eben auch die früheren sozialen Bindungen und die Traditionen, die das Verbringen arbeitsfreier Zeit regelten und normierten. Historisch gesehen entstand Freizeit als Problem für die Industriearbeiter. Das lag nicht nur einfach daran, daß diese Gruppe besonders viel und lange arbeiten mußte. Das galt für den größten Teil

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der übrigen Bevölkerung auch. Aber hier trafen die beschriebenen Tendenzen am radikalsten zusammen: Das neue Zeitverständnis sorgte für das "Eingesperrtsein" in die von außen festgelegten Arbeitszeiten, also dafür, daß man den Wechsel von Arbeit und Ruhe nicht mehr selbst bestimmen oder mitbestimmen konnte; die neue protestantische Arbeitsgesinnung rechtfertigte die maximale Ausnutzung der menschlichen Arbeitszeit ideologisch; und die soziale und kulturelle Bindungslosigkeit bewirkte unter anderem, daß die arbeitsfreie Zeit eine Negativ-Zeit wurde, ohne eigenen inhaltlichen Sinn.

Zeit war mit Geld verrechenbar geworden. je mehr und je länger man arbeitete, um so mehr ließ sich verdienen, umgekehrt hatte man den Schaden, wenn man Zeit wirtschaftlich ungenutzt ließ. Das galt für den Einsatz anderer Menschen (der Arbeiter) wie für den Einsatz von Maschinen, aber auch für den Einsatz der eigenen Lebenszeit. Auch die meisten Unternehmer in Deutschland hielten sich daran. Von Gustav Krupp wird berichtet:

"Gästen, die über Nacht auf dem Schloß bleiben, wurde bekanntgegeben, das Frühstück werde um 7.15 Uhr serviert. Erschienen sie erst um 7.16 Uhr, standen sie vor den verschlossenen Türen des Speisezimmers. Gustav selbst frühstückte genau 15 Minuten lang, und dann eilte er mit großen Schritten nach draußen, wo sich die Kutsche - oder ab 1908 der Wagen - genau in dem Augenblick in Bewegung setzte, wenn seine Füße nicht mehr auf der Erde standen. In seiner Tasche trug er ein kleines Buch mit sich herum, in dem der Stundenplan für jeden Tag in allen Einzelheiten vorgezeichnet war: So viele Minuten für dies, so viele für das. Es war sogar ein Termin zur Ausarbeitung des Stundenplans für den nächsten Tag ... berücksichtigt" (zit. n. Bausinger, S. 64).

Das neue Zeit- und Arbeitsverständnis hielt nicht nur Einzug in die Kontore und Fabriken, sondern zum Beispiel auch in die Schulen. In dem Maße, wie die Schulen ihren Unterricht zeiteffektiv zu organisieren begannen und somit den Begriff der rationalen Zeitausnutzung sinngemäß übernahmen, konnte die Erfahrung nicht ausbleiben, daß solche konzentrierte Anstrengung einer Kompensation bedurfte in Gestalt von Zeitteilen, die der Erholung und Entspannung dienen, aber auch sozial kontrolliert werden konnten. Comenius, der in seiner "Großen Didaktik" (1627-1657) zum ersten Mal ein durchrationalisiertes Konzept der Schul-

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und Unterrichtsorganisation durchspielte, nahm dabei bereits jene Dreiteilung des Tageslaufs vorweg, die später im Kampf um den Achtstundentag zum Leitmotiv werden sollte: "Der natürliche Tag hat 24 Stunden. Wenn wir diese in drei teilen, so fallen acht dem Schlaf zu und ebensoviel den äußeren Besorgungen (ich meine die Sorge für die Gesundheit, Gespräche mit Freunden usw.). So bleiben schließlich für ernstliche Arbeit, die nun munter und ohne Überdruß aufgegriffen werden kann, ebenfalls acht" (zit. n. Nahrstedt 1974 1, S. 50).

A. H. Francke dagegen, der wie der "Zeitgeist" im Preußen des 18. Jahrhunderts unter dem Eindruck des erwähnten protestantisch-pietistischen Berufsethos stand, reduzierte die Freizeit auf die unbedingt nötige Zeit der Rekreation und füllte den Tag seiner Zöglinge im übrigen mit Arbeiten und Beten aus.

Fröbel schließlich gebrauchte 1923 auch das Wort "Freizeit" im Sinne von Schulferien.

"Lehrer und Schüler, Zöglinge und Erzieher bedürfen nach Verlauf einer gewissen Anzahl von Monaten einer Zeit, wo der Gebrauch derselben für sie von der gewöhnlichen und strengen Folge losgesprochen und ihnen zur Anwendung nach ihren persönlichen und individuellen Bedürfnissen freigegeben ist, entweder zur Wiederholung oder zum Nachholen, zur Übung oder zur Vorbereitung. Durch die kirchliche oder bürgerliche Ordnung zerfällt uns das Jahr in fast vier gleiche Teile. In die Oster- und Michaeliszeit fällt gesetzmäßig der Anfang eines neuen durch die Jahreszeit bestimmten Unterrichtsganges. Hier wird fortgesetzterweise der geregelte Unterricht ungefähr vierzehn Tage unterbrochen, in welchen nach einiger ganz freier Erholungszeit die Lehrenden sich auf die Forderung des nächsten Halbjahres vorbereiten und die Lernenden den Unterricht des verflossenen nach Umständen zusammenfassend und vergleichend wiederholen. Die Sommerzeit ist zum Reisen bestimmt ... die ersten Tage der Freizeit in den Weihnachten sind den Freuden gewidmet" (zit. n. Opaschowski 1976, S. 23).

Das Zitat von Fröbel zeigt schon, daß das protestantische Arbeitsethos, verbunden mit einer Diffamierung von Müßiggang und Vergnügen, nicht unwidersprochen blieb. Im Rahmen. der Herausbildung des klassischen Bildungskonzeptes war für die Philosophen und Dichter der Aufklärung und des Idealismus die individuelle Freiheit ein zentrales Thema. Wie Nahrstedt (1974) gezeigt hat, tauchte dabei

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- ausgesprochen oder auch unausgesprochen - folgerichtig auch die Überlegung auf, daß es für die Freiheit des Menschen auch eine eigene "Zeit" geben müsse, da ja das ganze menschliche Leben nicht im gleichen Maße frei von Zwängen und Verpflichtungen sein könne. So entstand eine logische Kombination von Freiheit und freier Zeit. Um sich etwa der Bildung widmen zu können, der Vervollkommnung der geistigen Fähigkeiten, was den eigentlichen Inhalt der Freiheit im Zuge der Emanzipation von kirchlicher Bevormundung ausmachen sollte, mußte man frei sein von entgegenstehenden Zwängen, also über in diesem Sinne freie Zeit verfügen - frei von Zwängen und Verpflichtungen, aber auch von sozialer und geistiger Kontrolle. In diesem Zusammenhang bekam auch der "Müßiggang" wieder eine positive Bedeutung. So sprach Friedrich Schlegel etwa von der "Faulheit" als von einer "gottähnlichen Kunst", der Müßiggang sei das "einzige Fragment von Gottähnlichkeit, das uns noch aus dem Paradiese blieb" (zit. n. Nahrstedt 1, S. 30). Auch in Schillers Vorstellungen über die ästhetische Erziehung des Menschen war Müßiggang eine wesentliche Voraussetzung. Schleiermacher schließlich hatte bereits die Realität der bürgerlichen Gesellschaft im Blick und unterschied in seiner Vorlesung von 1826 drei Lebensbereiche: Beruf, häusliches Leben und Geselligkeit. Im Rahmen der "freien Geselligkeit" können die Menschen je nach ihren Bedürfnissen Unterhaltung und Bildung pflegen. Das klassische deutsche Bildungsideal, wie es etwa von Wilhelm von Humboldt formuliert wurde, demzufolge der Mensch vor jeder beruflichen Spezialisierung einer allgemeinen, alle seine wesentlichen Kräfte und Fähigkeiten fördernden Bildung teilhaftig werden sollte, war zumindest in dem Sinne auch eine "Freizeitpädagogik", als der Mensch eben nicht nur für seinen speziellen Beruf "qualifiziert" werden sollte, sondern auch für produktive Tätigkeiten in der Zeit außerhalb seiner Berufstätigkeit.

Diese knappen Hinweise in Anlehnung an Nahrstedt und Opaschowski müssen hier genügen. Sie sollen andeuten, daß bei der Herausarbeitung des klassischen Bildungsbegriffes der innere Zusammenhang zwischen Freiheit, individueller Entfaltung und der dafür nötigen Zeit gesehen wurde. Bekanntlich setzte sich diese Bildungskonzeption im 19. Jahrhundert nicht durch, schon gar nicht für die arbeitenden

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Klassen. Sieger blieb vielmehr jene andere Tradition des protestantischen Arbeitsbegriffes und Berufsethos. Erst als die Arbeiterbewegung sich formierte und der Kampf um die Verkürzung der Arbeitszeit begann, gewann etwa im Rahmen der Arbeiterbildungsbestrebungen die deutsche Klassik einschließlich ihres Bildungsmotivs wieder Bedeutung. Nun stellte sich heraus, daß arbeitsfreie Zeit die Voraussetzung ist für unmittelbare persönliche Freiheit und für die Entfaltung der persönlichen Fähigkeiten.

Der Kampf um den Achtstundentag

Seit dem Mittelalter hatte sich die Arbeitszeit ständig verlängert, weil die Nationalstaaten Macht durch wirtschaftliches Wachstum erlangen wollten. Wachstum war aber nur durch die Ausnutzung der menschlichen Arbeitskraft zu erreichen, weil es kaum technologische Fortschritte gab und relativ wenig Kapital. Außerdem hatten Kriege und Seuchen die Bevölkerung dezimiert. Die ständige Verlängerung der Arbeitszeit setzte also nicht erst mit der modernen Industrie ein, vielmehr zeigt sich, "daß an der Schwelle zum Industriezeitalter die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung an harte Arbeitsverpflichtungen gebunden war, deren Ausmaß seit dem ausgehenden Mittelalter ständig gestiegen war. Nur eine kleine Oberschicht, nämlich Adel, kirchliche Würdenträger und die ersten Vertreter eines wohlhabenden Bürgertums, konnte sich preisen, freie Zeit zur Muße zu haben" (Andreae, S. 19). In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren 14 bis 16 Stunden Arbeit täglich durchaus die Regel, Frauen und Kinder eingeschlossen. Die verbleibende Zeit reichte zu kaum mehr als zum nötigen Schlaf. Die industrielle Produktion beruhte auf teuren Investitionen für Maschinen, und die mußten aus Gründen der Amortisierung und im Blick auf die harte Konkurrenz möglichst ununterbrochen, möglichst Tag und Nacht laufen.

Diese mechanistische Vorstellung - je länger die Arbeitszeit, um so größer der Ertrag - beherrschte das Denken der Unternehmer bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Dann setzte sich langsam die Erkenntnis durch, daß möglicherweise in kürzerer Zeit dasselbe Arbeitsergebnis zu erzielen sei. Als um 1890 in England in einer Reihe von Betrieben der

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Achtstundentag eingeführt wurde, erklärte ein Fabrikdirektor, der zugleich Abgeordneter war: »So widersinnig es scheinen mag, ich erziele weitaus mehr Arbeit als früher; ich bin tatsächlich überrascht, wie die Arbeit vorangeht, da ich, wie so viele andere Unternehmer, geglaubt habe, es würde eine entsprechende Abnahme des Ergebnisses eintreten« (zu. n. Bausinger, S. 72). Die gleiche Entdeckung hatte ein australischer Ziegeleibesitzer namens James Stephens schon 1858 gemacht, als er den Achtstundentag für seine Arbeiter mit der Begründung einführte, seine Leute arbeiteten in acht Stunden genau so viel wie in zehn. Etwa 30 Jahre früher hatte der englische Fabrikbesitzer Robert Owen - allerdings mehr aus humanitären Gründen - den Zehnstundentag eingeführt. Sein Beispiel blieb allerdings zunächst ohne Nachahmung. In Deutschland war einer er ersten Ernst Abbe, der den Achtstundentag in den Jenaer Zeiss-Werken im Jahre 1900 einführte. Er erkannte auch schon die wichtigsten Ursachen für das zunächst erstaunliche Phänomen, daß in kürzerer Zeit nicht weniger erarbeitet wurde: Einerseits seien selbst bei bestem Willen Arbeitsfähigkeit und Arbeitskonzentration nicht über einen bestimmten Zeitpunkt hinaus aufrechtzuerhalten, zum anderen aber ließe sich auch durch bessere Arbeitsorganisation Zeit sparen. Aufgrund dieser Erkenntnis setzte er sich für eine »Drittelung des Tages« ein: »Acht Stunden Unternehmerdienst - acht Stunden Schlaf - acht Stunden Mensch sein« (zit. n. Bausinger, S. 73). Aber Vorkämpfer des Achtstundentages waren die angelsächsischen Arbeiter mit einem ähnlichen Slogan. eight hours Werk, eight hours sleep, eight hours play. Auf Arbeitskongressen wird in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Achtstundentag als »Normalarbeitstag« propagiert, so in den USA 1866 und im selben Jahr von einem internationalen Kongreß in Genf.

Nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich der Achtstundentag in den meisten Industrieländern und so auch in Deutschland prinzipiell durch. Erheblichen Anteil an dieser Entwicklung hatte die Sozialistische Internationale, insofern sie auf ihrem Brüsseler Kongreß von 1891 zu jährlichen Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen für den Achtstundentag am 1. Mai aufrief. Seitdem ist der Kampf um den Achtstundentag aufs engste mit der Geschichte des 1. Mal verbunden (vgl. Achten).

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Bis zum Ersten Weltkrieg waren der zehnstündige Arbeitstag, der sich seit den neunziger Jahren durchgesetzt hatte, und eine Arbeitswoche mit 54 bis 60 Stunden die Regel gewesen (Schmiede, S. 74 f.).

Neben dem Kämpf um die Länge der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit ging es auch um die Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen. Durch eine Novelle zur Reichsgewerbeordnung von 1891 wurde die Sonntagsarbeit in den Fabriken erheblich eingeschränkt. Die Weimarer Verfassung gab im Artikel 139 dem Schutz der Sonn- und Feiertage Verfassungsrang: "Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt". Diese Bestimmung wurde ausdrücklich als Teil des Grundgesetzes in dieses aufgenommen (Artikel 140 GG).

Zu Beginn dieses Jahrhunderts begann sich dann auch der freie Samstagnachmittag zögernd durchzusetzen. Bei dem Wunsch nach einem arbeitsfreien Sonntag spielten auch religiöse Traditionen eine Rolle. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts gab es - vor allem unter den Protestanten - eine "Sonntagsfeierbewegung", die den Sonntag wieder dem kirchlichen Leben zurückgewinnen wollte (Geck 1936, S. 86 f.).

Urlaub als Privileg

Auch der Jahresurlaub begann sich langsam durchzusetzen. Vorbild waren die Beamten, denen schon vor 1870 auf Antrag »Erholungsurlaub«, zum Beispiel für eine Kurreise, gewährt werden konnte. Die Reichspost gewährte dann ihren Beamten ab 1873 versuchsweise und ab 1875 für immer immer - allerdings ohne Rechtsanspruch - einen Urlaub von durchschnittlich acht Tagen zum Zwecke der Erholung - ohne daß die Erholungsbedürftigkeit ärztlich bescheinigt werden mußte (Reulecke 1976). Dieses Vorbild bestimmte dann die Urlaubsregelung bei den übrigen Beamten des Reiches und der meisten Bundesstaaten. Und es beeinflußte Unternehmer in Handel und Industrie, ähnlich mit ihren Angestellten zu verfahren. Den Firmen ging es dabei unter anderem darum, den Angestellten, die das für Preußen typische Beamtenselbstverständnis mit dem entsprechenden Tugend und Verhaltenskatalog in ihr eigenes Berufsverständnis

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übernommen hatten, gegenüber den Arbeitern eine privilegierte Position zu verschaffen. So gewährte die Firma Siemens ihren "Beamten" schon 1873 einen Urlaub von 14 Tagen. "Die Arbeiter der Firma Siemens mußten dagegen auf ein erstes Entgegenkommen in der Urlaubsfrage noch 35 Jahre warten" (Reulecke 1976, S. 222). Die Notwendigkeit eines Urlaubs für Beamte und Angestellte im Unterschied zu den Arbeitern wurde unter anderem damit begründet, daß "geistige Arbeit" einer besonderen Erholung bedürfe.

Die Gewährung von Urlaub war also ganz in das Ermessen der Firmenleitung gestellt und teilweise mit Auflagen verbunden, zum Beispiel der Bedingung, den Urlaub in firmeneigenen Helmen zu verbringen. Immerhin hatten 1901 rund 40 Prozent der kaufmännischen Angestellten in der Industrie und fast 50 Prozent der in Banken und Versicherungen Tätigen mindestens 14 Tage Urlaub (Schmiede, S. 75). Auch Arbeitern wurde gelegentlich seit den neunziger Jahren Urlaub gewährt, aber in der Regel nur für wenige Tage und weniger zur Erholung als zu persönlichen Zwecken (Genesung nach einer Krankheit; Todesfall in der Familie usw.). Um 1900 bekamen etwa neun- bis zehntausend Arbeiter in irgendeiner Form Erholungsurlaub (Reulecke 1976, S. 226). Voran ging auch hier wieder die Firma Zeiss in jene, die ihren 3000 Beschäftigten seit 1896 Urlaub gewährte. Bürgerliche Sozialreformer propagierten seit Mitte der neunziger Jahre einen Erholungsurlaub für alle Arbeiter, indem sie an das soziale Pflichtgefühl der Unternehmer appellierten und darauf hinwiesen, daß der Urlaub dem sozialen und betrieblichen Frieden dienen könne. Außerdem wurden medizinische Argumente ins Feld geführt: Nicht nur geistige, sondern auch körperliche Arbeit bedürfe der regelmäßigen Erholung in frischer Luft, um zum Beispiel der weitverbreiteten Tuberkulose zu begegnen. Aber nur zögernd - Wegbereiter waren die Druckereien und Brauereien sowie die öffentlichen Arbeitgeber - setzte sich Urlaub für Arbeiter durch - oft jedoch waren viele Dienstjahre Voraussetzung dafür.

Die Arbeiterbewegung engagierte sich in dieser Frage vor dem Ersten Weltkrieg nicht besonders stark. Sie konzentrierte sich auf die Verkürzung der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit, und außerdem mißtraute sie den bürgerlich-sozialreformerischen Ideen einer "Überwindung des

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Klassenkampfes". Den meisten Arbeitern war offenbar der Urlaub auch nicht so begehrenswert, zumal sie dafür auch kaum finanzielle Mittel hätten erübrigen können. Als im Jahre 1902 ein Hüttenwerk seinen älteren Arbeitern anbot, entweder eine Woche bezahlten Urlaub zu nehmen oder einen zusätzlichen Wochenlohn zu erhalten, entschieden sich alle für den zusätzlichen Lohn (Zimmermann, S. 672).

Der Kampf um Kinder- und Jugendarbeitsschutz

Bisher war vom Kampf der erwachsenen Arbeiter um Freizeit die Rede. Aber es gab auch einen zähen Kampf um die Begrenzung der Arbeitszeit für erwerbstätige Kinder und Jugendliche, der bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts zurückreicht (vgl. Agahd). Diesen Kampf konnten die Kinder und Jugendlichen nicht von sich aus führen, sie waren dabei auf die Interventionen Erwachsener angewiesen, auf humanitär gesinnte Bürger, auf den Staat und später auf die Arbeiterbewegung und die Jugendorganisationen.

"Für die Verwendung von Kindern und Jugendlichen in Fabriken bestand zu Beginn des 19. Jahrhunderts überhaupt keine staatliche Vorschrift. In schlecht gelüfteten, gesundheitlich in jeder Beziehung gefährlichen Fabrikräumen mußten Kinder, auch als Nachtarbeiter, ihre Arbeit verrichten" (Maaß 1931, S. 99).

Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die exzessive Kinderarbeit in der Industrie als ein Problem erkannt. Seine Lösung erwies sich jedoch für viele Jahrzehnte deshalb als so schwierig, weil die Eltern dieser Kinder in der Regel auf deren Verdienst angewiesen waren, die Gemeinden andererseits daran interessiert waren, lieber die Kinderarbeit zu akzeptieren als die Eltern ihrer Armenkasse zur Last fallen zu sehen. Der Anstoß für eine gesetzliche Beschränkung der Kinderarbeit kam vor allem aus der Erfahrung der Militärs, daß in den Industrieprovinzen die Wehrfähigkeit der jungen Rekruten deutlich abnahm. Aber auch humanitäre und pädagogische Vorstellungen spielten eine Rolle.

Ein preußisches Regulativ versuchte 1839 erstmals die Kinderarbeit zu regeln. Danach durfte "vor zurückgelegtem 9. Lebensjahre" niemand in einer Fabrik beschäftigt werden

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und bis zum 16. Lebensjahre nicht, "wer noch nicht einen dreijährigen regelmäßigen Schulunterricht genossen hat oder durch ein Zeugruß des Schulvorstandes nachweiset, daß er seine Muttersprache geläufig lesen kann und einen Anfang im Schreiben gemacht hat". Es ging hier also noch nicht darum, den Kindern mehr Freizeit zu verschaffen, vielmehr sollten ihre Erziehung und ein Mindestmaß an Schulbesuch gesichert werden. Wegen der geschilderten Interessenlage war die Wirkung dieser Bestimmungen jedoch gering. Ein neues Gesetz vom Jahre 1853 hob die Mindestaltersgrenze von neun auf zwölf Jahre an und ein Jahr später wurden die ersten Fabrikinspektoren eingestellt, die die Einhaltung dieser Vorschriften überwachen sollten. Die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes von 1869, die ab 1871 auch für das Reich galt, verbot die Beschäftigung von Kindern unter zwölf Jahren, begrenzte die tägliche Arbeitszeit für schulpflichtige Kinder auf sechs Stunden täglich und untersagte für diese die Sonntagsarbeit. In den Jahren 1874/75 wurde auf Beschluß des Reichstags eine Erhebung durchgeführt, nach der es im ganzen Reich 12 710 männliche und 8403 weibliche Arbeiter zwischen zwölf und vierzehn Jahren und 38 991 männliche sowie 27 836 weibliche Arbeiter zwischen vierzehn und sechzehn Jahren gab. Die Zahl der männlichen und weiblichen Fabrikarbeiter betrug damals insgesamt 880440 (Maaß 1931, S. 164).

Das sogenannte "Arbeiterschutzgesetz", eine Novelle der Gewerbeordnung, die am 1. 6. 1891 in Kraft trat, setzte für Betriebe, in denen mindestens zehn Arbeiter beschäftigt werden, fest:

"§ 135: Kinder unter 13 Jahren dürfen nicht beschäftigt werden. Kinder über 13 Jahren dürfen nur beschäftigt werden, wenn sie nicht mehr zum Besuche der Volksschule verpflichtet sind.

Die Beschäftigung von Kindern unter 14 Jahren darf die Dauer von sechs Stunden täglich nicht überschreiten. junge Leute zwischen 14 und 16 Jahren dürfen nicht länger als zehn Stunden täglich beschäftigt werden.

§ 136: Die Arbeitsstunden der jugendlichen Arbeiter dürfen nicht vor 6 Uhr morgens beginnen und nicht über 8 Uhr abends dauern. Zwischen den Arbeitsstunden müssen an jedem Arbeitstage regelmäßige Pausen gewährt werden. Für jugendliche Arbeiter, welche nur 6 Stunden täglich beschäftigt werden, muß die Pause mindestens eine halbe Stunde betragen. Den übrigen jugendlichen Arbei-

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tern muß mindestens mittags eine einstündige sowie vormittags und nachmittags je eine halbstündige Pause gewährt werden.

Nach Beendigung der täglichen Arbeitszeit ist den jugendlichen Arbeitern eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens 11 Stunden zu gewähren.

An Sonn- und Festtagen ... dürfen jugendliche Arbeiter nicht beschäftigt werden« (Maaß 1931, S. 198).

In den folgenden Jahren wurden diese Bestimmungen auf Handelsbetriebe, Konfektionswerkstätten, auf "Werkstätten mit Motorbetrieb", auch wenn sie weniger als 10 Arbeiter beschäftigten, ausgedehnt. Schließlich wurden im Kinderarbeitsgesetz von 1903 entsprechende Bestimmungen auch für die Hausindustrie und für andere Bereiche erlassen, die nicht von der Gewerbeordnung erfaßt waren, -, allerdings mit Ausnahme der Landwirtschaft.

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß in der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg sich Freizeit in Form des arbeitsfreien Sonntags bereits weitgehend durchgesetzt hatte, das freie Wochenende schien schon in Sicht, die tägliche Arbeitszeit näherte sich dem Achtstundentag und auch ein kurzer Urlaub war - wenn auch in bescheidenen Ansätzen - vorhanden.

Arbeiterfreizeit als sozialpolitisches Problem

Im Bewußtsein der Arbeiter und Angestellten war diese Entwicklung sicherlich zunächst ein Fortschritt, eine Befreiung aus einem Leben, das neben Arbeit und Rekreation wenig Zeit für andere, zum Beispiel kulturelle und gesellige menschliche Tätigkeiten ließ. Was also sollte daran problematisch sein?

Zum Problem definiert und zwar sowohl als Gefahr wie als neue Chance wurde zunächst die Freizeit der Arbeiter - und nicht etwa die aller Bürger - durch Kreise des Bürgertums, und zwar einerseits durch diejenigen, die in einer vermehrten Freizeit der Arbeiter eine politische Bedrohung und einen Quell sittlicher Verwilderung sahen. Ihnen soll kein geringerer als Kaiser Wilhelm IL im Jahre 1890 aus der Seele gesprochen haben.

"Würde durch einen Normalarbeitstag von 8 Stunden ein Ausschluß der Kinderarbeit (bis 14 Jahren) herbeigeführt werden, so ist

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in sittlicher Hinsicht zu befürchten: daß der erwachsene Arbeiter seine freie Zeit im Wirtshaus zubringt, daß er mehr als bisher an agitatorischen Versammlungen teilnimmt, mehr Geld ausgibt und, obwohl der Lohn derselbe bleiben wird wie für den bisherigen Arbeitstag, doch nicht zufrieden sein ... ; daß die heranwachsenden Kinder, insbesondere die halbwüchsigen Burschen und Mädchen sich außerhalb des Hauses umhertreiben und sittlich verwahrlosen und verwildern" (zt. n. Kohl, S. 9).

Andererseits sahen sozialreformerisch und sozialpolitisch engagierte Kreise des Bürgertums in einer über die reine Rekreationsfunktion hinausreichenden Freizeit eine unerläßliche Vorbedingung für die »Lösung der Arbeiterfrage«, also für die Integration der Arbeiterschaft in den bürgerlichen Staat; denn nur dann, wenn dem Arbeiter dafür Zeit zur Verfügung stand, konnte er für solche Interessen und Ziele gewonnen werden, die über den engen Kreis von Arbeit und Klassenkampf hinausgingen. Wer in die bürgerliche Gesellschaft einbezogen werden soll, muß auch eine dementsprechende kulturelle Bedürfnislage bekommen. Dafür war Freizeit unentbehrlich.

Diese historische Ausgangslage des "Freizeitproblems" ist insofern wichtig, als sie die Freizeitdiskussion der kommenden Jahrzehnte entscheidend geprägt hat, nämlich als ein Problem der Arbeiter beziehungsweise ihrer "sinnvollen Freizeitverbringung". Dabei geriet zunächst völlig aus dem Blick, daß auch die bürgerlichen Schichten schon im 19. Jahrhundert Probleme mit ihrer Freizeit hatten (vgl. Hammerich 1974). Das Verhalten bürgerlicher Söhne und vor allem von Studenten wurde von Sozialreformern durchaus als negatives Vorbild für die Arbeiter angeprangert (so Corvey 1890). Aber problematisches Fehlverhalten in den bürgerlichen Kreisen wurde nicht unter der Kategorie der »Freizeit« diskutiert, sondern unter immanenten Leitbildern der bürgerlichen Kultur wie "Ordnung", Stil und "Geselligkeit". Die Herausforderung der Arbeiterfreizeit bestand darin, daß sie eine Freizeit ohne kulturelle Vorprägung zu sein schien, gleichsam eine "kulturlose Freizeit". Deshalb richteten sich die Bemühungen des sozialreformerischen Bürgertums folgerichtig darauf, den Arbeitern bürgerliche Kultur - als Sittlichkeit und Bildung - nahe zu bringen, um so nicht irgendeine, sondern eine bürgerliche Integration zu

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gewährleisten. Wir wissen heute, daß diese Konzeption gescheitert ist, daß vielmehr auf die Dauer die kommerziell-massenhaften Freizeit- und Konsumangebote zu einer neuen Kultur führten, und erst in diesem Prozeß wurde Freizeit auch ein Problem für die bürgerlichen Schichten, nämlich als Herausforderung für deren kulturelle Traditionen und Leitbilder. Aus dieser Sicht ist dann auch die Diskussion darüber, ob die moderne Freizeit ein Kind der Aufklärung (Nahrstedt 1972) oder des protestantisch calvinistischen Geistes (Opaschowski 1976) sei, weniger bedeutsam. Wir setzen die Entstehung des Freizeitproblems dort an, wo es zum ersten Mal historisch als solches formuliert wurde, wobei allerdings diese Definition selbst auch zum Gegenstand der Analyse gemacht werden muß und nicht unkritisch hingenommen werden darf.

Die bisherigen Überlegungen lassen sich konkretisieren an der Diskussion über die schon erwähnte Novelle zur Gewerbeordnung von 1891, die unter anderem die Sonntagsarbeit erheblich einschränkte. Diese Neuregelung war begleitet von einer öffentlichen Diskussion über die Frage, was die Arbeiter mit der neuen Freizeit tun würden.

Die "Centralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen" hielt am 25. und 26. 4. 1892 eine Konferenz ab über "die zweckmäßige Verwendung der Sonntags- und Feierzeit". Die "Centralstelle", 1891 gegründet (ab 1906 "Centralstelle für Volkswohlfahrt"), war eine halbamtliche Arbeitsgemeinschaft, in der die verschiedenen Bestrebungen zur Lösung der "Arbeiterfrage" koordiniert und beraten werden sollten. Der Bericht über diese Konferenz (Centralstelle ... 1893; dazu Reulecke 1980) darf als die erste wichtige freizeitpolitische Quelle angesehen werden. Er enthält eine Reihe von Vorträgen und Diskussionsbeiträgen, die bei aller Unterschiedlichkeit der Standpunkte etwa folgende Tendenzen zeigten:

1. Angestrebt wurde eine "Veredelung der Volkserholungen", die sich vor allem gegen das Kneipenwesen und gegen Schundliteratur wandte.

2. Die neuen Freizeitmöglichkeiten sollten die "Versöhnung der Stände und Klassen" befördern. Diesem Zweck sollten gemeinsame Veranstaltungen zum Beispiel zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern dienen (Fabrikfeste, Sommerausflüge und ähnliches); an sogenannten "Volksunter-

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haltungsabenden", in denen den Arbeitern Vorträge und künstlerische Darbietungen angeboten wurden, sollten auch Arbeitgeber und "Gebildete" teilnehmen. Andererseits sollten sich die "Gebildeten" den Arbeitern gleichsam als Lehrer zur Verfügung stellen. Damit waren nicht nur Redner für Vorträge gemeint, der Bericht erwähnt auch andere Beispiele. So luden im Rheinland Bürgerfrauen am Sonntag Arbeitermädchen ein, um ihnen hauswirtschaftliche Kenntnisse beizubringen, oder hielten am Sonntag in Schulräumen hauswirtschaftliche Kurse ab.

3. Die politische Stoßrichtung dieser Bemühungen ging unzweideutig gegen die Sozialdemokratie, wobei die Vertreter der Kirchen dazu neigten, dies offen zu tun, während die Liberalen - wie der Vorsitzende Böhmert - die Veranstaltungen politisch und konfessionell neutral halten wollten und sich gerade davon eine Gegenwirkung gegen die politische Tätigkeit der Sozialdemokratie versprachen. Allerdings plädierte gerade auch Böhmert für ein "Zusammenarbeiten mit allen Parteien, auch mit den Sozialdemokraten". Dabei sah er bereits den freizeitbereich als einen kulturellen Raum mit eigentümlichen Regeln und Chancen: "Im Geschäft und Beruf muß strenge Disziplin und Unterordnung herrschen; aber außerhalb der Arbeit, in den Stunden der Erholung müssen wir die Beziehungen von Mensch zu Mensch immer natürlicher, freundlicher und friedlicher zu gestalten suchen" (S. 31).

4. Der Bericht spricht eine Reihe von sehr praktischen Problemen an. Eines davon war, geeignete Räume zu finden. Wirtshaussäle zu mieten für "Volksunterhaltungen" war meist teuer, zumal die Wirte bei Tanzvergnügen höhere Einnahmen erwarten konnten. Besonders für junge Leute erwiesen sich die Familienwohnungen als zu klein, notig wurden Häuser, in denen sie sich auch tagsüber aufhalten konnten. Die Lehrlinge zum Beispiel hatten bei ihrem Meister meist nur eine Schlafstelle, keinen Famillenanschluß und auch kein Zimmer, wo sie sich tagsüber aufhalten konnten.

5. Umstritten war, in welchem Maße es sinnvoll sein konnte, die Erholungen der Arbeiter "außer dem Hause" auch noch zu fördern, anstatt, wie der katholische Sozialpolitiker Franz Hitze meinte, "die Erholungen der Arbeiter in der Familie" zu unterstützen.

6. Alles in allem zeigte sich, daß der freie Sonntag - und nur

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darum ging es ja zunächst - vor allem für die jungen, unverheirateten Leute in der Tat Probleme aufwarf. Sofern sie nicht im Rahmen von sportlichen, kirchlichen oder kulturellen Vereinen ihre Freizeit verbrachten, waren sie auf das Wirtshaus verwiesen, das sie sich auch - im Unterschied zu den Verheirateten - finanziell am ehesten leisten konnten.

Aus dem Protokoll dieser Tagung der "Centralstelle" geht also hervor, daß in der Tat das Alltagsleben der Arbeiter damals auf einen arbeitsfreien Tag in der Woche nicht vorbereitet war. Das warf eine Reihe von praktischen Problemen auf., zu deren Lösung auch Vorschläge gemacht wurden. Andererseits war die bürgerliche Diskussion über die Freizeit der Arbeiter durchaus eine interessenbestimmte, sei es aus Furcht vor einem weiteren Zulauf zur Sozialdemokratie, sei es in der Hoffnung auf eine kulturell-gesellige Versöhnung der Klassen. Jedenfalls war die Einsicht, daß Freizeit auf die Dauer Chancen für eine Emanzipation der Arbeiter enthält, in einem Teil des sozialreformerischen Bürgertums weiter verbreitet als in der Arbeiterbewegung.

Wenn aber - wie in diesem Falle - eine soziale Gruppe für andere ein Problem formuliert, ist Skepsis angebracht. Was taten die Arbeiter in ihrer Freizeit - also vor allem an den Sonntagen - wirklich? Und: Gab das zur berechtigten Sorge Anlaß?

Nun, die politische Befürchtung hat sich auf die Dauer nicht bestätigt, weil die vermehrte Freizeit die Arbeiter eher entpolitisierte, was die Linken immer wieder zur Freizeitkritik bewog. Schon der Arbeitersängerbewegung wurde vor dem Ersten Weltkrieg von der Partei vorgeworfen, daß sie zu unpolitisch sei (vgl. Dowe 1979). Was die sittlichen Befürchtungen angeht, so wissen wir zwar über die "Arbeiterkultur", also zum Beispiel über die sozialen Beziehungsstrukturen und über die Gesellungsformen immer noch verhältnismäßig wenig (Ritter 1979, S. 15 ff.), aber es gibt eine Reihe von Hinweisen darauf, daß die bürgerlichen Sorgen erheblich übertrieben waren. Das mag unter anderem daran liegen, daß das Bürgertum die "Arbeiterkultur" aus eigener Erfahrung kaum kannte und diese Unkenntnis leicht zu Vorurteilen führen konnte - etwa nach der Logik: Weil jeder Bürger schon einmal einen betrunkenen Arbeiter gesehen hat, kann es nur solche geben. So einfach machten es sich die

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Sozialreformer allerdings nicht. Dennoch war damals auch bei ihnen die Kenntnis des Proletarierlebens relativ gering, wozu nicht nur die getrennten Wohnviertel und die getrennten Gesellungsbereiche in der Öffentlichkeit beitrugen, sondern auch die subkulturellen Bestrebungen der Arbeiterbewegung selbst, die nicht nur die politischen, sondern auch die kulturellen Interessen der Arbeiter möglichst in ihren Organisationen befriedigen wollte.

Viele Arbeiter mußten damals eine hohe Bereitschaft zur Mobilität aufbringen, sie mußten - auch innerhalb einer Stadt - dahin ziehen, wo sich gerade Arbeit fand (vgl. Niethammer/Brüggemeier 1976, vor allem S. 110ff.). Es liegt auf der Hand, daß sie so keine dauerhaften Bindungen an Vereine oder Nachbarschaften eingehen konnten. Ihre Zahl nahm jedoch bis 1914 deutlich ab.

Ein vieldiskutiertes Problem war der Alkoholismus. Er war nicht nur ein moralisches, sondern auch ein wirtschaftliches Problem, weil er die Armut der Proletarierfamilien noch vergrößerte (vgl. Dix 1911; Roberts 1980). Getrunken wurde oft auch am Arbeitsplatz, mit mehr oder weniger Duldung der Arbeitgeber. Allerdings nahm der Alkoholkonsum bis zum Kriege ab und man trank nicht mehr so viel Branntwein sondern mehr Bier - unter anderem ein "Erfolg" des Flaschenbieres, das man nun wie den Branntwein auch außerhalb des Wirtshauses trinken konnte. Die Stellung der Arbeiterbewegung zur Alkoholfrage war zwiespältig. Einerseits erklärte sie die Trunksucht aus der elenden Lage des Proletariats, andererseits benötigte sie das Wirtshaus mangels anderer zur Verfügung stehender Räume für die Basisarbeit der Partei und mußte sich von daher gegen die strikte Anti-Alkoholbewegung wehren. Gerade in den Jahren des Sozialistengesetzes garantierte das Wirtshaus den Fortbestand der Parteiarbeit und ermöglichte unverdächtige Zusammenkünfte.

Die regelmäßigen Zusammenkünfte in den Parteilokalen waren hinsichtlich des Alkoholkonsums - der Wirt mußte schließlich davon leben - sicher nicht unproblematisch, bedeuteten jedoch andererseits ein wichtiges Stück sozialer Integration in der Freizeit. Noch bedeutsamer war die kulturelle Vereinstätigkeit.

Nach Auflösung der ständischen sozialen und kulturellen Bindungen wurde im 19. Jahrhundert der "Verein" vor

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allem in den Städten und Großstädten zur Organisationsform für gesellschaftliche und gesellige Aktivitäten. "Die im frühen 19. Jahrhundert ausgebildete Struktur des Vereins wurde zum formalen Rahmen auch proletarischer Emanzipationsbemühungen" (Dowe, So 139). Zu erwähnen sind in unserem Zusammenhang vor allem die "Volksbühne", die Arbeitern möglichst billige Theaterbesuche ermöglichen und dabei durch die Auswahl der Stücke auch eine Art von sozialistischer Kulturpolitik betreiben wollte, der Arbeiter-Turn-und-Sportbund und die Arbeitersängerbewegung.

Die "Liedergemeinschaft der Arbeitersängervereinigungen Deutschlands" wurde 1892 als Zusammenschluß einer Reihe bereits bestehender Chöre gegründet. Als sein Nachfolger entstand 1908 der "Deutsche Arbeiter-Sängerbund" (DASB). Er hatte 1914 etwa 200 000 Mitglieder, von denen etwa die Hälfte Mitglieder der Partei beziehungsweise der Gewerkschaft waren (Dowe, S. 122 f.). Während im "Deutschen Sängerbund", der bürgerlichen Konkurrenz, die kurz vor dem Krieg etwa gleichviele Mitglieder hatte, das Singen "Männersache" war, betrug der Anteil der Frauen im DASB 1914 18 Prozent; sie wirkten teils in Frauenchören, teils in gemischten Chören mit. "Dieses Hinzuziehen der Frauen zu den Gesangvereinen, das die bürgerlichen Vereine ablehnten, ist ein genuiner Beitrag der Arbeitersängerbewegung zur kulturellen Entwicklung gewesen" (Dowe, S. 139). Nicht nur Freude an der Musik war für die Mitglieder ein Motiv zur Teilnahme, sondern auch die damit verbundene Geselligkeit, die ebenso bürgerlichen Charakter hatte (»gemütliches Beisammensein«) wie das musikalische Repertoire.

Als Gegenorganisation zur 1871 gegründeten "Deutschen Turnerschaft", die ideologisch eng mit dem Bismarckreich verbunden war, wurde 1893 der "Arbeiter-Turnerbund (ATB) gegründet. Er zählte 1914 ebenfalls circa 200 000 Mitglieder, wovon etwa die Hälfte jugendliche waren (vgl. Herre; Ueberhorst). Die Erfolge dieser sozialistischen Organisationen sind um so höher zu werten, als sie auf der Grundlage des bestehenden Vereinrechtes als "politische" behandelt und verfolgt wurden.

Hinzu kommen noch verschiedene andere Aktivitäten der Arbeiterbewegung, zum Beispiel Bildungsveranstaltungen (vgl. Deutsch). Sie wurden auch von bürgerlichen Vereini-

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gungen für die Arbeiter angeboten. Zu beachten ist auch das breit gefächerte Vereinsleben der katholischen Kirche, das vor allem im Rheinland und im Ruhrgebiet weit entwickelt war (Pieper 1901; Brandt 1980) und das religiöse Intentionen mit solchen der Bildung und vor allem der Geselligkeit verband.

Schließlich verdient auch das Pressewesen der Arbeiterbewegung eine Erwähnung. Nach dem Ende des Sozialistengesetzes gab es schon 60 Parteiblätter mit 254 000 Abonnenten und 104 Gewerkschaftsblätter mit 600 000 Abonnenten (Rühle 11, S.266).

Sieht man diese hier nur kurz skizzierten Bestrebungen zusammen, so kann man für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg von einer durchaus beachtlichen "Freizeitkultur" in der Arbeiterschaft sprechen, an der allerdings nicht alle Gruppen der Arbeiter gleichen Anteil hatten. Im Ruhrgebiet zum Beispiel war die starke katholische Religiosität der eingewanderten polnischen Gastarbeiter ein wichtiger Ausgangspunkt für das katholische Vereinswesen, während andererseits überall in den Industriezentren die wenig qualifizierten Arbeiter, die zudem oft umziehen mußten, geringere Möglichkeiten zur Teilbare hatten. Alles in allem aber darf man nicht in den Fehler verfallen, die Definition der bürgerlichen Autoren über das »Freizeitproblem« der Arbeiter einfach zu übernehmen. Manches spricht sogar dafür, daß "Probleme" erst nach dem Krieg entstanden, als die Bindungen an die Freizeitvereine der katholischen Kirche beziehungsweise der Arbeiterbewegung brüchig zu werden begannen.

Friedrich Naumann: Christliches Engagement im Rahmen der »Erholungsindustrie«

Bis zum Ersten Weltkrieg hat es - wie sich zeigte - eine Reihe von freizeitpädagogischen Bestrebungen gegeben, die sich allerdings nicht so bezeichneten. Aber immerhin handelte es sich um Intentionen, die den Arbeitern ermöglichen sollten, in der neugewonnenen Freizeit etwas zu lernen, nämlich "richtige" Erholung, (partei-)politische Bildung, kulturelle Bildung, Geselligkeit, Sport. Wir finden also in dieser Anfangsphase bereits drei Begriffe von Freizeitpädagogik vor:

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1. als pädagogische Bestrebung in der Freizeit für deren "sinnvolle" Benutzung (Geselligkeit; Sport; Bildung; Politik);

2. als pädagogische Bestrebung, in der Freizeit an pädagogischen Veranstaltungen teilzunehmen (Bildung),

3. als Bezeichnung für die von der Freizeit ausgehenden Sozialisationswirkungen (Furcht vor sittlichen Schädigungen, vor abnehmender Sozialkontrolle, vor Verminderung des Arbeitseifers und der Disziplin); nur insofern diese Wirkungen als schädlich beziehungsweise unzureichend interpretiert wurden, konnte Freizeitpädagogik überhaupt eine Existenzberechtigung bekommen.

Dies alles war zwar nicht einmal in Ansätzen in einer sozialpädagogischen Theorie systematisch dargestellt, aber pragmatisch durchaus bewußt, so daß man sagen kann, daß die Grundelemente und Grundprobleme einer freizeitpädagogischen Theorie damals bereits gesehen wurden: Man darf das Freizeitleben der Arbeiter nicht sich selbst überlassen, weil die davon ausgehenden Sozialisationswirkungen politisch bedenklich sind - als Desinteresse oder umgekehrt als Engagement - und sittlich gesehen zur platten Vergnügungssucht führen müssen. Um vielmehr aus der neuen Freizeit etwas Sinnvolles zu machen - und sei es nur "richtige" Erholung muß man etwas lernen.

Politisch gesehen erkannte man damals durchaus, daß freie Zeit war, sondern vor allem auch sozial wenig reglementierte und kontrollierte Zeit, was je nach politischem Standort als Chance zur politischen Emanzipation oder als Gefahr für die politische Ordnung gedeutet werden konnte. Vor allem aber zeigte sich, daß die neue Freizeit disponibel macht für politische und weltanschauliche Werbungen und damit für die Veränderung politischer und sozialer Zugehörigkeiten. Wie schon auf dem Freizeitkongreß von 1892 deutlich wurde, begann nun der Kampf um die Freizeit des anderen, die Rivalität und Konkurrenz der Anbieter. Freizeit entpuppte sich als Voraussetzung für weltanschauliche und kulturelle Pluralität, die ohne sie nicht möglich wären. Diese Pluralität aber mußte über kurz oder lang auch die schroffen Klassengegensätze aufweichen, weil dem Einzelnen nun Alternativen zugänglich wurden. Dies alles zeigte sich besonders deutlich in den Auseinandersetzungen um die Jugendpflege in den Jahren vor dem Ersten

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Weltkrieg. Der "Kampf um die Jugend" zwischen Staat, Kirchen und Arbeiterbewegung war ein Kampf um die Freizeit der Jugend (vgl. Giesecke 19 8 1, S. 59 ff.).

Mit erstaunlicher Klarheit hat Friedrich Naumann (1890) derartige Zusammenhänge schon zwei Jahre vor dem erwähnten Freizeitkongreß erkannt.

Naumann (1860-1919) engagierte sich im Rahmen seiner Kirche und später auch parteipolitisch in der sogenannten "sozialen Frage", d. h. für eine gleichberechtigte Eingliederung der Arbeiter in den bürgerlichen Staat und in die bürgerliche Gesellschaft. Dabei versuchte er, einen mittleren Weg zu gehen zwischen dem paternalistischen Fürsorgedenken konservativer Positionen - die die Arbeiter gleichsam als politisch und sozial noch Unmündige ansahen, die zu ihrem Glück behutsam oder energisch geführt werden müßten - und der sozialistischen Arbeiterbewegung, deren ideologische Positionen er als Christ und Politiker nicht teilen konnte, der er aber sonst durchaus nicht feindselig gegenüberstand. Mit der 1895 von ihm gegründeten Zeitschrift "Die Hilfe" bot er für diese Probleme ein sozialpolitisches Diskussionsforum an. Vor dem Ersten Weltkrieg entwickelte er linksliberale parteipolitische Vorstellungen, wurde 1919 in die Nationalversammlung gewählt, wurde 1. Vorsitzender der neu gegründeten Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und gilt bis heute als einer der Väter des politischen Liberalismus. Seine Schrift "Christliche Volkserholungen" - er war damals Pastor in Sachsen - richtete sich an seine Kirche und enthält eine Reihe wichtiger freizeitpädagogischer Gedanken. Naumann rät seiner Kirche, das Freizeitproblem als ihre Chance bei der Arbeiterschaft ernst zu nehmen, "denn die Erholungszeit, die freien Stunden haben einen geradezu unberechenbaren Einfluß auf das gesamte Leben der Bevölkerung. Wer sie in der Freizeit gewinnt, dem wird sie auch im Ernst und in der Arbeit folgen" (S. 1).

Naumann erkennt, daß sich längst eine "Erholungsindustrie" - er spricht auch von "Freudenindustrie" - aufgetan hat, deren Zentrum das Wirtshaus ist.

"Zu Hause bleiben am Sonntagnachmittag, das 'ist nichts', denn das Haus weiß in nicht vielen Fällen noch zu unterhalten, es ist Wohnstätte, Schlafstätte, Speiseraum, aber die guten Geister des Frohsinns, der Erquickung, sind, falls sie überhaupt jemals darin

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wohnten, oft längst wieder ausgezogen. Dafür thut sich aber das Gasthaus weit und weiter auf. Die Säle werden weit wie Kirchenhallen, die Tische werden bequem für jedermann gestellt, die Kellner eilen des Winkes gewärtig, der Wirt denkt und forscht: womit mache ich meinen Gästen Freude? Bald hat er Vogelschießen, bald Karpfenschmauß, bald Kegeltest, bald ist Skatturnier, dazu, so oft die Behörde es erlaubt, Ballmusik mit diversen Speisen und Getränken. Für seine Gäste pflanzt er Blumen in den Garten, kauft ein rauschendes Orchestrion in die Stube, beruft von Zeit zu Zeit Coupletsänger, Tingel-Tangel-Damen, Tiroler Kapelle, Luftkünstler, Zitherspieler oder sonst wen, ist überhaupt auf seine Art unerschöpflich im Auffinden von Erholungsgelegenheiten, die ihm Geld und seinen Kunden Vergnügen bringen. Es ist nicht zu leugnen, daß im Hintergrunde dieser Tätigkeit der Gastwirte auch etwas Ideales liegt. Sie verbreiten Wohlsein, sie machen Freude, sie sind der erste Stand, welcher das moderne Erholungsbedürfnis wirklich erfaßt hat" (S. 4).

Bei allem Respekt vor der Arbeit der Gastwirte sieht Naumann jedoch die problematischen Sozialisationswirkungen: Diese neue "Industrie" bietet nur an, was materiellen Gewinn verspricht, mit anderen "Freudengebieten" weiß sie nichts anzufangen. Der Wirt läßt zum Beispiel "zweifelhafte Possenlieder", keine Volkslieder singen, er läßt keine kulturell wertwollen Vorträge halten oder Gedichte vortragen. Hinzu kommen die sittlichen Versuchungen und die Spielleidenschaft. "Es fehlt rechte, harmlose, fast möchte ich sagen kindliche Fröhlichkeit, es fehlt das liebe, gesunde wohltuende Lachen. Man hat gemachte, forcierte Freude und Murren, Unbehagen" (S. 6). Beeinträchtigt werde auch der Sinn für die ernsthaften Fragen des Lebens, auch im Hinblick auf die Teilnahme am kirchlichen Leben. "Erst wenn die Erholungsstunden des Volkes wieder mehr Ideales haben, wird auch das Idealste, was es gibt, die Herrlichkeit der evangelischen Wahrheit, wieder mehr klare, bewußte Bewunderer und Bekenner im Volke finden" (S. 8). Die Ansicht, die Erholung gehöre in die Familie und die Kirche schade dem Familienleben, wenn sie sich im Rahmen der öffentlichen Erholung engagiere, sei schon wegen der Wohnverhältnisse der Arbeiter unrealistisch, aber auch deshalb, weil sich in der gesellschaftlichen Entwicklung notwendigerweise viele Aufgaben von der Familie in die Öffentlichkeit verlagern.

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"Einst ... hatte die Familie allein für die Erholungen aufzukommen, jetzt beginnt bei uns das Herstellen der Erholung öffentliche Angelegenheit zu werden ... man kann sagen: alle Industrie ist im Grunde Ablösung einer früheren Familienleistung. So auch die Erholungsindustrie" (S. 9 f.).

Naumann sieht also die Tendenz zur Öffentlichkeit wie auch zur Kommerzialisierung der "Erholungsindustrie" als unumkehrbar an. Deshalb müsse sich die Kirche - und das heißt: alle evangelischen Christen - in diesem Raum engagieren, denn es gehe um nichts weniger als um die "Herausgestaltung einer neuen Form des Volkslebens" (S. 10). Dabei sei durchaus die Gefahr gegeben, daß sich die Kirche an der Vermehrung der Vergnügungssucht beteilige. »Aber wir müssen diese Gefahr in Kauf nehmen, weil wir sonst der Macht des Erholungsdurstes überhaupt hilflos gegenüberstehen würden. Wir riskieren ein stilles, häusliches Gemüt aushäusig zu machen, um zwanzig anderen statt einer niedrigen eine garantierte Freizeit zu schaffen" (S. 12).

Seine praktischen Vorstellungen faßt Naumann in folgenden Punkten zusammen:

1. "Fürsorge für das häusliche Vergnügen" (S. 16). Für die Freizeitgestaltung in der Familie sollte das gemeinsame Spiel mehr beachtet werden. Dazu müßten - neben dem Kartenspiel - andere Spiele wieder bekanntgemacht werden. Ebenso müsse das gemeinsame Singen gepflegt werden, indem wieder Volkslieder unters Volk gebracht werden. Schließlich sollte guter Lesestoff zugänglich gemacht werden.

2. "Hebung bestehender Volkserholungen" (S. 18). Die Christen sollten die zahlreichen Feste und Feiern, die sowieso stattfinden, in ihrem Sinne zu beeinflussen suchen.

3. "Förderung christlichen Vereinslebens" (S. 19). Die geselligen Veranstaltungen der christlichen Vereine sollten in Inhalt und Form vorbildlich sein.

4. "Familienabende" (S. 20). Das sind gesellige Veranstaltungen in öffentlichen Sälen nicht nur für die Männer, sondern für die ganze Familie. "Sie sind eigentlich der Hauptausdruck der bisherigen Versuche, christliche Volkserholungen zu schaffen" (S. 20). Das Programm besteht - wie bei den schon erwähnten weltlichen "Volksunterhaltungsabenden" - in der Regel aus einem Vortrag, Deklamationen,

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Sologesängen, Chorliedern, Instrumentalstücken und gemeinsamem Singen.

5. "Figürliche Darstellungen". Gemeint sind Versuche, in Anlehnung an "die auf Wachstuch gemalten Ölbilder der herumziehenden Leute, welche auf den Jahrmärkten als Erklärung der Bilder zum Leierkasten Schauergeschichten absingen" (S. 25), christliche Themen zu gestalten. Außerdem ist das sogenannte "lebende Bild" gemeint, wobei bekannte Gemälde durch Personen nachgestellt werden.

6. "Theatralische Darstellung", das heißt Laientheater mit christlichen Themen; an deren Inszenierung und Aufführung können nicht nur die Schauspieler, sondern sehr viel mehr Personen mitwirken.

7. "Sommerfeste", die aus kirchlichen Anlässen im Freien stattfinden können, und deren Programme unter einem christlichen Thema stehen können.

Aus seinen Vorschlägen ist zu ersehen, daß Naumann die grundlegenden Strategien aller künftigen Freizeitpädagogik bereits entwickelt hatte:

1. Das, was die Menschen sowieso tun, zu verbessern (zu differenzieren, zu kultivieren);

2. das, was die Menschen nicht tun, aber tun sollten, ihnen vorzumachen, sie also dazu animieren, etwas anderes, neues auszuprobieren, Alternativen vorzuführen;

3. die Menschen zur Selbsttätigkeit und Kreativität zu ermuntern, anstatt sie sich nur unterhalten zu lassen.

Naumann wandte sich zwar gegen die Plattheit der üblichen Volksvergnügungen, akzeptierte aber das menschliche Grundbedürfnis nach Erholung und Vergnügen prinzipiell was hinsichtlich des Vergnügens damals für einen evangelischen Pastor keineswegs selbstverständlich war. Allerdings begann mit ihm auch der verzweifelte Kampf der Freizeitpädagogik gegen die Sozialisationswirkungen der Vergnügungsindustrie, die die Möglichkeiten des Freizeitverhaltens auf das zu reduzieren trachtet, was sich vermarkten läßt der Versuch, aus dem Potential christlich-bürgerlicher Kulturtradition eine wertvollere "Gegen-Welt" zu konstituieren. Diese Rivalität zwischen Kommerz und Kultur gab der Freizeitpädagogik bis in die sechziger Jahre hinein das dominante Leitmotiv. Aber der Maßstab dafür war von Anfang an problematisch: Was ist für wen und warum sinnvoll beziehungsweise "wertvoll"? Naumann konnte

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dazu nicht mehr als die Selbstverständlichkeit seiner eigenen bürgerlich-christlichen Position ins Feld führen. Den anbiedernd-manipulativen Hintersinn der Vorstellung, man müsse das, was die Leute tun, "veredeln", hat Naumann wohl deshalb auch nicht bemerkt. Die Tendenz zum "Umfunktionieren" beziehungsweise "Uminterpretieren" des tatsächlichen Freizeitverhaltens hat die Freizeitpädagogik bis heute verdächtig gemacht.

 

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II. Freizeitbewegung und Freizeitgestaltung (1918-1945)

Die Entwicklung der Freizeit in der Weimarer Republik

Das Jahr 1918 brachte den Achtstundentag und die 48-Stunden-Woche - verkündet vom Rat der Volksbeauftragten im November dieses Jahres. Beides war das Ergebnis von Verhandlungen zwischen Spitzenvertretern der Gewerkschaften und der Unternehmer, lag aber auf der Linie einer internationalen Tendenz: Die erste internationale Arbeitskonferenz 1919 in Washington beschloß diese Regelung auch für ihre Mitgliedstaaten.

Allerdings versuchte die Unternehmerseite in der Weimarer Zeit die »schematische« Auslegung dieses Prinzips zu durchlöchern (Schmiede, S. 77 ff.). Der Kampf um den Achtstundentag führte vor allem im Bergbau und in der Schwerindustrie zu erbitterten Auseinandersetzungen, weil dort die Arbeitgeber unter Hinweis auf die wirtschaftliche Notlage wieder die Vorkriegsarbeitszeit einführen wollten (Feldman/ Steinisch). Hintergründe dieser Auseinandersetzungen waren einmal die Versuche der Bergbau- und Schwerindustriellen, die sozialpolitischen Errungenschaften der Revolution wieder rückgängig zu machen, die unternehmerische Handlungsfreiheit hinsichtlich der Arbeitszeit- und Lohngestaltung wiederzugewinnen. Andererseits waren gerade diese Industrien technologisch veraltet und durch die Kriegswirtschaft besonders ausgebeutet worden. Zudem drückten Reparationsforderungen (Kohlelieferungen) den Bergbau besonders hart. Dieser "alten" Industrie stand die »neue« Fertigungsindustrie gegenüber (zum Beispiel Zeige, Bosch, Siemens), deren technologische Produktivität weitaus höher entwickelt war und der deshalb Konzessionen in der Frage der Arbeitszeit weitaus leichter fielen. In der Arbeitszeitverordnung vom 21. Dezember 1923, in der sich diese Auseinandersetzungen niederschlugen, blieben zwar der Achtstundentag und die 48-Stunden-Woche grundsätz-

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lich erhalten, allerdings wurde eine Reihe von Ausnahmen zugelassen.

Die Arbeitsruhe an den Sonn- und Feiertagen wurde - wie schon erwähnt - in der Verfassung verankert.

Vereinbarungen über bezahlten Urlaub wurden zum Bestandteil fast aller Tarifverträge, so daß Anfang 1929 97,8 Prozent der 12 Millionen tarifvertraglich erfaßten deutschen Arbeiter und fast 2 Millionen Angestellte einen bezahlten Urlaub zwischen drei und vierzehn Tagen hatten (Zimmermann, S. 676 und 678). Gewandelt hatten sich nun auch die Motive für die Gewährung von Urlaub. An die Stelle der früheren karitativen und patriarchalisch-erzieherischen Einstellungen des Arbeitgebers, der Urlaub als persönliche Vergütung gewährte, war nun eine sozialreformerische Auffassung getreten, die wesentlich von hygienischen und berufspolitischen Gesichtspunkten bestimmt war.

"Die sozialreformerische Auffassung wertet den Arbeiter einerseits als seelisch-sittliche Persönlichkeit, als Glied der Gesellschaft, als Volksgenossen und Staatsbürger und andererseits als produktiv schaffenden Menschen, als Träger des Arbeitsleistungsvermögens; beide Seiten müssen pfleglich behandelt werden, um sie im Interesse des Arbeiters wie der Unternehmung, in der er schafft, und der Gesamtheit, der letztlich alles Schaffen dienen soll, gesund zu erhalten und zu stärken" (Zimmermann, S. 679).

Eine Folge dieser Einstellungsänderung war jedoch auch, daß der Arbeitnehmer nun auch in gewissem Sinne verpflichtet war, seinen Urlaub zur Erholung zu nutzen, da das Interesse seines Betriebes war, diesem mit gestärkter Arbeitskraft nach den Ferien wieder zur Verfügung zu stehen, denn dafür hatte dieser Betrieb ihm schließlich den Urlaub bezahlt. Die Vorstellung, daß der Arbeitnehmer einerseits seinem Betrieb, andererseits aber auch seinem Volk im Ganzen eine Art von »Freizeitpflicht« schulde, wurde dann im Nationalsozialismus zum herrschenden Motiv der Freizeitpolitik.

Im Vergleich zu den erwachsenen Arbeitern waren die jugendlichen Arbeiter und Lehrlinge eher benachteiligt. Die "Freizeit-Erfindungen" der bürgerlichen Jugendbewegung vor dem Kriege (Fahrt und Lager; Wandern; Gemeinschaftsleben unter Gleichaltrigen) verbreiteten sich nach dem Kriege in der gesamten jungen Generation und brachten den Jugendverbänden einen gewaltigen Zulauf. Nun

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wurde die Benachteiligung der arbeitenden Jugend im Vergleich zu den Schülern offensichtlich. Deshalb forderte der Reichsausschuß der deutschen Jugendverbände - der Vorgänger des Deutschen Bundesjugendrings - im Jahre 1925:

"l. Grundsätzliche Ausdehnung der Schutzbestimmungen für die Lehrlinge und jugendlichen Arbeiter und Angestellten auf das Alter vom 14. bis zum vollendeten 18. Jahre;

2. Drei Wochen bezahlte Ferien für erwerbstätige Jugendliche (einschließlich Lehrlinge) unter 16 Jahren und zwei Wochen bezahlte Ferien für erwerbstätige Jugendliche (einschließlich Lehrlinge) zwischen 16 und 18 Jahren;

3. Festsetzung einer Arbeitswoche von höchstens 48 Stunden (einschließlich des Fachunterrichts und der Zeit, die für die Aufräumungsarbeiten beansprucht werden könnte);

4. Beginn der sonntäglichen Arbeitsruhe mit Sonnabendmittag oder Gewährung eines freien Nachmittags in der Woche;

5. Festsetzung ausreichender Arbeitspausen;

6. Verbot der Nachtarbeit für Jugendliche" (Maaß 193 1, S. 199).

Der Reichsausschuß gab auch eine Erhebung über die Lage der arbeitenden Jugend in Auftrag (Mewes 1929), die unter anderem folgende Ergebnisse brachte:

"Jeder dritte Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren mußte mehr als 48 Stunden in der Woche arbeiten, jeder achte Jugendliche hat Sonntagsarbeit zu leisten, jeder zweite Jugendliche kannte keinen Wochenend-Frühschluß, und jeder vierte Jugendliche erhielt überhaupt keinen Urlaub; erst jeder fünfundzwanzigste Jugendliche erreichte das vom Reichsausschuß geforderte Mindestmaß von jährlich 14 Tagen Urlaub" (Maaß 193 1, S. 200).

Den Bemühungen des Reichsausschusses war in der Weimarer Republik jedoch kein Erfolg beschieden. Während sich der Urlaub für erwachsene Arbeitnehmer über Tarifvereinbarungen durchsetzen ließ, konnte er für Jugendliche nur auf gesetzlichem Wege realisiert werden, was jedoch erst 1938 geschah.

Zwar hatten die Gewerkschaften damit begonnen, tarifvertragliche Urlaubsregelungen auch für Lehrlinge durchzusetzen. Von Arbeitgeberseite angerufene Gerichte erklärten dies jedoch aus formellen Gründen für rechtswidrig, weil der Lehrvertrag kein "Arbeitsvertrag" sei. Gegen eine gesetzliche Regelung wehrte sich jedoch die Unternehmerseite, weil sie zu schematisch sei und die jeweiligen betriebli-

 

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chen Notwendigkeiten nicht berücksichtigen könne. Über die Frage einer vermehrten Freizeit für die erwerbstätige Jugend entstand seit 1925 eine breite öffentliche Diskussion, die sich vor allem in der Zeitschrift des "Reichsausschusses der deutschen Jugendverbände" "Das junge Deutschland" niederschlug (vgl. Scheffer; Knoll; Maß 1925). Obwohl die jugendpolitische Öffentlichkeit fast geschlossen hinter den Forderungen des "Reichsausschusses" stand - sie wurden zum Beispiel von allen nennenswerten Wohlfahrtsorganisationen unterstützt - brachten die Arbeitgeber die gleichen Argumente vor wie schon bei der Diskussion um den arbeitsfreien Sonntag: Die Sache sei betriebswirtschaftlich zu schwierig und zu teuer und außerdem könne die vermehrte Freizeit mißbraucht werden - was den Oberbürgermeister von Nürnberg, Dr. Luppe, zu der sarkastischen Bemerkung veranlaßte: "Wenn es danach ginge, müßten die Menschen Tag und Nacht arbeiten, damit sie nur ja keine Dummheiten machen" (Das Junge Deutschland 1926, S. 75). Eine in Wirtschaftskreisen verbreitete, gleichsam "pädagogische" Position bezog Dr. Schimmelpfennig, Abteilungsdirektor in der Schwerindustrie: Unter Hinweis darauf, daß nach dem verlorenen Krieg "die Arbeitskraft des Deutschen" "das einzige unerschütterliche Aktiv im deutschen Volksleben ... geblieben" sei, meinte er,

"daß man dem heranwachsenden Deutschland keinen guten Dienst damit leistet, wenn man ständig nur darauf hinweist, man müsse der Jugend alle erdenkbaren Erleichterungen verschaffen, man müsse ihr möglichst viel Freiheit und Lebensgenuß bieten, um sie gerade damit für die spätere Arbeit des Erwachsenen vorzubereiten ... Wer vom Erwachsenen hingebungsvolle Arbeit für das Ganze und Pflichttreue erwartet, darf dem Jugendlichen nicht als erstrebenswertes Ziel ein Höchstmaß ungebundener Freiheit vor Augen führen ... Begeistere Du das menschliche Geschlecht zuerst für seine Pflicht, dann für sein Recht!"

Man solle "sich davor hüten, durch allzulaut auf die Straße hinausposaunte Forderungen Begehrlichkeit und Unzufriedenheit in die Jugend zu tragen". Es gebe "auch andere und sehr gute Mittel zur körperlichen und seelischen Ertüchtigung der Jugend, wie Spielplätze in der Nähe von Fabriken, Turnunterricht im Rahmen der Lehrlingsausbildung, einwandfreie sanitäre Einrichtungen während der Arbeitszeit, Gelegenheit für gute Beköstigung in den Werken und dergleichen, die mit wesentlich einfacheren und geringeren Mitteln letzten Endes zum selben Ziele führen, dem

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Vaterlande ein starkes, arbeitswilliges, arbeitskräftiges und pflichttreues Geschlecht heranzubilden". (Das junge Deutschland 1925, S. 373 u. 377).

Abgesehen davon war bis zum Ende der Weimarer Republik die arbeitsfreie Zeit für Arbeiter und Angestellte so angewachsen, daß sie eine eigenständige kulturelle Bedeutung bekommen hatte - wobei die erzwungene Freizeit der Arbeitslosen hier nicht gemeint ist.

"Freizeitbewegung"

In der Weimarer Zeit bekamen also Arbeiter und Angestellte ein Maß an arbeitsfreier Zeit - täglich, am Wochenende und als Urlaub -, das nicht mehr nur der Reproduktion der Arbeitskraft, also der »Erholung« im engeren Sinne des Wortes dienen mußte, sondern auch einen eigenen Stellenwert bekam, als "Zeit zur freien Verfügung". Erst von diesem Augenblick an kann man von einem Freizeit-"Problem" sprechen, insofern den Menschen etwas Neues zufiel, für das es wenig Vorprägung gab.

Der "Kampf um die Freizeit", vor allem um den Achtstundentag, war von den meisten Arbeitern sicher eher mit einer negativen Motivation geführt worden, um die drückende Arbeitslast zu verringern, aber kaum mit präzisen Vorstellungen darüber, was man mit der gewonnenen Zeit positiv anfangen sollte. Derartige Vorstellungen hatte nur eine Minderheit. Deshalb hatte die Arbeiterbewegung auch kein Freizeit-»Programm« entworfen.

Der verlorene Krieg hatte vieles verändert. Nach den entbehrungsreichen Kriegsjahren zeigten sich viele Menschen »lebenshungrig«, was sie in die Freizeit verwies. Vor allem in den großen Städten ließ der Sturz der alten politischen Autorität und die Demokratisierung kulturelle und damit auch normative Pluralität in einem vorher nicht bekannten Ausmaß zu, während auf dem Lande sich noch alte Traditionen hielten und zum Beispiel "Urlaub" eine unbekannte Vorstellung blieb.

In diesem Kontext wurde nun auch die industrialisierte Arbeit problematisiert - interessanterweise in dem Augenblick, als sie zeitlich reduziert worden war. Auf dem Hinter-

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grund der breiten Diskussion darüber entstanden, wie wir noch sehen werden, die Konzepte der "Freizeitpädagogik". "Der Kampf um die Arbeitsfreude" hieß ein bezeichnender Buchtitel von H. de Man. Das Arbeitstempo in den rationalisierten Büros und Fabrikhallen wurde als zu forciert erlebt, die Entfremdung der Arbeitenden von ihrem Produkt wie von ihren Mitmenschen wurde beklagt. Es ist schwer zu entscheiden, ob die Arbeit nun wirklich "schwerer" geworden war als vor dem Kriege, oder ob sie nur nach neuen Maßstäben bewertet wurde. Wahrscheinlich spielte beides eine Rolle, denn unzweifelhaft führten die Arbeitszeitverkürzungen und neue Technologien auch zu einer rationelleren Organisation der Arbeit, bei der "unrentable", aber für den zwischenmenschlichen Kontakt unter Umständen bedeutende Tätigkeiten und Zeiten "wegrationalisiert" wurden. Im Unterschied zu den USA, wo etwa H. Ford das Fließband als "Befreiung" für die Arbeiter feiern konnte, weil sie so mehr Freizeit und mehr Konsum bekamen, war in der deutschen Tradition die Arbeit mit bestimmten Vorstellungen über deren soziale Dimension und über die Qualität der Tätigkeit verbunden. Es war ein "handwerkliches" Ideal, in dem nicht Arbeitstempo, Rentabilität und Effektivität die Hauptrolle spielten, sondern Sorgfalt, Zuverlässigkeit und meisterliches Geschick, also eher soziale Tugenden. In diesem Horizont entstanden ja auch die deutschen Berufsbildungskonzepte oder Kerschensteiners Vorstellung von der Arbeitsschule. In diese Vorstellungen haben die "ungelernten" oder "angelernten" Industriearbeiter nie gepaßt, sondern nur die, die sich einer - handwerklich orientierten - Berufsausbildung unterzogen.

Auf diesem Hintergrund ist auch das Engagement für mehr Freizeit für die erwerbstätigen Jugendlichen zu sehen.

"Biologen und Ärzte, Psychologen und Erzieher sind angesichts der Arbeitsverhältnisse der Jugendlichen versucht zu fragen: Rechtfertigt unser Wirtschaftsleben diese plötzlich einsetzende starke Belastung während der Jahre größter körperlicher Entwicklung und reichster seelischer Entfaltung? Nach dem 6- bis 7-stündigen 'Arbeitstag' des Volksschülers für den eben Schulentlassenen die doppelte Beanspruchung, nach einem Viertel des Jahres Ferienzeit nun 0-8 Tage Urlaub? ... Es wäre grundfalsch, der Jugend all die Kämpfe zu ersparen, die den Menschen erst stählern für die Lebensaufgabe, und wirklich können wir heute keine verweich-

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lichte Generation gebrauchen. Nein, harte und lebenstüchtige, frische und gesunde Menschen tun uns not. Aber gerade darum ist zu fürchten: Bei dieser Lebenslage der heranreifenden Jugend steht Gesundheit und Lebenstüchtigkeit auf dem Spiel. Restlose Ausnutzung im Dienst der Produktion kann nicht das Ziel sein. Andere erzieherische Kräfte haben noch mitzuwirken an der Bildung und Formung der jungen Menschen. Die geschilderten Arbeitsverhältnisse müssen vom pädagogisch-psychologischen wie biologischmedizinischen Standpunkt aus schon als Übermaß empfunden werden" (Hammer, S. 99).

Die beschriebenen Tendenzen führten zu einer breiten "Freizeitbewegung", die einerseits das Recht auf mehr Freizeit propagierte - wie im Falle der jugendlichen Arbeiter - andererseits nicht ohne Euphorie nach sinnvollen Möglichkeiten der Freizeit-"Gestaltung" suchte. Je weniger die moderne Arbeit an menschlicher Befriedigung bot, um so mehr setzten sich die Hoffnungen auf eine Erfüllung in der Freizeit.

Andererseits stand die "frei verfügbare Zeit" nicht nur den Individuen zur Verfügung, sondern auch einem neuen - kommerziellen oder nicht-kommerziellen - "Markt", auf dem sich alle möglichen "Anbieter" einfanden. Dazu gehörten neben dem Vergnügungsgewerbe aller Schattierungen auch sportliche, kulturelle und pädagogische Organisationen. Schon das konsequente Engagement aller Jugendverbände für mehr Freizeit der Lehrlinge und jungen Arbeiter war keineswegs nur uneigennützig; sie verwiesen vielmehr selbst darauf, daß sie sehr wohl in der Lage seien, den befürchteten "Mißbrauch" durch ihre Angebote weitgehend zu verhindern. Für die tägliche Freizeit boten sich Organisationen und Vereine am Ort an, für das Wochenende und den Urlaub Heime der verschiedenen Träger. "Freizeiten" nannte man derartige Veranstaltungen, die mit einem sportlichen, musisch-kulturellen oder Bildungsprogramm aufwarteten, oder "Rüstzeiten", wenn sie "methodistisch-pietistische Frömmigkeit" (Ritter 1930, S. 46) verbreiten wollten. Der. Begriff der "Freizeitpädagogik" entstand, wie noch zu zeigen sein wird, als Bezeichnung für die in solchen "Freizeiten" sich ergebenden pädagogischen Möglichkeiten. Gegen Ende der Republik fanden sich allerdings auch schon Klagen über die allzu große Verplanung der Freizeit, die sie zu einer zweiten Arbeitssphäre mache. "Die Freizeit gerat in

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die Hände der Pädagogen, der Sozialreformer, der Hygieniker und der Reichsgottesarbeiter", stöhnte ein Pfarrer, der selbst Freizeiten gestaltete (Ritter 1930, S. 43).

Der Zusammenbruch des Wilhelminischen Reiches einschließlich der Werte, die es verkörperte, sowie der verlorene Krieg mit seinen Folgekosten (Reparationen) hatte insbesondere in den Mittelschichten eine private wie nationale Sinn- und Identitätskrise ausgelöst, die die "Freizeitbewegung" ebenfalls beflügelte. So entstanden zahlreiche Volkshochschulen in der Hoffnung, durch gemeinsame geistige Arbeit die Klassenschranken zu überwinden und die geistigsittlichen Fundamente für eine neue nationale beziehungsweise völkische Identität zu finden. Diese Bemühungen scheiterten jedoch, die Volkshochschulen erreichten in ihren Orten kaum mehr als ein Prozent der Bevölkerung und die bildungswilligen Arbeiter bevorzugten Kurse für ihre Weiterqualifikation beziehungsweise zur Verbesserung von Kenntnissen, die sie für ihre Mitarbeit in den Gewerkschaften brauchten (Langewiesche 1980a). Eine stärkere Breitenwirkung erzielten die Volksbibliotheken. Im Ganzen aber zeigte sich, daß die Arbeiter keineswegs so bildungshungrig waren, wie bürgerliche und sozialistische Theoretiker erwartet hatten.

Der weltanschauliche Pluralismus, der, wie wir sahen, den Menschen in ihrer Freizeit begegnete, hatte einen Kampf um die Köpfe und Seelen der Menschen zwischen den großen weltanschaulichen Richtungen zur Folge. Das galt vor allem für die katholische Kirche einerseits und für die sozialistische Arbeiterbewegung andererseits: Durch das Angebot von Vereinen, Bildungsveranstaltungen und Bibliotheken war man bemüht, die Menschen in den eigenen Reihen zu halten, beziehungsweise sie zu gewinnen. Vor allem die katholische Kirche reagierte offensiv auf die "Gefährdung" ihrer Mitglieder durch den im Freizeitbereich wirksam werdenden normativen Pluralismus. So baute sie in den Pfarreien ein umfangreiches Bibliothekswesen auf ("Borromäus-Verein"), für deren Bestand zentrale Vorschlagslisten erstellt wurden. Auf diese Weise sollte die Lektüre weltanschaulich kanalisiert werden. Der äußere Erfolg war beachtlich und bedeutete eine ernstzunehmende Konkurrenz für die Volksbibliotheken. Im Jahre 1929 zum Beispiel wurden 8,9 Millionen Ausleihen aus einem Bestand von 4,1 Millionen Bän

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den gezählt; bei den Volksbibliotheken waren es 15,4 Millionen Ausleihen bei einem Bestand von 5,8 Millionen Bänden (Langewiesche 1980a, S. 235).

Dennoch wurde es - zumindest in den großen Städten - immer schwieriger, die Menschen in ihrem Milieu festzuhalten. Dafür sorgten unter anderem zwei Erfindungen, die massenwirksam wurden und die auch von großen gesellschaftlichen Organisationen nicht mehr im Sinne einer Gegen-Wirkung finanzierbar waren: Das Kino und der Rundfunk. In der Mitte der zwanziger Jahre gingen täglich etwa 2 Millionen Menschen ins Kino, im Oktober 1931 gab es bereits 3,7 Millionen Rundfunkteilnehmer (Langewiesche 1980a, S. 244) - zum größten Teil Arbeiter (Sternheim, S. 60). Auch das Kinopublikum bestand ganz überwiegend aus Arbeitern.

Kino und Rundfunk hatten eine revolutionäre Wirkung, und zwar in folgender Hinsicht:

1. Sie überwanden allmählich die alten gesellschaftlichen "Milieus". Zeitungen, Bücher und Vorträge, die herkömmlichen Mittel der geistig-emotionalen Beeinflussung, konnte jede weltanschauliche Gruppe für ihre eigenen Mitglieder herstellen und inhaltlich bestimmen, Filme und Rundfunksendungen schon aus finanziellen Gründen nicht. Die neuen Massenmedien ebneten allmählich die überlieferten kulturellen Milieus ein und relativierten damit die von diesen ausgehenden kulturellen Orientierungen zugunsten universeller, aber auch unverbindlicher kultureller Standards und Leitbilder.

2. Die beiden neuen Massenmedien - Film und Rundfunk - waren leicht zugänglich und in einer rezeptiven Haltung zu genießen. Über den Rundfunk ließ sich prinzipiell alles verbreiten, was hörbar zu machen war, der Film wurde zum "Theater des kleinen Mannes", erheblich billiger als ein Theaterbesuch und insofern zum Beispiel so recht geeignet zum "Ausgehen" für junge Paare, zumal der verdunkelte Raum und der Inhalt der Filme erotisch animieren konnten. Gemessen an den bisherigen Möglichkeiten des Ausgehens - Lokal oder Café - war das Kino ein preiswerter Fortschritt. Der Rundfunk dagegen dürfte eher das Familienleben gestärkt haben.

3. Jedenfalls brachen Kino und Rundfunk das bürgerliche Bildungsmonopol, indem neben die bürgerliche "Buch-Kul-

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tur" nun eine massenmediale Kultur trat, die nicht einfach nur die bisherigen kulturellen Inhalte und Formen massenhaft verbreiten, sondern vor allem auch neue schaffen konnte. Dies wurde damals allerdings noch kaum bemerkt, eine sich daran anschließende "Kulturkritik" als Freizeit- und Konsumkritik setzte in großem Umfang erst in den 50er Jahren ein.

Gerade die unter rein kommerziellen Gesichtspunkten wirtschaftende und produzierende Filmindustrie, die in den "Veredelungen" im Sinne Naumanns keine Profitchance sah, rief nun eine neue Jugendschutz-Bewegung auf den Plan. War "Jugendschutz" bis dahin im wesentlichen als "Jugendarbeitsschutz" verstanden worden - davon war bereits die Rede - so kam nun eine Art von "Jugendfreizeitschutz" hinzu, dem im Grunde der gesamte kommerzielle Freizeitbereich als jugendgefährdend erschien, vor allem der Film, das Schrifttum und die Orte und Lokale des Amüsements. Dieser Freizeitschutz sollte auf die Dauer den Jugendarbeitsschutz zumindest in der öffentlichen Aufmerksamkeit weitgehend verdrängen und wird unser Thema von nun an begleiten. Um die damals weit verbreitete Aufregung zu verstehen - heute könnten die seinerzeit für pornografisch gehaltenen Filme ohne Beanstandung im Familienprogramm des Fernsehens laufen und würden wohl nur noch allgemeine Heiterkeit erregen - muß man sich die damals in der Öffentlichkeit herrschende "Anthropologie" vor Augen führen. Wie schon im Bild vom "Veredeln" deutlich wird, dachte man sich die Entwicklung des Menschen zur sittlichen Persönlichkeit im wesentlichen so, daß er lernen müsse, seine "niedere" Triebstruktur - im Militärjargon: den "inneren Schweinehund" - empor zu entwickeln zu einer von geistigen Idealen beherrschten Facon. Dem Erwachsenen wurde unterstellt, daß er diese Fähigkeit erworben habe, aber für das Jugendalter, in dem diese geistige Idealisierung im wesentlichen geleistet werden sollte, mußten Appelle an die "niederen Instinkte" diesen Prozeß der sittlichen Reifung behindern, schlimmstenfalls zum Stillstand bringen.

Schon im Jahre 1920 erließ die Nationalversammlung das sogenannte "Lichtspielgesetz".

»Danach dürfen Filme überhaupt nur vorgeführt werden, wenn sie

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von einer der beiden Prüfstellen in Berlin und München zugelassen sind. Die Vorführung vor Kindern über 6 Jahren und vor Jugendlichen bis zu 18 Jahren bedarf einer besonderen Zulassung. Für die Prüfstellen sind ehrenamtliche Beisitzer, unter anderem aus dem Bereich der Jugendwohlfahrt, vorgeschrieben. Bei den für Jugendliche zuzulassenden Filmen sind jugendliche von 18 bis 20 Jahren als Sachverständige anzuhören, denn die Jugend habe sich als führend im Kampf gegen minderwertige Filme erwiesen ... " (Hasenclever, S. 93).

Gab es über die Absichten dieses Gesetzes weitgehend Einigkeit zwischen den Parteien und weltanschaulichen Gruppen, so entstanden über das 1926 verabschiedete "Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften" erbitterte Auseinandersetzungen; denn schließlich war das Kino eine öffentliche Veranstaltung, das Lesen jedoch eine private, die in die Aufsicht der Familie zu gehören schien.

Die Gegner - vor allem Schriftsteller und Künstler - sahen in dem Gesetz eine Bedrohung der geistigen Freiheit. Wie gering der Konsens war, zeigte sich in der Abstimmung im Reichstag: 250 Ja-Stimmen standen 158 Nein-Stimmen (der SPD und KPD und eines Teils der DDP) gegenüber. Nach diesem Gesetz werden "Schund- und Schmutzschriften in eine Liste aufgenommen" (§ 1); der Begriff "Schund- und Schmutz" wird allerdings nicht definiert.

"Die Aufnahme erfolgt auf Antrag der obersten Landesbehörden und Landesjugendämter durch zwei Prüfstellen in Berlin und München, gegen deren Entscheidung eine Oberprüfstelle in Leipzig angerufen werden kann. Für die Prüfstellen sind neben Sachverständigen aus Kunst, Literatur und Buchhandel auch solche der Jugendwohlfahrt und der Jugendorganisationem vorgesehen. Die Aufnahme einer Schrift hat erhebliche Vertriebsbeschränkungen, insbesondere gegenüber Jugendlichen unter 18 Jahren, zur Folge" (Hasenclever S. 94).

Ein weiteres Gesetz "Zum Schutz der Jugend bei Lustbarkeiten" wird zwar 1927 vom Reichstag verabschiedet, scheitert aber vor allem aus finanziellen Gründen beim Reichsrat. Jugendlichen unter 18 Jahren sollten Besuch und Beschäftigung bei öffentlichen Lustbarkeiten untersagt oder beschränkt werden können, wenn sittliche, geistige oder gesundheitliche Schädigungen drohen (Hasenclever, S. 95).

Neben Kino und Rundfunk spielten Sport und Kleingärtne-

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rei eine herausragende Rolle. Am Ende der Weimarer Republik gab es in Deutschland schätzungsweise 1,5 Millionen Kleingärtner (Sternheim, S. 61). Die Kleingärtnerei war familienfreundlich, bis zu einem gewissen Grade kostensparend, bot dem Großstadtarbeiter ein Stück freier Natur und zudem eine gewisse emotionale Identifikation, die aus dem Zusammenhang von Natur, Boden, Wachsen, Hegen und Pflegen entstehen konnte. Da ganz offensichtlich die Kleingärtnerei zur Befriedung des Klassenkonfliktes beitrug, wurde sie von vielen Unternehmern gefördert, zum Beispiel durch die Bereitstellung geeigneten Landes.

Einen gewaltigen Aufschwung hatte der Sport zu verzeichnen. Der schon erwähnte Arbeiter-Turner-Bund hatte 1927 über 700 000 Mitglieder, der Radfahrerbund "Solidarität" über 250 000 (Sternheim, S. 57). Der ATUS, die Dachorganisation aller Arbeiter-, Turn- und Sportorganisationen, zählte 1929 1,2 Millionen Mitglieder und bot über ein Dutzend Sportarten an. Dazu kamen noch 250 000 Mitglieder in kommunistischen Verbänden (Wheeler, S. 63). In den übrigen Sportverbänden waren 80 bis 90 % der Mitglieder Arbeiter (Wheeler, S. 67). Vor dem Ersten Weltkrieg setzte die Arbeitersportbewegung auf Teilnahme, nicht auf Wettkampf und Wettbewerb, um ein Gegengewicht gegen das bürgerliche Leistungs- und Konkurrenzstreben im Sport zu setzen. Nach dem Kriege - als man sich den Mannschaftssportarten öffnen mußte - wurde dieser Grundsatz zunehmend durchlöchert. Glanzpunkte der Arbeitersportbewegung waren die "Arbeiter-Olympiaden" die die internationale Solidarität der Arbeiter demonstrieren und ein "Gegen-Fest" zu den für chauvinistisch gehaltenen Olympischen Spielen darstellen sollten. Die erste inoffizielle Arbeiter-Olympiade fand 1921 in Prag statt, die erste offizielle 1925 in Frankfurt und Schreiberhau (Riesengebirge). Zu den Sommerspielen kamen mehr als 150 000 Menschen. Die zweite Arbeiter-Olympiade 1931 in Wien wurde zum Höhepunkt der Arbeitersportbewegung.

"Am Morgen des letzten Tages der Olympiade sahen sich an die 250 000 Menschen den Festzug der fast 100 000 Sportler und Sportlerinnen aus 26 Nationen durch die Wiener Innenstadt an. Am Nachmittag kamen 65 000 zum Fußballmeisterschaftsspiel, 12 000 zu den Finalkämpfen im Radfahren und 3000 zum Kampf um den Titel im Wasserball" (Wheeler, S. 66).

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Die organisatorische Leistung solcher Veranstaltungen bestand unter anderem darin, daß die Sportler ganz überwiegend in Familien untergebracht werden mußten.

Über die Ursachen und Motive der Sportbegeisterung gerade unter den Arbeitern ist viel geschrieben worden. Es würde zu weit führen, darüber hier in eine ausführliche Erörterung einzutreten. Die wichtigsten Aspekte dazu hat wohl Sternheim schon 1932 zusammengetragen, ohne allerdings zwischen aktiven Sportlern und Sportpublikum zu unterscheiden.

"Von ganz verschiedenen Gesichtspunkten aus muß dem Sport im gegenwärtigen Zeitalter eine besondere Bedeutung beigemessen werden, und zwar physiologisch, indem er ein Gegengewicht zu der alltäglichen einförmigen, maschinellen Arbeit bildet; psychologisch, indem libidinöse Bedürfnisse, der Geltungstrieb, die Aggressionsneigungen und das Glorifizierungsbedürfnis hier in großem Maße befriedigt werden; soziologisch, indem er die Annäherung von Mensch zu Mensch fördert und vom Standpunkt der gesellschaftlichen Gruppensolidarität aus betrachtet eine wichtige Rolle spielt; ideologisch, insoweit die sportliche Betätigung ideell begründet wird (Stärkung der Volkskraft, des Nationalismus, der proletarischen Solidarität usw.); sozialpolitisch, insoweit er zweckbewußt auf die Aufrechterhaltung des physischen (und psychischen) Gleichgewichts des Arbeitnehmers tendiert; politisch, insoweit er offen oder verdeckt militaristische Ziele verfolgt" (Sternheim, S.54).

Die "Freizeitbewegung", die übrigens in allen westlichen Industrieländern sich ausbreitete, veränderte auch die Presse. Die politischen Zeitungen - auch die der Arbeiterbewegung - enthielten nun mehr oder weniger ausführliche Sportberichte und andere, für die Freizeit interessante Beiträge. Zudem entstand eine eigene "Arbeitersportpresse". "Die Untergruppen des deutschen ATUS veröffentlichten 60 Zeitungen mit einer Gesamtauflage von 800 000 Exemplaren, wobei Lokalausgaben unberücksichtigt sind. Dazu gaben die kommunistischen Sportgruppen elf regionale und vier überregionale eigene Blätter heraus" (Wheeler, S. 64).

Nicht nur die weltanschaulichen Verbände, sondern auch die Industrie versuchte auf die Freizeit der Arbeiter und Angestellten Einfluß zu nehmen. Betriebssportgemeinschaften wurden gegründet, Werksbibliotheken eingerichtet.

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Werkszeitungen mit mehr als 1 Million Auflage wurden kostenlos an Arbeiter verteilt. Das DINTA (Deutsches Institut für technische Arbeiterbildung), das sich für eine Überwindung des Klassenkampfes und für eine bessere Kooperation zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern einsetzte, gab für über 100 Betriebe eine "Hüttenzeitung" (Auflage: 400 000) heraus (Rühle II, S. 269 f.).

Eine Zunahme der politischen Betätigung bei den Arbeitern, die vor dem Ersten Weltkrieg so gefürchtet wurde, blieb aus, die Freizeit wirkte eher entpolitisierend. Dazu trug auch bei, daß die Arbeiterorganisationen zunehmend mit bezahlten Funktionären arbeiten konnten.

J. Feige (1936/37) hat in den Jahren 1933/34 eine - allerdings nicht näher erläuterte - Fragebogenerhebung durchgeführt. Danach ist "auffällig", "wie gleichgültig das Arbeitsleben heute von vielen Menschen hingenommen wird". Sie lassen "die Arbeit als notwendig für die Lebensfristung stumpf über sich ergehen" (S. 362).

Beklagt wird "vielfach ein nur wenig befriedigendes Arbeitsleben durch mangelnde Selbständigkeit in der Arbeit, zu mechanische und gehetzte Arbeitsweise, fehlende Aufstiegsmöglichkeit oder die Notwendigkeit, in einem anderen als dem erlernten oder erwünschten Beruf zu verharren. Geringe Entlohnung wird nur in einem einzigen Falle als Grund für mangelnde Befriedigung im Beruf angegeben" (S. 368).

Der Freizeitgewinn sei vor allem der Familie und der Häuslichkeit zugute gekommen, allerdings nicht in dem Sinne, daß gemeinsames Tun am Feierabend im Vordergrund stehe.

"Vorherrschend ist die Einzelbeschäftigung. Es fehlt im Vergleich zum vorigen Jahrhundert am äußeren Zwang zur Gemeinsamkeit, weil die Menschen durch die Fortschritte der Technik nicht mehr auf den gemeinsamen Wohnraum und das eine Licht und nicht mehr in dem Maße wie früher auf gegenseitige Unterhaltung und Anregung angewiesen sind. Das innere Bedürfnis nach Gemeinsamkeit läßt nach durch die sich immer stärker differenzierenden Interessen der einzelnen Familienmitglieder und starke Abgespanntheit durch den Beruf". (S. 364).

An die Stelle des Vereinslebens, das vor allem die jüngeren kaum noch interessiere, seien individuell ausgesuchte Bindungen von Gleichgesinnten oder Gleichaltrigen getreten:

"Darum ist die Freundschaft für die freie Zeit so bedeutsam"

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(S. 333). Dagegen sei "der Sinn für Unterhaltung außerhalb des Hauses ... auffällig gering". (S. 366). Lediglich Theater und Kino würden viele gerne häufiger besuchen. Das Wirtshaus dagegen spiele "eine untergeordnete Rolle" (S. 366).

Feige sieht bereits deutlich die dem Freizeitsystem innewohnenden Tendenzen der Individualisierung und damit der Auflösung kultureller Traditionen:

"Freie Zeit ist für den modernen Arbeitsmenschen individueller Lebensraum, der, im Unterschied zum Feierabend vergangener Jahrhunderte, nicht mehr getragen und geformt von einer überindividuellen Ganzheit einer alten überkommenen Lebensordnung, erst der persönlichen Erfüllung und Gestaltung durch den einzelnen bedarf; denn weder Berufszugehörigkeit noch Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volksschicht enthalten heute für den Einzelmenschen in dem Maße formende Kräfte, daß sie sich wesentlich bestimmend auf die freie Zeit auswirken. Grundsätzlich steht heute allen Menschen als Folge des Nivellierungsprozesses des 19. Jahrhunderts dieselbe Fülle von Freizeitinhalten zur Verfügung" (S.361).

Fritz Klatt: "Freizeitpädagogik"

Wie bereits gesagt gehörten in der Weimarer Zeit auch pädagogische Institutionen bereits zu den Freizeitanbietern. Das galt zunächst einmal für die Jugendverbände. Für sie war die "jugendliche Gemeinschaft", wie sie die bürgerliche Jugendbewegung erfunden hatte (Vgl. Giesecke 1981) "sinnvolle" Freizeitbeschäftigung. Lernen konnte man sie einfach dadurch, daß man mitmachte, dazu bedurfte es keines besonderen Unterrichts und auch keiner Freizeitkunde. Die Jugendpflege der Verbände galt gleichsam per se als das für Jugendliche wertvollste Freizeitprogramm, und das Problem schien nur zu sein, wie man möglichst viele und tendenziell alle Jugendlichen dafür gewinnen konnte. Ein Stuttgarter Pfarrer namens Doelker plädierte ernsthaft für "irgendeine vernünftige Ausfüllung des Abends, die dem jungen Menschen zur Pflicht gemacht wird". Zwar sollte er zwischen verschiedenen Angeboten, die die Jugendpflege für wertvoll hielt, wählen können, aber die Jugendlichen sollten auch "von irgendeiner autoritativen Seite aus gezwungen werden, irgendetwas zu wählen von all dem Vielen, was ihnen gebo-

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ten wird" (Das Junge Deutschland 1926, S. 82). So unrealistisch dieser Gedanke schon aus rechtlichen und praktischen Gründen war, so war der Wunsch nach mehr Freizeitkontrolle der Jugend gerade im Hinblick auf die nicht in Verbänden Organisierten weit verbreitet.

Unter Kontrolle gebracht und zugleich organisiert werden mußte auch die sich immer mehr ausbreitende Wander- und Reiselust vor allem junger Menschen. Neben den Einrichtungen der einzelnen Verbände - es gab wohl keinen Verband, der nicht in irgendeiner Form "sein Heim" hatte - gewann das Jugendherbergswerk eine steigende Bedeutung. Aus den 83 Jugendherbergen vor dem Kriege waren 1920 schon 700 und 1931 2114 geworden. Die Übernachtungsziffern stiegen von 1924 bis 1931 um das Vierfache, nämlich auf 4,322 Millionen (Hammer, S. 63). Nicht nur billige Übernachtungsstätte sollte die Herberge sein, sondern auch geprägt von einem bestimmten, aus den Idealen der Jugendbewegung stammenden Gemeinschaftserlebnis. Dazu gehörten unter anderem die schon aus Kostengründen nötige Mitarbeit der Gäste, gemeinsames Singen, eine zugewandte Offenheit füreinander, politische und weltanschauliche Toleranz, eine relativ hohe Selbstdisziplin und Alkohol- und Nikotinverbot.

Die Jugendherbergen boten sich aber nicht nur für Wanderer an, sondern auch als Tagungsstätten für Freizeiten mit einem bestimmten Programm.

Diesem Zweck dienten auch die nach dem Kriege gegründeten Helmvolkshochschulen. Gewiß gab es auch vorher schon Tagungen, die mit Referaten und Diskussionen ausgefüllt waren und mancherlei Formen der Geselligkeit aufwiesen. Aber nun entdeckte man, daß die Tatsache des wenn auch kurzzeitigen Zusammenlebens pädagogische, das heißt auf Lernen und wechselseitige Erziehung hin angelegte Möglichkeiten enthielt, die - trotz aller Reformpädagogik im institutionalisierten Bildungswesen - mehr oder weniger ausgeklammert blieben. "Freizeitpädagogik" wurde der Begriff für die in diesen "Freizeiten" enthaltenen pädagogischen Gestaltungschancen.

Die Programme solcher Freizeiten waren prinzipiell offen, spiegelten aber faktisch die Probleme wider, die die Zeit aufwarf, und wie sie die hier vor allem in Frage kommenden bürgerlich-kleinbürgerlichen Schichten erlebten. Deren

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Sinn- und Orientierungskrise wurde in mannigfacher Form zum Thema: Das Problem des eigenen Status in den Klassenauseinandersetzungen, die durch den verlorenen Krieg beschädigte nationale Identität, die Verwirrung innerhalb des Wert- und Normenpluralismus, die Notwendigkeit, wichtige Lebensentscheidungen individuell und in persönlicher Verantwortung zu treffen. "Gemeinschaft" wurde da zu einem Leitmotiv auch der pädagogischen Arbeit. Die Volkshochschulbewegung versuchte allgemein, die Klassengegensätze und die sozialen Unterschiede durch eine das ganze Volk umfassende Erwachsenenbildung zu überwinden, die zugleich zu einer neuen nationalen beziehungsweise völkischen Identität führen und die Orientierungskrise lösen sollte. Die "Bildungsgemeinschaft" der Hörer und Mitarbeiter sollte dabei die erwartete "Volksgemeinschaft" vorwegnehmen und aktuell erlebbar machen.

Besonders instruktiv ist in diesem Zusammenhang das Beispiel der sogenannten "Jugendmusikbewegung" (vgl. Kolland; Hodek). Ihre herausragenden Vertreter waren der völkisch-nationalistisch orientierte Walter Hensel - er hieß mit bürgerlichem Namen Dr. Julius Janiczek und hatte diesen eindeutschen lassen, wobei er den Vornamen nach seinem großen Vorbild Walter von der Vogelweide wählte - und der viel gemäßigtere Fritz Jöde. Diese Bewegung wandte sich gegen den perfektionierten bürgerlichen Konzertbetrieb und gegen das diesen tragende musikalische Repertoire (Klassik, Romantik, Moderne), eben weil dieser Musikbetrieb individualistisch und nicht gemeinschaftsstiftend sei und auf hochentwickelter Arbeitsteilung zwischen Musikern und Publikum beruhe. Deshalb müsse man auf die ältere Musik zurückgreifen, die noch im Dienst sozialer Gemeinschaften gestanden habe. So wird die weltliche und geistliche Musik der vorklassischen Epochen wiederentdeckt und das alte Volkslied, dessen Erforschung sich unter anderem Hensel zuwandte, kam wieder zu Ehren. "Volkslied" war nicht, was das Volk damals - in der Weimarer Zeit - sang, sondern das - wie Hensel meinte -, was das Volk nicht mehr kannte. Abgelehnt wurden auch die Instrumente, die unter Laienmusikanten damals beliebt waren wie Mundharmonika, "Schifferklavier", Mandoline oder Zither zugunsten der in der älteren Musik üblichen wie Flöten und Streichinstrumente. Man hoffte, durch die Wiederentdeckung des Volks-

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liedes auch so etwas wie den "Geist" oder die Seele des eigenen Volkes wiederzufinden, was der eigenen Sehnsucht nach Volksgemeinschaft zugute kommen könnte. Die Aktivität des gemeinsamen Singens - die Worte wurden ernstgenommen und die Instrumente hatten dienende Funktion - sollte die Volksgemeinschaft erlebbar machen, der Einzelne - Solisten waren verpönt - sollte seine Stimme mit der der anderen verschmelzen. Um die Barrieren zwischen Sängern und Publikum zu überwinden, wurde die Form des "offenen Singens" erfunden: Das Publikum sang die Lieder, die gegebenenfalls oft kurz mit ihm eingeübt wurden, mit, Chor und Instrumentalisten unterstützten dies mit dafür geeigneten Sätzen. Obwohl die Bewegung sich an der älteren Musik orientierte, hatte sie in ihren Reihen auch zeitgenössische Komponisten, die unter anderem Lieder aus dem Selbstverständnis der Gegenwart schaffen wollten, um die Tradition des Volksliedes gleichsam fortzuschreiben, selbstverständlich im unversöhnlichen Gegensatz zum Jazz, zur modernen Tanzmusik und zum Schlager.

Diese Bewegung - ihre unterschiedlichen Richtungen seien hier nicht weiter thematisiert - hatte eine beachtliche Wirkung auf die Jugendarbeit und auf die Schulmusik. Sie machte zum Beispiel die Blockflöte als Schulinstrument populär, gründete Musikschulen, um Kindern das Erlernen eines Instrumentes ohne teuren Privatlehrer zu ermöglichen - was deren heftigen Widerstand hervorrief - und ihre Volkslieder und Neuschöpfungen bestimmten die Schulmusikbücher mehr oder weniger bis heute. Andererseits konnte die Funktionalisierung der Musik im Interesse des "Gemeinschaftsgeistes" von den Nationalsozialisten für ihre Bedürfnisse mühelos übernommen werden - was nach 1945, als diese Bewegung noch einmal einen gewissen Aufschwung erlangte, Theodor W. Adorno (1956) zu einer scharfen Kritik veranlaßte. In der Tat war nicht nur die soziale Instrumentalisierung der Musik problematisch - nicht weil sie den sozialen Gebrauchswert ernst nahm, sondern wegen ihrer völkisch-gemeinschaftlichen Ideologie -, sondern zumindest gelegentlich auch der soziale Erlebnisgehalt selbst, wie folgende Selbstzeugnisse aus der Weimarer Zeit zeigen:

"Es war uns in manchen Augenblicken gemeinsamen Singens, als seien das gar nicht unsere eigenen Stimmen, die da aus unseren

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Kehlen quollen, als seien wir alle von einer geheimnisvollen Macht durchströmt, als erwüchse uns aus unserer Gemeinschaft eine Kraft, die uns emportrüge über die Grenzen unseres engen Einzeldaseins ins Reich des Ewigen, des Schöpferischen, aus dem alles schaffende Leben und alle Kunst entspringt" (Zit. n. Kolland, S.34).

"Eine Stunde wurde mir das tiefste Erlebnis, und nicht nur mir, sondern allen, das war das Singen im Rempter der Marienburg, wo wir im Innersten erschauernd fühlten, wie der Geist über den Stoff, der Gesamtsinn über den Einzelnen hinauswuchs, uns umfaßte und einte, wie wir durch die Arbeit am Lied uns verstehen gelernt hatten, eine Gemeinschaft geworden waren" (S. 32).

Und die Wirkung der Persönlichkeit von Hensel wird so charakterisiert:

"Wir reichen uns die Hände und schließen den Kreis. Da tritt einer vor; jetzt sieht man es ihm an; s'ist einer, der sich ganz in der Hand hat. Tiefer Ernst liegt auf allen Gesichtern. Er krampft beide Hände zu einer gefesselten Faust, seine Haltung ist verkörperter Zwang, die Muskeln sind straff gespannt. So sah ich ihn noch nie. Markige Worte von des Volkes Not. Ein vielfacher Widerhall im Wald, unten im Tal, im Herzen. Seine Stimme wird lauter, bebt ein Schrei: 'Frei!' - mich durchzuckt es, kalt rieselt's den Rücken hinab, in der Brust, in der Kehle würgt es nach oben, ich fühle Kraft in mir, will mich losreißen - da fühle ich die Hände meiner Freunde in den meinen, ich werde ruhiger, in meinen Augen wird es feucht - er spricht weiter. Seine Stimme ist wieder fester geworden, Zuversicht klingt aus seinen Worten und aus allen Augen leuchtet diese Zuversicht, der Wille - 'es muß der Tag kommen!'. Er steigt empor dieser Wille, als etwas Unsichtbares, Unsagbares, wie ein Gebet, wird zu Geist" (zit. n. Hodek, S. 34).

Da ging es bei den Freizeiten von Fritz Klatt (1888-1945) gelassener zu. Klatt hat die neuen pädagogischen Möglichkeiten der Freizeiten in einer "Freizeitpädagogik" zu formulieren versucht.

Er führte mit seinen Mitarbeitern seit 1921 in dem von ihm gegründeten Freizeitheim Prerow an der Ostsee Ferienkurse vor allem für junge Berufstätige durch. Aus dieser Arbeit entstanden das Buch "Freizeitgestaltung" (1929), das auch Beiträge seiner Mitarbeiter und Freunde enthält, sowie einige weitere Aufsätze.

Klatt geht aus von der schon erwähnten Kritik des Arbeitslebens. Die Gesetze der Arbeit: Tempo, Hast, Erfolg, ratio-

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nelle Organisation der Zeit, individuelle Isolierung am Arbeitsplatz, drohten das ganze Leben zu beherrschen, auch die Freizeit. Deshalb müsse man bewußt lernen, in der Freizeit zumindest teilweise sich anders zu verhalten. Gerade die Kräfte und Bedürfnisse, die während der Arbeit unterdrückt werden, müssen in der Freizeit zur Auswirkung kommen können. Dazu ist eine rationelle Gestaltung aller Zeitteile des Tages nötig, auch der verschiedenen kleinen Pausen, damit sie "schöpferisch" sein können. Ziel ist also die bewußte Wahrnehmung und Gestaltung der gesamten arbeitsfreien Zeit.

Diese Fähigkeiten sollen in den "Freizeiten" in Prerow geübt werden. Der Tagesverlauf wird entsprechend geordnet:

"Früh morgens finden sich alle Bewohner des Heimes draußen am Strand oder auf unserer Waldwiese im kühlen Gelände zu der morgendlichen Gymnastik zusammen. Die Gymnastiklehrerin des Heimes hat dabei die Leitung. Nach kurzem Bad im Meer findet bei warmen Wetter draußen, sonst im Heim, manchmal (nicht immer) eine kurze Morgenfeier von wenigen Minuten statt, die versucht, den Tag geistig und seelisch zu stimmen und einzuleiten, so wie es die Körperübung vorher körperlich tat. Ein paar gesprochene Worte, eine kurze Vorlesung oder gesangliche oder musikalische Darbietungen sind hier das Mittel. Der Vormittag der Freizeit ist möglichst entlastet, um der übermäßigstarken Belastung des Vormittags, wie er in der Berufsarbeit fast überall üblich ist, entgegen zu wirken, außer körperlichem Spiel und Sport, Wandern und Segeln wird möglicherweise Musik oder Zeichnen am Vormittag getrieben, mit dem Ziel, die freien gestaltenden Kräfte des Einzelnen zu wecken und zu üben. Am Vormittag können sich die Einzelnen ihrer Lieblingsbeschäftigung hingeben. Auch ist hier für einige die Möglichkeit gegeben, sich in Küche, Haus oder Garten unter sachkundiger Leitung zu betätigen. Die meisten freilich werden den Vormittag wahrnehmen zu Wanderungen und Baden am Strand.

Nach dem Mittagessen hat sich eine kurze Zeit der Mittagsruhe als besonders wirksam erwiesen, und erst danach am späten Nachmittag findet die zwei bis zweieinhalbstündige geistige Arbeitsgemeinschaft statt, die die geistigen Kräfte der ganzen Gruppe aufs intensivste anspannt. Diese Tageszeit ist deswegen am günstigsten, weil sie im gewöhnlichen Berufsleben am wenigsten belastet ist und somit eine geistige Belastung in der Freizeit am ersten verträgt, ohne die Einzelnen zu ermüden. Vorbedingung ist freilich die Einhaltung der kurzen Ruhezeit davor" (S. 11).

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Das Konzept ist nicht nur kompensatorisch gemeint, als Gegengewicht gegen die einseitigen Arbeitsbelastungen. Wohl sollen die Teilnehmer künstlerische, körperliche und geistige Fähigkeiten entwickeln, die sonst brach liegen würden, und dies in einem "Klima" der Ruhe und Entspannung und ohne Erfolgszwang. Aber Klatt kritisiert die Normen des Arbeitslebens nicht, er nimmt sie als gegeben hin, will nur ihr Übergreifen auf den Freizeitbereich verhindern.

Der Beruf ist sogar das didaktische Zentrum der geistigen Arbeit. Von ihm, das heißt von dem ihm unterstellten geistigen Typus aus, muß der Wille zur Erkenntnis des Menschen und seiner Umwelt ausgehen. Klatt erklärt das am Beispiel des Interesses für psychologische Fragen:

"Der junge Lehrer ... will den Nachwuchs leiten. Er braucht also Psychologie der Lebensalter, Periodenlehre. Er hat das Bedürfnis nach einem grundlegend psychologischen Wissen von den Wandlungen, während der junge Kaufmann gerade die psychologisch gleichbleibende Struktur der verschiedenen menschlichen Typen erkennen lernen will. Und der junge Arbeiter schließlich will zunächst nur wissen, wie der Mensch seelisch funktioniert" (S. 9).

Es kann also nicht um wissenschaftliche Vorträge gehen, nötig ist vielmehr "eine systematische Umwertung des vorhandenen Kulturgutes in Bezug auf die möglichen Ansatzflächen für die verschiedenen Berufsgruppen" (S. 8). Klatt hofft, daß auf diese Weise Erfahrungen entstehen, die auch im Alltag dazu führen, vom Berufsinteresse und seinen fachlichen Gesichtspunkten aus die Freizeit zu gestalten.

Voraussetzung dafür ist allerdings, daß man auch den Beruf ausübt, der den Neigungen und Fähigkeiten einigermaßen entspricht. Ist dies nicht der Fall, dann werden die jungen Menschen auch ermutigt, "zunächst alle verfügbare 'freie Zeit' daran (zu) setzen, um sich für eine höhere Stufe ihres Berufs, vielleicht auch für einen anderen Beruf, in dem sie geeigneter wären, vorzubereiten" (S. 14). "Der Aufstieg der begabten Jugend in allen Berufsständen" (S. 14) ist ausdrücklich Ziel der Freizeitpädagogik. Dies zeigt noch einmal, daß es Klatt nicht um vordergründige Kompensation geht, sondern darum, "zum Herrn über seine eigene Zeit" (S. 13) zu werden.

Auf lange Sicht schwebte Klatt ein System von "Freizeit-Hochschulen" vor, die jungen Berufstätigen vom 16. bis 35.

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Lebensjahr eine systematische "Freizeitschulung" anbieten sollten.

Bei einer kritischen Würdigung dieses - ohnehin fragmentarischen - Konzeptes muß man wohl unterscheiden zwischen den auch für die Zukunft wichtigen Entdeckungen und zeitbedingten Irrtümern.

Klatt und seine anderen Kollegen aus den Heimvolkshochschulen entdeckten, daß das zeitlich begrenzte, freiwillige Zusammensein von Menschen an einem bestimmten Ort eigentümliche pädagogische Chancen etwa der Geselligkeit oder des freien, nicht unter Erfolgszwang stehenden geistigen Austausches enthält, das die im institutionalisierten Bildungswesen heimischen Bildungsformen fruchtbar ergänzen kann. Erst in den fünfziger und sechziger Jahren konnten diese Möglichkeiten zum Beispiel im Rahmen der "Jugendbildungsstätten" wieder aufgegriffen und erweitert werden (vgl. Schepp 1963; Giesecke 1966; Lüers 1971), bis sie dann durch Prozesse der Professionalisierung und Verrechtlichung und durch die damit verbundene Einführung schulischer Maßstäbe weitgehend wieder verschwanden (vgl. Giesecke 1980, S. 66 ff.).

Damals also konnten sich diese Vorstellungen angesichts der Massenarbeitslosigkeit und der NS-Herrschaft nicht weiter entfalten. Sonst wäre Klatt vielleicht aufgefallen, daß auch "Planung" und "Gestaltung" Kategorien der rationellen Arbeitsorganisation sind, aber kaum solche der Muße. Klatt erlag hier der damals verbreiteten Faszination des technisch "Machbaren"; denn die Vorstellung, man könne "Herr seiner Zeit" werden, indem man alle arbeitsfreie Zeitteile planmäßig erfaßt und organisiert, beeinflußt gewiß auch Inhalt und Qualität der Freizeittätigkeiten.

Nicht minder problematisch ist die Hoffnung, man könne den Beruf zum Zentrum der Bildungsarbeit machen. Dahinter steckt unverkennbar eine ständisch-handwerkliche Vorstellung von der Gliederung der Arbeitswelt. Gewiß prägt die Eigenart der Berufsarbeit das Denken und Vorstellungsvermögen, aber eher im Hinblick darauf, ob und inwieweit überhaupt geistige Interessen und Fähigkeiten entwickelt werden. Kaum jedoch bilden die Berufe oder Berufsgruppen einen faßbaren geistigen "Typus" aus, der Zentrum für darüber hinausgehende kulturelle Interessen und Bedürfnisse sein könnte. Das war schon Kerschensteiners Irrtum, als er

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den Beruf zum Zentrum der staatsbürgerlichen Erziehung machen wollte. Je mehr aber sich die Prinzipien der rationellen Arbeitsorganisation in Industrie und Verwaltung durchsetzen, um so weniger geistige Arbeit wird verlangt, das gilt selbst für hochqualifiziertes Spezialistentum. Geistig-kulturelle Interessen können sich immer weniger und für immer weniger Menschen aus dem Beruf heraus entwickeln, sie können nur neben dem Beruf und unabhängig von ihm eben in der freien Zeit gepflegt werden.

Versucht man ein erstes Resümee der Erfahrungen, die die Menschen in den "Freizeiten" machen konnten, so läßt sich zusammenfassend folgendes sagen:

1. Die Freiwilligkeit der Teilnahme und die im Vergleich zur reglementierten Arbeitssituation "offene" Kommunikationsstruktur ließen eine pädagogische Experimentiersituation mit einem relativ großen Gestaltungsspielraum entstehen.

2. Die Gestaltungsfreiheit betraf nicht nur das Programm (Thema, Inhalt), sondern auch den Wechsel der Tätigkeiten (Arbeiten, Beten, Spielen, Geselligkeit usw.), die Zeiteinteilung (individuelle Zeit, gemeinsame Zeit), die soziale Struktur (Plenum, Kleingruppen) und die ästhetische Gestaltung des Zusammenlebens (Gestaltung der Räumlichkeiten, Tischsitten, Regelungen für Rauchen und Alkoholgenuß usw.). Es war also möglich, in dieser Zeit eine besondere Form des Lebens zu führen, die im Alltag so nicht möglich war.

3. Dies konnte zu einem nachhaltigen Erlebnis werden, zumal wenn man bedenkt, daß es für die meisten Menschen damals schon ein Erlebnis war, überhaupt einmal die alltägliche Umgebung zu verlassen und sich mit anderen (fremden) Menschen zu treffen.

4. Inwieweit und in welcher Form die Gestaltungsfreiheit genutzt wurde, hing unter anderem von den Intentionen der Anbieter ab. Einerseits bedurften die Einrichtungen der Zustimmung ihrer Gäste, weil sie sie schließlich finanzieren mußten. Andererseits hatten die Anbieter - wie Klatt - Konzeptionen und Ziele, die sie realisieren wollten. Deshalb mußten von den Teilnehmern gewisse Regelungen akzeptiert werden. Es hat den Anschein, daß damals, zumindest bei den Teilnehmern aus den Mittelschichten, das Bedürfnis nach Bindung und Unterordnung, nach Einfügung in eine

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Gemeinschaft überwog. Das Problem war hier nicht, welche Freizeittätigkeiten man ausüben sollte, sondern wie man mit der kulturellen Offenheit, die das Freizeitsystem zugleich ermöglichte und erzwang, produktiv umgehen konnte. Diese Verunsicherung war in der Arbeiterschaft weit weniger verbreitet. Ihr Problem war nicht die Freizeit bzw. deren Gestaltung, sondern die Arbeit und ihre Bedingungen einschließlich des Lohnes. Pointiert formuliert: Die zunehmende Freizeit im Sinne zunehmender immaterieller (ideeller, weltanschaulicher) Wahlmöglichkeiten war in erster Linie ein Problem der mittleren Schichten, die sich in den - kirchlichen oder weltanschaulich ungebundenen - "Freizeiten" einfanden. Der Wunsch nach "Lebenshilfe", wie er in den pädagogisch gestalteten Freizeiten deutlich wurde, also nach neuen Lebensperspektiven, nach Sinn- und Wertklärungen, erwuchs nicht zuletzt aus der Erfahrung einer freien Zeit, deren "Freiheit", das heißt deren Optionen zumindest ambivalent erlebt wurden, nämlich als persönliche Chance wie auch als Identitätsbedrohung.

Anders bei der Industriearbeiterschaft, die in dieser "Freizeitpädagogik" kaum vorkam. Sie erlebte die zunehmende Freizeit eher als positiv und auch im Hinblick auf die vorhandenen kommerziellen und nichtkommerziellen Freizeitangebote als unproblematisch, ja, "geregelte" und kalkulierbare Freizeit wurde als wertvoll erachtet, weshalb zum Beispiel viele Dienstmädchen lieber als ungelernte Arbeiterinnen in die Fabrik gingen und dies als einen sozialen Aufstieg erlebten.

Während also um 1890 ein in seiner kulturellen Identität noch weitgehend selbstsicheres Bürgertum die Freizeit der Arbeiter als Problem definierte, deren sinnvolle Gestaltung gelernt werden müsse, finden wir um 1930 in den pädagogischen "Freizeiten" ein bürgerlich-kleinbürgerliches Publikum - die Dozenten eingeschlossen -, dem das Freizeitsystem nicht mit seinen Tätigkeitsoptionen, sondern mit seinen Sinnoptionen Schwierigkeiten macht. Freizeit als Zeit relativer Freiheit wird hier als Problem erlebt.

5. Wenn das zutrifft, dann läßt sich für die pädagogischen Chancen einer "Freizeit" folgendes sagen: Ihr Angebot wird offensichtlich dann gewünscht und akzeptiert, wenn im Freizeitalltag einschließlich seines kommerziellen Umfeldes grundlegende Bedürfnisse zum Beispiel nach Geselligkeit

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oder Sinnorientierung nicht befriedigt werden können. Freizeitpädagogik als "Freizeitenpädagogik" hätte also gegenüber dem Alltag eine kompensatorische Funktion, und wer seinen Freizeitalltag als zufriedenstellend und problemlos empfindet, der wird auch für freizeitpädagogische Angebote schwerlich erreichbar sein.

Am Ende der Weimarer Zeit deutet sich an, daß für die Industriearbeiterschaft die Freizeit eine Emanzipation in dreifacher Hinsicht bringen sollte:

1. Die Emanzipation von der Totalität der Berufsrolle. Freizeit, die nicht mehr nur der Reproduktion der Arbeitskraft dienen mußte, ermöglichte prinzipiell Tätigkeiten und die Befriedigung solcher Bedürfnisse und Interessen, die nicht durch den Beruf determiniert sind. Daran gemessen war Klatts Konzept, den Beruf zum "geistigen Zentrum" der Freizeitpädagogik zu machen, gegen-emanzipatorisch.

2. Die Emanzipation vom Existenzminimum. Die tatsächliche Möglichkeit, Interessen und Bedürfnisse in der Freizeit zu verfolgen, hängt unter anderem davon ab, ob auch eine frei disponible Geldsumme dafür zur Verfügung steht. Das war in der Weimarer Zeit nur im ganz geringen Umfange der Fall und sollte erst nach dem Zweiten Weltkrieg von Bedeutung werden. Folgerichtig waren damals die massenwirksamen Freizeittätigkeiten relativ billig.

3. Die Emanzipation vom Milieu als lebenslangem sozialen Schicksal. Freizeit wurde zur Voraussetzung dafür, daß die weltanschauliche Pluralität den einzelnen Arbeiter tatsächlich erreichen konnte. Insofern ergab sich für ihn ein entsprechender Entscheidungsspielraum. Bis zum Ende der Weimarer Zeit lassen sich vor allem zwei weltanschaulich bedingte Milieus unterscheiden: das katholische und das sozialistische. Die Bindekraft dieser Milieus begann aber abzunehmen, paradoxerweise in dem Augenblick, wo man mehr freie Zeit bekam, um sich darin zu betätigen. Vielleicht liegt dies unter anderem daran, daß diese Milieus in Zeiten des Mangels an Geld und Zeit entstanden waren und nun gerade deswegen als Begrenzung der eigenen Möglichkeiten empfunden wurden. Dazu kommen die schon erwähnten weltanschaulich ungebundenen Tätigkeiten wie Kinogang und Rundfunkhören, aber auch der normale Sport in bürgerlichen Vereinen. Hier boten sich - wie zögernd immer -

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Alternativen an, die nicht nur solche einer vordergründigen Freizeittätigkeit waren, sondern auch solche einer sinnbestimmenden Lebensrichtung werden konnten. In diesen Zusammenhang gehört auch das starke Aufstiegsstreben eines Teils der jungen Arbeiterschaft. So gingen im Jahr 1910 in Preußen nur 1,9 Prozent der Volksschüler auf die höhere Schule über, im Jahre 1929 waren es schon 17 Prozent.

Allerdings hatte diese Emanzipation, die ein Stück persönlicher Freiheit brachte, auch ihre Kehrseite: Sie lockerte die sozialen Zugehörigkeiten und damit die soziale Integration. Auch diese Tendenz der Freizeit, daß sie nämlich die soziale Desintegration fördert, zumindest im Hinblick auf die traditionellen kulturellen Bindungen, kam erst nach dem Zweiten Weltkrieg voll zum Durchbruch. Die Verunsicherungen, die solche kulturellen und sozialen Desintegrationen in der Freizeit mit sich brachten, sind bedeutsam für die nationalsozialistische Freizeitpolitik und vor allem für die Zustimmung, die diese bei einem großen Teil der Bevölkerung fand.

Freizeitpolitik im Nationalsozialismus

Bevor die Freizeitbewegung in Deutschland ihren Höhepunkt erreichen konnte, änderten sich die politischen Rahmenbedingungen durch die nationalsozialistische Machtübernahme. Die Nationalsozialisten hatten all dem, was die Freizeit an neuer Freiheit zu versprechen schien, den Kampf angesagt: der Entfaltung individueller Autonomie und der gesellschaftlichen und normativen Pluralität und Liberalität. Die sportlichen und kulturellen Organisationen der Arbeiterbewegung wurden ebenso aufgelöst wie die politischen Parteien und Verbände einschließlich der Gewerkschaften. An die Stelle der Gewerkschaften trat die "Deutsche Arbeits-Front" (DAF), die auch das Vermögen der Gewerkschaften "übernahm". Sie sah ihre Hauptaufgabe darin, den Klassenkampf zu überwinden und statt dessen die "Volksgemeinschaft" aller Arbeitenden zu realisieren. Schon im November 1933 wurde innerhalb der DAF die "NS-Gemeinschaft Kraft durch Freude" gegründet; ihr "Sinn" "ist die Feierabend- und Freizeitgestaltung als kulturelle Funktion der Sozialpolitik" (Dressler-Andress 1936, S. 5), für die sich die DAF im Ganzen zuständig fühlte.

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Ideologische Grundlage dieser Sozial- und Freizeitpolitik war eine Aufwertung beziehungsweise Umwertung der Arbeit - nicht im materiellen Sinne (Lohnkämpfe), sondern im immateriellen Sinne. Horst Dressler-Andress, Reichsleiter von "Kraft durch Freude" bis 1938, erklärte das so:

"Der Arbeit wieder ihren ursprünglichen Sinn zurückzugeben, ist das Ziel nationalsozialistischer Sozialpolitik. Nicht die äußerlichen Formen der Arbeit und ihre ökonomische Auswertung bezeichnen ihren Wert, sondern vor allem der durch sie in Erscheinung tretende geistige und seelische Wert der Menschen. Wir müssen die durch Generationen entstandenen Vorurteile gegenüber der Arbeit überwinden. Arbeit als notwendiges Übel oder als Sklaverei empfinden, heißt den Arbeitenden zum Sklaven erklären. Je niedriger die Arbeit eingeschätzt wird, um so tiefer sinkt der Mensch, der diese Arbeit leistet. Dort, wo man versucht, das Leben nur nach materialistischen Grundsätzen zu ordnen, muß natürlich das Irrationale aufhören und jedes Ideal verdrängt werden. Wenn es kein höheres Gebot, wenn es keine Ethik, wenn es keine Pflicht und keine Ehre mehr als zwingendes Gesetz des Lebens gibt, dann kann es auch niemals eine gerechte Ordnung innerhalb des gesellschaftlichen Lebens eines Volkes geben. Ordnung kann nur Gesetz sein, wenn sie auf einem allen gemeinsamen Lebensinhalt gegründet ist, und der Lebensinhalt der menschlichen Gesellschaft ist die Arbeit, in welchen Formen sie auch immer in Erscheinung treten mag. Arbeit und Leistung sind der von der Natur und der Ewigkeit her bestimmte Sinn menschlichen Lebens" (1936, S. 2 f.).

Nicht Lohnfragen waren also wichtig, sondern Anerkennung der Arbeit als ein Dienst an der Volksgemeinschaft und eine entsprechende Würdigung des arbeitenden Menschen, also die soziale Dimension der Arbeit. Dies einfach als Ideologie im Interesse der Unternehmer abzutun, wäre historisch wie auch systematisch zu einfach.

Historisch gesehen war nämlich die Technisierung und Rationalisierung der modernen Arbeit nicht mehr aufzuhalten, wie Dressler-Andress deutlich sah. Was in der Weimarer Zeit unter dem Stichwort des "Kampfes um die Arbeitsfreude" diskutiert wurde, und was die "Freizeitbewegung" mit ausgelöst hatte, wurde nun durch die "soziale Umwertung" der Arbeit zu lösen versucht. Ganz offensichtlich hat dies - wenn auch bei den Arbeitern nur zögernd - Eindruck gemacht, zumal nach den Jahren der demoralisierenden Massenarbeitslosigkeit am Ende der Weimarer Republik.

Systematisch gesehen, das heißt auf das dahinter stehende

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Problem bezogen, ist vom Anfang der Industrialisierung an die Frage offen geblieben, welchen "Sinn" für das menschliche Leben die Arbeit haben könnte, wenn die Tätigkeit selbst ihn - im Unterschied zur handwerklichen Arbeit - nicht mehr hergeben kann. Und der Versuch, den Sinn von der sozialen Dimension her zu bestimmen, war im Grunde keine Erfindung der Nationalsozialisten, sondern auch eine Intention der katholischen Soziallehre, deren Vorstellungen sich allerdings in der gesellschaftlichen Realität nicht durchsetzen konnten.

Die Frage war aber, wie nach 1933 die "Umwertung" konkretisiert werden würde.

Das "Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit" vom 20. Januar 1934 - eines der infolge des "Ermächtigungsgesetzes" erlassenen Gesetze - führte das "Führer-Prinzip" in den mittleren und größeren Betrieben ein. Statt von Arbeitgebern und Arbeitnehmern - diese Bezeichnungen galten als Ausdruck des Klassenkampfes - war nun von Betriebs-"Führern" und der Betriebs- "Gefolgschaft" die Rede. Der Betriebsführer hatte nun eine ausdrückliche "Fürsorgepflicht" für die "Gefolgschaft". Das bedeutete unter anderem, "daß er jeden, der in seinem Betriebe tätig ist, so betreut, daß dieser als unersetzliches Mitglied der Volksgemeinschaft in seiner Persönlichkeit und seiner Schaffenskraft erhalten bleibt und gestärkt wird" (Bericht ... 1937, S. 206). Zu dieser Fürsorgepflicht gehörte einerseits die Gestaltung des Arbeitsplatzes, andererseits die Gewährung eines angemessenen Urlaubs. Die Urlaubsdauer wurde entweder in Einzelverträgen geregelt oder für die gesamte Belegschaft im Rahmen einer "Betriebsordnung", die der "Betriebsführer" als rechtsverbindliche Arbeitsordnung zu erlassen hatte. Im Vergleich zur Weimarer Zeit kann das Ergebnis durchaus als Fortschritt bezeichnet werden.

"Spätestens ab 1937 waren die Urlaubsregelungen weitgehend vereinheitlicht, und die überwiegende Mehrheit der Lohnempfänger hatte nun Anspruch auf eine 6-12 tägige bezahlte Jahresfreizeit. Das internationale Arbeitsamt in Genf stellte bereits 1936 fest, daß Deutschland die einzige wichtige Industrienation war, die den Genfer Empfehlungen zur Urlaubsgestaltung entsprach" (Spode, S.290).

Erstmals erhielten auch Heimarbeiter und unständig

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Beschäftigte Urlaub, Jugendliche meist für 18 Tage. Da allerdings die Urlaubsgewährung aus der "Fürsorgepflicht" des Unternehmers abgeleitet wurde, entsprach es der "Treuepflicht" des "Gefolgschaftsmitgliedes", diesen Urlaub auch "sinnvoll" und "zweckmäßig", also zur Rekreation der Arbeitskraft zu verwenden. Diese im Prinzip bis heute gültige Rechtsauffassung machte also für die Urlaubsgestaltung prinzipielle Auflagen, praktisch war damit aber vor allem das Verbot einer Arbeitstätigkeit während des Urlaubs gemeint.

Seitens der DAF war für die Gestaltung des Arbeitsplatzes zuständig das "Amt für Schönheit der Arbeit". Getreu der Devise, daß der Sinn der Arbeit vor allem in ihrer sozialen Dimension liegen könne und müsse, sollte dieses Amt dafür sorgen, "daß die Arbeitsräume nicht mehr nach rein materiellen Gesichtspunkten ohne Rücksicht auf das Wohl der Arbeiter geschaffen werden. Dort, wo die Arbeitsräume von der Vergangenheit her der Würde der im Betriebe Arbeitenden nicht entsprechen, wird für zweckentsprechende Abhilfe Sorge getragen; denn die Arbeitsräume sollen auch äußerlich den Wert der dort geleisteten Arbeit repräsentieren" (Dressler-Andress 1936, S. 11). Im einzelnen ging es dabei um die Schaffung gesunder und sicherer Arbeits-, Eß-, Aufenthalts-, Wasch- und Toilettenräume, um eine gute Beleuchtung am Arbeitsplatz um Verschönerung der Fassaden usw.

Eine erheblich größere Popularität aber gewann das "Amt für Reisen, Wandern und Urlaub", das den Arbeiter-Massentourismus ins Leben rief. Vor 1933 gab es zwar bürgerliche Reiseformen wie die Badereise, die "Sommerfrische", und in den zwanziger Jahren auch schon die "Pauschalreise". Dabei war die "Sommerfrische" eine typisch deutsche Form der Ferienreise.

"Diesen Sommerfrischlern der Vorkriegs- und Nachkriegszeit war eine weitgehend gleiche Verhaltensweise eigen: Anhänglichkeit an den einmal gewählten Erholungsort, Familienanschluß mit echter Sozialbeziehung zwischen Städter und den Landleuten, familienähnliche Beziehung zwischen den Wirtsleuten und den Sommerfrischlern im Gasthaus; kaum vorhandenes Verdienststreben oder konkurrenzenges Denken der Gastgeber; zuvorkommend-dienendes Verhalten des Gastgebers gegenüber dem als überlegen angesehenen vornehmen Städter; im Tagesablauf viele Ausflüge; je nach

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finanzieller Möglichkeit war man bestrebt, ein Sommerhaus zu erwerben" (G. Stadler, zit. n. Prahl/Steinecke, S. 159).

Aber diese Urlaubsformen waren für Arbeiter zu teuer. Zudem ließen sich viele ihren Urlaub "auszahlen" und blieben zu Hause. Die deutschen Gewerkschaften machten nur zögernd Reiseangebote. Für 1933 offerierte der ADGB seinen 4 Millionen Mitgliedern ganze zwölf Sonderfahrten (Spode, S. 287). Aber auch diese Angebote waren durchweg zu teuer. "Mit einem Kostenaufwand von 350 Reichsmark für den einzelnen Teilnehmer sollten fünf dieser Reisen ins Ausland führen. Einige Fahrten in die mitteldeutschen Gebirge von dreitägiger Dauer und an die deutsche Nord- und Ostsee wurden mit hundertacht Reichsmark für den einzelnen Teilnehmer veranschlagt" (Dressler-Andress 1936, S. 6). Demgegenüber konnte KdF schon 1934 eine siebentägige Reise für 35 Reichsmark anbieten. Derartige "Billigpreise" kamen nicht durch Zuschüsse zustande, sondern durch wirtschaftliche Kalkulation. Voll ausgelastete Sonderzüge mit erheblichen Preisnachlässen durch die Reichsbahn, die Erschließung bis dahin vom Tourismus unberührter Gebiete (zum Beispiel Eifel), die Ausnutzung brachliegender Transportkapazitäten zum Beispiel in der Schiffahrt sowie ein Preisdiktat gegenüber den Beherbergern waren die wichtigsten Faktoren der Niedrigkosten.

Der äußere Erfolg war beeindruckend. Praktisch aus dem Stand schickte KdF 1934 über 2 Millionen Arbeiter auf Reisen; 1935 waren es schon über 5 Millionen. Im Jahre 1934 unternahmen 80 000, 1935 137 000 Arbeiter eine Seereise. Im Ausland besonderes Aufsehen erregten Fahrten nach Lissabon, Madeira und den Azoren. Jedoch gingen die Urlauber im allgemeinen nicht an Land. Mit der italienischen Freizeitorganisation "Dopolavoro" wurde 1937 ein Abkommen über den Austausch von Urlaubern getroffen. Daraufhin fuhren in den nächsten beiden Jahren 145 000 Deutsche - meist per Schiff - nach Italien (Spode, S. 298). In den ersten beiden Jahren soll ein Drittel der Urlauber ein monatliches Einkommen unter 100 Reichsmark, ein weiteres Drittel zwischen 100 und 150 Reichsmark gehabt haben (DresslerAndress 1936, S. 9).

Die soziale Zusammensetzung der Reisegruppen war insofern ein Problem, als einerseits die KdF-Reisen nur denen

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zugute kommen sollten, die sich sonst eine Reise - im üblichen Tourismus - nicht leisten konnten. Andererseits sollten die Reisegruppen aber auch die Volksgemeinschaft widerspiegeln. In der Praxis löste sich dieses Problem auf die Dauer dadurch, daß die KdF-Reisen eher dem Mittelstand zugute kamen. Berechnungen haben ergeben, daß bestenfalls jeder dritte KdF-Reisende Arbeiter war, und selbst in den besten Jahren konnten höchstens zwei bis drei Prozent der Arbeiter eine KdF-Reise machen (Spode, S. 305).

KdF wurde zwar zum größten Reiseveranstalter, hatte aber ein Monopol nur für Billigreisen. Am gesamten Fremdenverkehr machten die KdF-Übernachtungen nur 10 Prozent aus (Spode, S. 300). Zudem meldeten die etablierten Bäder und Kurorte bald Widerstand gegen den KdF-Tourismus in ihren Mauern an, weil das zahlungskräftige Publikum in andere Orte auswich. "1939 waren die deutschen Bäder und Kurorte wieder 'KdF-frei'" (Spode, S. 304), wobei das wirtschaftliche Argument benutzt werden konnte, daß der Billig-Tourismus den touristisch nicht erschlossenen und relativ armen Gebieten zugute kommen sollte. Es ist schwer zu sagen, wie ohne den Ausbruch des Krieges sich der KdF-Tourismus weiterentwickelt hätte. Weitere Pläne waren zum Beispiel Reisen für die ganze Familie und ein KdF-Bad auf Rügen mit 20 000 Betten. Aber die touristische Mobilisierung der Arbeiter scheint damals schon an ihre ökonomische Grenze gelangt zu sein; ohne höhere Löhne war der finanzielle Spielraum für viele Arbeiter zu gering, obwohl die Reisekosten in kleinen Beträgen auf einer "Reisesparkarte" das ganze Jahr über angespart werden konnten, 1936 hatten "etwa 58 Prozent des Deutschen Volkes ein Einkommen bis zu 150 Reichsmark im Monat" (Dressler-Andress 1936, S. 13). Aber aus den "materiellen Fragen des täglichen Arbeitslebens" hatte sich die DAF herauszuhalten.

"Mit der Gründung einer Freizeitorganisation hatte sich die DAF nun ein Betätigungsfeld geschaffen, das dieses Dilemma zu lösen versprach. Hier konnte sie sich um Loyalität, Vertrauen und Leistungsfähigkeit des Arbeiters bemühen, ohne in die materiellen Fragen einzugreifen und gleichzeitig die bestehenden Freizeiteinrichtungen - ein schwer kontrollierbares Widerstandspotential - unter Kuratel stellen" (Spode, S. 292).

Die KdF-Reisen waren nämlich das spektakulärste, aber kei-

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neswegs das einzige Tätigkeitsfeld der neuen Freizeitgestalter. Neben der Organisation von Wanderungen, vor allem im Rahmen der "Betriebsgemeinschaften", wurden Breitensport angeboten sowie eine Fülle kultureller Veranstaltungen, im Jahre 1935 zum Beispiel 3000 Konzerte, 10000 Theateraufführungen, 1500 Opernabende und 10000 Filmvorführungen (Dressler-Andress 1936, S. 14). KdF bekam eine Art von "Geselligkeitsmonopol" und hatte 1939 130 000 Mitarbeiter, davon 5000 hauptamtliche.

Zweifellos steckte zumindest in den ersten Jahren in den Aktivitäten von KdF viel sozialpolitischer Enthusiasmus, subjektiv ehrliches Engagement und sogar Euphorie. Aber die engere politische Führung des Regimes hatte nichts weniger im Sinn, als den Arbeitern ein angenehmes Leben zu verschaffen. Diese Art von Sozialpolitik war so lange nützlich, wie sie sozial integrierend wirkte und propagandistisch ausgenutzt werden konnte. Man kann sich die wirklichen Machtträger, die Hitler, Himmler, Heydrich, Bormann mit ihren rassistischen Wahnvorstellungen und archaisch-militanten Denkweisen schlecht als Anhänger einer "Freizeitkultur" vorstellen, die mehr sein sollte als die Erholung von Kämpfern. Außerdem muß man die "Erfolge" von KdF auch in ihren Grenzen sehen: Gemessen an dem, was die Freizeitbewegung der zwanziger Jahre - insbesondere auch innerhalb der Arbeiterbewegung - hervorbrachte, war der quantitative Erfolg von KdF - von den Reisen abgesehen - bescheiden, qualitativ dagegen führte die "Gleichschaltung" und die Zerschlagung der kulturellen Organisationen der Arbeiterbewegung zu einer kulturellen Verarmung, - sieht man einmal von den Versuchen ab, Arbeitern die Konzertsäle und Theater nicht nur finanziell, sondern auch psychologisch zugänglich zu machen. Ein Novum waren allerdings die Reisen für Arbeiter, und man darf wohl davon ausgehen, daß bei vielen von ihnen, die ihr Wohnmilieu kaum je hatten überschreiten können, tiefe Eindrücke zurückblieben.

"Freizeitgestaltung" war selbstverständlich auch Freizeitkontrolle. Sie fand weniger durch die Angebote von KdF statt. Die Teilnahme war hier freiwillig und am Urlaubsort konnte man, wenn man wollte, auch allein sein. Kontrolle fand statt durch die Selektion der Angebote. Sogenannte "zersetzende" Kulturgüter oder Arbeiten von jüdischen

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oder sonstwie mißliebigen Autoren - und das waren oft die qualitativ besten! - wurden nicht mehr zugänglich gemacht: Ihre Bücher wurden verboten, aus den Bibliotheken entfernt, das Propagandaministerium unter Leitung von Goebbels kontrollierte die Massenmedien Film und Rundfunk und benutzte sie planmäßig zur Meinungs- und Geschmacksbildung. In künstlerischen Fragen begann die Diktatur des "gesunden Volksempfindens". Eine heute unvorstellbare Verarmung des kulturellen Angebotes war die Folge.

Aber diese Art von Freizeitkontrolle wurde nur von wenigen registriert. Im übrigen war der Freizeitalltag nicht in dem Sinne kontrolliert, daß positive Verhaltensvorschriften erfolgt wären, lediglich die Möglichkeiten wurden beschnitten.

Die totale Kontrolle und Manipulation der Freizeit gelang nur in den Lagern (der HJ, des Landjahres, des Arbeitsdienstes, der verschiedenen Schulungen). Hier wurde in den meist rigiden Tagesplänen der größte Teil der Zeit verplant, und als "Freizeit" wurde jener kümmerliche Rest bezeichnet, der wegen der nötigen Erholung nicht mehr zu verplanen war. Die übrige Zeit wurde "gestaltet". Das Freizeitideal der politischen Führung war das Lager, nicht die relativ liberale KdF-Veranstaltung. Im Lager konnte man durch Gruppendruck und kollektive Arrangements, durch Gesinnungsbildung und militärische Rituale sowie durch "künstlerische Darbietungen", die einzig auf eine gewünschte Emotionalität angelegt waren, die Individualität attackieren und autonomes Denken und Handeln austreiben.

Wollte Fritz Klatt dieselbe Situation - das kurzzeitige Zusammenleben von Menschen an einem Ort - als pädagogische Chance nutzen für die Entwicklung der durch den Arbeitsprozeß unterdrückten menschlichen Fähigkeiten, so diente nun das Lager im Gegenteil dazu, solche Fähigkeiten erst gar nicht zur Entfaltung kommen zu lassen.

Der Jugend gegenüber war die Freizeitkontrolle des Regimes generell sehr viel rigider, zumal es hier auf breite Zustimmung der Erwachsenen rechnen konnte, von denen viele - vor allem in den großen Städten - die liberale Haltung der Weimarer Republik gegenüber der Freizeit der Jugendlichen als Gefahr der Verwahrlosung gesehen hatten. Die HJ war im Grunde von Anfang an darauf angelegt, die Freizeit

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der Jugendlichen zu monopolisieren, weil sie erkannt hatte, daß unkontrollierte Freizeit eine Chance für Emanzipation und für Widerstand enthielt. Nicht zuletzt unter diesem Gesichtspunkt muß man die schon 1933 erfolgte Auflösung der anderen Jugendorganisationen sehen und den Versuch, die kirchliche Jugendarbeit auf die rein religiöse Aktivität zu reduzieren. Nur im Rahmen der HJ durften Jugendliche "auf Fahrt gehen" und zum Beispiel in Jugendherbergen übernachten. Alle Versuche Jugendlicher, ihre Freizeit außerhalb der HJ in selbstgewählten Gruppen zu verbringen, wurden in Zusammenarbeit mit SS und Polizei verfolgt. Himmler erließ 1940 eine "Polizeiverordnung zum Schutze der Jugend", nach der Jugendliche unter 18 Jahren sich "während der Dunkelheit" nicht "auf öffentlichen Straßen und Plätzen oder an sonstigen öffentlichen Orten herumtreiben" durften. Der Besuch öffentlicher Lokale und Kinos ohne Begleitung durch Erziehungsberechtigte war nach 21 Uhr verboten (Klönne 1982, S. 234). Ebenso war Rauchen in der Öffentlichkeit den unter 18jährigen untersagt. Die Freizeitkontrolle wurde neben der Polizei ausgeübt durch den "Streifendienst" der HJ. Sogenannte "Cliquen", die in ihrer Freizeit durch eine gemeinsame Kleidung auffielen oder durch das Interesse an anglo-amerikanischer Musik, oder die die entsprechenden Tänze tanzen wollten, galten schon deshalb als Widerstandsgruppen, obwohl sie selten ausdrücklich politische Ziele verfolgten.

Abgesehen davon erhielten diese Bestimmungen natürlich auch eine Rechtfertigung dadurch, daß im Kriege die Sitten lockerer wurden und die Chancen für Kriminalisierung und Verwahrlosung wuchsen, wobei gerade die Begegnungen der Bevölkerung - vor allem der weiblichen - mit der Wehrmacht, das Lagerleben der HJ und die Verdunkelung eine wichtige Rolle spielten, worüber eine interne Denkschrift der HJ aus dem Jahre 1941 freimütig Auskunft gibt (Klönne 1981). Nach 1945 wurden - wie noch zu zeigen sein wird - die Jugendschutzmaßnahmen des Nationalsozialismus nahezu bruchlos fortgesetzt. Andererseits setzte der NS-Staat durch, was lange überfällig war, aber in der Weimarer Zeit nicht gelang: eine gesetzliche Urlaubsregelung für erwerbstätige Jugendliche und Lehrlinge. Schon bald nach der Machtergreifung gelang der HJ, was den gemeinsamen Bestrebungen der Jugendverbände vorher versagt geblieben

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war, nämlich viele Arbeitgeber zur freiwilligen Beurlaubung von Lehrlingen zu bewegen - vor allem natürlich, damit sie an den Ferienlagern der HJ teilnehmen konnten. Das "Gesetz über die Kinderarbeit und über die Arbeitszeit von Jugendlichen" vom 30. 4. 1938 legitimierte in diesem Punkte nur eine bereits weitgehend vollzogene Praxis. Es enthielt außerdem ein grundsätzliches Verbot der Kinderarbeit und für Jugendliche von 14 bis 18 Jahren eine Begrenzung der Arbeitszeit und ein Verbot der Nachtarbeit.

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III. Auf dem Weg zur Freizeit- und Konsumgesellschaft

Freizeitentwicklung nach 1945

Nach dem Kriege war Freizeit verständlicherweise zunächst kein vorherrschendes Thema. Die Aufmerksamkeit mußte sich auf das tägliche Überleben konzentrieren, von dem Geld, das man verdiente, war ohnehin kaum etwas zu kaufen. Zwischen 1948 und etwa 1955 stieg die durchschnittliche Wochenarbeitszeit zunächst deutlich an, um von da an wieder abzunehmen. "1956 hatten noch fast alle Arbeiter eine tarifliche Wochenarbeitszeit von 48 Stunden; 1960 lag der Schwerpunkt bei 44 bis 45 Stunden, 1965 bei 41 bis 42 Stunden, 1970 schon bei unter 41 Stunden; 1975 waren für rund 96 Prozent Arbeitszeiten unter 41 Stunden vereinbart" (Schmiede, S. 83). Allerdings ist die tatsächliche Arbeitszeit zum Beispiel wegen Überstunden immer etwas höher. Vor allem die Durchsetzung des freien Samstags schlägt bei der Verkürzung der Wochenarbeitszeit zu Buche.

Die Jahresarbeitszeit wurde durch die Ausdehnung der Urlaubszeit erheblich verkürzt. In der ersten Hälfte der fünfziger Jahre gab es rund zwei Wochen, 1960 rund drei Wochen, 1970 rund vier Wochen und 1975 rund fünf Wochen Urlaub (Schmiede, S. 84). Insofern ist das 1963 erlassene Urlaubsgesetz überholt, das einen Mindesturlaub von drei Wochen für die gewerbliche Wirtschaft festsetzt.

Aber nicht nur die Freizeit hat sich erhöht, sondern auch das dafür verfügbare Einkommen. Der Freizeit-Etat einer vierköpfigen Arbeitnehmerfamilie mit mittlerem Einkommen betrug 1968 1.234 DM oder 11 Prozent der gesamten Haushaltsausgaben, 1978 4.173 DM oder 16 Prozent. So wurde Freizeit ein wichtiger Wirtschaftsfaktor mit Millionen von Arbeitsplätzen.

Beides, mehr Freizeit und ein steigender Freizeitetat, eröffneten einen neuen Markt für den massenhaften Absatz technisch hochwertiger Geräte, deren Gebrauch unser Leben

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immer mehr bestimmte. So bestimmt das Auto weitehend die Wochenendfreizeit, etwa 10 Millionen Bundesbürger sind an Wochenenden damit unterwegs (Kohl, S. 22). Damit änderten sich auch die "Freizeit-Landschaften", interessant wurden nun auch weiter entfernt liegende, aber mit dem Auto zu erreichende "Ferienparks" und andere Freizeitgebiete. Der Fernseher, der in 93 Prozent aller Haushalte zu finden ist, hat unsere Vorstellungen über Information und Unterhaltung revolutioniert und legt uns im Verein mit Video-Geräten eine praktisch beliebige Benutzung von Kultur, Unterhaltung und Information nahe. Ähnliches gilt für Kassetten-Recorder. Hochwertige Verstärker-Anlagen haben den Discjockey an die Stelle der Tanzkapelle plaziert und damit natürlich auch eine neue Form der Geselligkeit geschaffen. Dabei hat sich die Erfindung der Mikro-Prozessoren noch gar nicht recht ausgewirkt. Wir werden in absehbarer Zeit uns mit einem technischen Gerät umgeben können, von dem wohl nur wenige eine rechte Vorstellung haben. Die Nutzung all dieser Möglichkeiten wird praktisch nur durch zweierlei begrenzt: durch die Zeit, die man dafür aufwenden kann, und durch die sozialen Gewohnheiten, die von der Massenwerbung unterstützt oder produziert werden und die für eine Selektion der Angebote sorgen.

Im Tourismus hat die Ferienwohnung längst die "Sommerfrische", das "Zimmer mit fließendem Wasser und Küchenbenutzung" weitgehend verdrängt. Entwickelt hat sich ein fast unübersehbarer Freizeitmarkt von teils kommerziellen, teils nicht-kommerziellen Anbietern (zum Beispiel Bildung), der ganz neue Berufszweige ernährt. Hält man sich vor Augen, daß alles damit anfing, daß 1891 der freie Sonntag und 1918 der Achtstundentag erkämpft wurde, und daß mit KDF der Massentourismus begann, dann läßt sich ohne Übertreibung sagen, daß die Freizeit der Massen zu einer sozialen und kulturellen Revolution geführt hat.

Eben diese Tatsache hat die Kritik an der Freizeit- und Konsumgesellschaft nicht verstummen lassen. Gegenwärtig artikuliert sie sich vor allem in Rahmen ökologischer Überlegungen, seitdem der Club of Rome deutlich gemacht hat, daß der westliche Wohlstand schon mangels Rohstoffen gar nicht auf den Rest der Welt übertragen werden könnte, und seitdem Umweltschäden jedermann vor Augen führen, daß das rücksichtslose Produzieren und Wegwerfen von Gütern

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so nicht weitergehen kann. Pädagogen klagen über die "Konsumhaltung" von Kindern und Jugendlichen, die gleichsam zu einer Charakterstruktur geworden sei und dazu führe, daß Lernen oder Arbeiten gar nicht mehr lohne, weil die Erfahrung vorherrschend sei, daß man sowieso alles zum Nulltarif bekomme und es eigentlich kaum noch etwas gebe, wofür die Anstrengung des Lernens und Arbeitens noch hinzunehmen sei.

Im Zuge der Studentenbewegung Ende der sechziger bis Mitte der siebziger Jahre wurde die Freizeit- und Konsumgesellschaft attackiert, weil sie die Menschen davon abhalte, ihre "eigentlichen" Bedürfnisse und Interessen in den Blick zu nehmen, nämlich für eine freie Gesellschaft zu kämpfen, in der die kapitalistischen Prinzipien nicht mehr gelten. Demnach war das Konsumangebot so etwas wie "Opium fürs Volk".

In den fünfziger bis Mitte der sechziger Jahre war es das gebildete Bürgertum, das - mit Recht - seinen Bildungskanon bedroht sah von der neuen "Massenkultur", beziehungsweise die eher kleinbürgerliche Erzieherschaft in Schule und Jugendpflege, die zum Beispiel ein traditionelles "Kulturgut" beziehungsweise das "Jugendgemäße" gegen die neuen Freizeitinhalte ausspielte (vgl. Giesecke 1980).

Von der Freizeiterziehung zur Freizeitsozialisation

Pädagogisch betrachtet läßt sich die Entwicklung seit 1945 beschreiben als ein Weg von der Freizeiterziehung zur Freizeitsozialisation. Es ist die Geschichte ständiger Niederlagen pädagogischer Intentionen und Konzepte, die ja aus bestimmten überlieferten kulturellen Standards erwuchsen, gegen die kommerzielle Angebotsstruktur; kulturell gesehen ist es die Geschichte der Zerstörung aller Milieus und ihrer Traditionen zugunsten der alles nivellierenden Freizeit- und Konsumkultur, die ihrer Tendenz nach zur globalen Kultur der westlichen Welt wird, wie sich beispielhaft an der universalen Verbreitung der Disco zeigen läßt. In den freizeitpädagogischen Überlegungen der fünfziger und sechziger Jahre stand im Vordergrund der seit Ende des vorigen Jahrhunderts bekannte Gedanke, daß die Menschen lernen müßten, ihre vermehrte Freizeit "sinnvoll" zu nutzen. Die Maß-

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stäbe dafür stammten entweder aus der Tradition des "Jugendgemäßen", wie es die Jugendbewegung vor und nach dem Ersten Weltkrieg entwickelt hatte, oder aus dem kulturellen Horizont des Bildungsbürgertums. Es ging zum Beispiel darum, zwischen "guten" und "schlechten" Filmen und Schlagern unterscheiden zu lernen und beides den "eigentlichen" kulturellen Gehalten wie Konzerten und Theateraufführungen und der bildenden Lektüre unterzuordnen. Bei solchen Bemühungen spielten übrigens zunächst Erwartungen und Maßstäbe eine Rolle, wie sie im "Dritten Reich" als "gesundes Volksempfinden" herrschend geworden waren. Aber alle Bemühungen, diesen Produkten des Massenkonsums ästhetische Qualitäten abzugewinnen und ihnen damit einen "Bildungswert" zu geben, beziehungsweise auf diese Weise auch eine Qualitätserziehung zu betreiben, scheiterten, obwohl es ernsthafte Konzepte einer "Filmerziehung" gab (Peters) und die "Filmdienste" der beiden Kirchen, die die laufenden Filme rezensierten, akzeptable Qualitätsmerkmale entwickelten. Entscheidend war vielleicht, daß die Schule Filmerziehung nicht in ihren Lehrplan aufnahm, so wenig wie sie bis heute eine Art von Fernsehkunde lehrt (vgl. Kerstiens). Das pädagogische Interesse an diesen Medien blieb immer beschränkt auf pädagogische Eigenproduktionen wie Unterrichtsfilme, Schulfernsehen und Schulfunk. Die Auseinandersetzung mit den ja ebenfalls didaktisch interessanten Maßstäben der Medienästhetik oder des Journalismus fand praktisch nicht statt. Abgesehen von Minderheiten, die sich zum Beispiel in Filmclubs trafen, setzte sich bei Film, Fernsehen und Schlagern der Unterhaltungswert durch, dessen ständige Veränderung durch wechselnde Moden den Umsatz fördern sollte.

Inzwischen sind solche Versuche, die "Volkserholungen" zu "veredeln" - wie Naumann gesagt hätte -, kaum noch zu finden. Das kommerzielle Freizeit- und Konsumsystem ist zu einem hochbedeutsamen Sozialisationsfaktor geworden, der in den jüngsten Generationen offensichtlich zu einem neuen Sozialcharakter geführt hat, der nicht wenig Ähnlichkeit mit dem aufweist, den D. Riesman (1958) für die USA schon in den fünfziger Jahren als "außengeleiteten" beschrieben hatte.

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Nach dem Zweiten Weltkrieg setzten bald Versuche ein, den in der Weimarer Zeit begonnenen gesetzlichen Filmjugendschutz und damit überhaupt den "Freizeit-Jugendschutz" wieder aufleben zu lassen. So wurde das "Gesetz zum Schutz der Jugend in der Öffentlichkeit" vom Bundestag 1951 verkündet und 1957 novelliert; in dieser Fassung ist es noch heute - 1983 - gültig.

Nach der novellierten Fassung (§ 6) dürfen Kinder unter 6 Jahren überhaupt keine öffentlichen Filmveranstaltungen besuchen, Kinder zwischen 6 und 12 Jahren nur, wenn der Film für dieses Alter freigegeben ist und die Vorstellung bis 20 Uhr beendet ist, Kinder und Jugendliche zwischen 12 und 16 Jahren, wenn die Freigabe erfolgt ist und die Vorstellung bis 22 Uhr beendet ist, Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren nur bei entsprechender Freigabe des Films und wenn die Vorstellung bis 23 Uhr beendet ist.

Außerdem dürfen Kinder und Jugendliche sich nicht "an Orten aufhalten, an denen ihnen eine sittliche Gefahr oder Verwahrlosung droht" (§ 1). Laut entsprechender Verwaltungsvorschrift sind damit gemeint: "Rummelplätze und Hauseingänge nach Eintritt der Dunkelheit, Ruinengrundstücke, Nachtbars, Nachtclubs, Eingänge von Kasernen, Unterkünften und Unterhaltungsstätten für Truppen und deren nähere Umgebung, dunkle Straßen und Plätze, Bahnhöfe, Wartehallen so wie solche Lokale, Straßen und Sammelpunkte, wo kriminelle, sittenlose und sexuell abwegige Kreise verkehren".

Kindern und Jugendlichen unter 16 Jahren ist der Aufenthalt in Gaststätten grundsätzlich nur in Begleitung von Erziehungsberechtigten gestattet (§ 2). Branntwein darf Jugendlichen in Gaststätten weder verkauft noch angeboten werden, andere alkoholische Getränke (zum Beispiel Bier) dürfen Kindern gar nicht und Jugendlichen unter 16 Jahren nur in Begleitung eines Erziehungsberechtigten angeboten werden (§ 3). Den unter 16jährigen ist die Teilnahme an öffentlichen Tanzveranstaltungen verboten, den 16 bis 18jährigen bis 24 Uhr gestattet, wenn ab 22 Uhr ein Erziehungsberechtigter anwesend ist (§ 4). "Die Anwesenheit bei Varieté-, Cabarett- oder Revue-Veranstaltungen darf Kindern und Jugendlichen nicht gestattet werden" (§ 5). Das gilt auch für nicht öffentliche Veranstaltungen die-

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ser Art. Auch Glücksspiele in der Öffentlichkeit, einschließlich der Spielautomaten, sind Kindern und Jugendlichen verboten (§ 7).

In dieses Jugendschutzgesetz wurden die Bestimmungen der Himmler'schen Polizeiverordnung weitgehend übernommen.

Über die Freigabe der Filme für die einzelnen Altersstufen entscheidet die oberste Landesbehörde, die sich dabei der Prüfstelle der Ausschüsse der "Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft" (FSK) bedient. Die FSK wurde auf Initiative eines ehemaligen UFA-Produzenten, Eric Pommer, gegründet, der 1934 in die USA emigriert war, dort die Selbstkontrolle der amerikanischen Filmwirtschaft kennengelernt hatte und als Filmoffizier der amerikanischen Besatzungsmacht nach Deutschland zurückgekehrt war. Die FSK war nicht eigens für den Jugendschutz eingerichtet worden, sondern sollte überhaupt verhindern, daß Filme auf den Markt kommen, die das sittliche oder religiöse Empfinden verletzen, die verrohend wirken, die antidemokratische, militaristische, imperialistische oder rassistische Tendenzen aufweisen.

Ergänzt wurde das "Jugendschutzgesetz" durch das "Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften" von 1953, in der letzten Fassung von 1961. Danach dürfen "Schriften, die geeignet sind, Kinder oder Jugendliche sittlich zu gefährden", nicht öffentlich angeboten werden. "Dazu zählen vor allem unsittliche, verrohend wirkende, zu Gewalttätigkeit, Verbrechen oder Rassenhaß anreizende sowie den Krieg verherrlichende Schriften" (§ 1). "Offensichtlich schwer jugendgefährdende Schriften" sind davon betroffen, ohne daß sie dafür besonders indiziert werden müssen. Dazu gehören auch die "Schriften der FKK-Bewegung", insofern sie "durch Bild für Nacktkultur werben" (§ 6). Schriften, die als jugendgefährdend indiziert sind, unterliegen erheblichen Verkaufsbeschränkungen.

Wie wenig dieses Gesetz zu wirken vermag, zeigt sich am Beispiel des neuen Video-Marktes, der unter anderem preisgünstig Leihkassetten anbietet, darunter auch solche mit pornographischen und äußerst brutalen Stoffen, die auch Kindern und Jugendlichen zugänglich sind.

Dieses Gesetz knüpfte an das erwähnte "Schund- und Schmutzgesetz" aus der Weimarer Zeit an, das die National-

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sozialisten 1934 aufgehoben hatten, weil sie davon ausgingen, daß durch die Reichskulturkammer ohnehin das gesamte Schrifttum kontrolliert würde. Seitdem sei - so der erwähnte Bericht der HJ von 1941 - "die Flut der Schundliteratur unendlich angeschwollen. Schundheftreihen, Kriminalschmöker und billigste Romane werden trotz der Papierknappheit in großer Zahl angeboten und auch von den privaten Mietsbüchereien vorrätig gehalten (englische Kriminalreißer!). Sie werden von der Jugend, gerade auch von den 10 bis 15jährigen ... viel gelesen" (Klönne 1981, S. 207).

An diesen beiden Gesetzen fällt auf, daß praktisch der gesamte kommerzielle Freizeitbereich als jugendgefährdend angesehen wurde (vgl. Becker; Kalb; Schilling). In der Tat gab es in den fünfziger Jahren bis Anfang der sechziger Jahre eine breite "Jugendschutzbewegung", die unter anderem zahlreiche "Jugendschutzwochen" veranstaltete, um die Öffentlichkeit auf Gefahren für die Jugend hinzuweisen, und die gelegentlich zu Eiferertum neigte, wobei insbesondere der "Volkswartbund" in Köln eine gewisse Berühmtheit erlangte.

Auffallend ist, daß im Mittelpunkt der Besorgnisse die "sittliche", die sexuelle Gefährdung stand. Das galt schon für die erwähnte HJ-Denkschrift. Stellt man sich vor, daß diese im selben Jahr erschienen war, in dem auf der sogenannten "Wannsee-Konferenz" die "Endlösung der Judenfrage" beschlossen wurde, dann müssen die zum Teil kleinlichen Jugendschutzsorgen des Regimes geradezu makaber anmuten. Über die Gefährdung durch Film klagt die Denkschrift: "Besonders der Kriminalfilm und der Gesellschaftsfilm mit erotischem Einschlag wirken sich stark nachteilig aus. Aber auch Filme, die für Jugendliche zugelassen worden sind, können unter dem Gesichtspunkt des Jugendschutzes nicht immer als erfreulich bezeichnet werden" (S. 207). Ebenso werden Nacktfotos in Illustrierten und Zeitungen moniert, sowie die Tendenzen zu einer neuen "Nacktkulturepoche" überhaupt.

Das Leitmotiv dieser Denkschrift wie auch der Jugendschutzgesetze nach 1945 ist: Sexuelle Betätigungen und Phantasien führen zur Verwahrlosung oder zumindest zur Illoyalität gegenüber den gesellschaftlichen Autoritäten. Gewiß sahen die beiden Gesetze auch andere Tatbestände als jugendgefährdend an, zum Beispiel Verherrlichung von

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Gewalt und Diskriminierung von Rassen und Minderheiten, aber diese Kriterien wurden in der Regel eher großzügig angelegt.

Ein Beispiel für die zunehmende Erfolglosigkeit des Jugendschutzes ist der seit Mitte der sechziger Jahre sich ausbreitende Jugendtourismus. Kommerzielle und gemeinnützige Unternehmen boten jungen Leuten Auslandsreisen in Zeltlagern oder festen Häusern an, die dem herkömmlichen "Fahrtenwesen" der Jugendpflege und der Jugendverbände mit seinem überlieferten Stil des "Jugendgemäßen" Konkurrenz machten und Maßstäbe und Leitvorstellungen des modernen Erwachsenentourismus übernahmen (vgl. Kentler u. a. 1969). Diese Angebote waren nicht zuletzt deshalb beliebt, weil sie - im Ausland für den Jugendschutz nicht erreichbar - ein hohes Maß an Freizeitautonomie und eine gewisse Liberalität im Umgang der Geschlechter ermöglichten. Versuche, diese Unternehmungen zu pädagogisieren (Giesecke u. a. 1967), zum Beispiel im Rahmen der Ausbildung der Reiseleiter, hatten wenig Erfolg, erbrachten allerdings grundlegende Einblicke in das neue "Lernfeld" des Tourismus. Als in den siebziger Jahren dann sogenannte "anti-autoritäre" Ferienlager in der Bundesrepublik Schlagzeilen machten, in denen unter anderem gemeinsames Übernachten der Geschlechter gestattet wurde (vgl. Lauff/Homfeldt; Hansen), gab es zwar noch öffentliche Diskussionen, aber kaum noch ernsthaften Widerstand.

Hinter dem Jugendschutzkonzept stand ein gewisses Wunschbild über das Jugendalter. Demnach dürfen bestimmte Erwachsenenprivilegien wie Sexualität und Autonomie in der Freizeit von Jugendlichen nicht in Anspruch genommen werden. Die Vorenthaltung derartiger Privilegien definiert geradezu das Jugendalter.

Die beiden Jugendschutzgesetze sind immer noch in Kraft, sie werden aber in der Öffentlichkeit immer weniger beachtet. Im Rahmen der Freizeitgesellschaft - und sicherlich von ihr mit verursacht - ist ihr Gegenstand, nämlich das traditionelle Jugendalter, weitgehend entschwunden. Die behütete und kontrollierte Kindheit ist kürzer geworden, an ihrem Ende finden sich weitgehende Freizeitautonomie und mehr oder weniger geduldete sexuelle Beziehungen (vgl. Jugendwerk ... 1982).

Die Sexualisierung des öffentlichen Lebens, vernehmbar in

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der Massenpublizistik und sogar im Fernsehen, schließt jede Familie ein und damit auch die Kinder und läßt somit dem Jugendschutz kaum noch eine Chance. Die Kinder und erst recht die Jugendlichen verbringen die meiste Freizeit in ihren Gleichaltrigen-Gruppen, die ihrerseits Interessen, Wünsche und Bedürfnisse ihrer Mitglieder entscheidend prägen. Pädagogisch gesehen wurden also die Freizeit und der ihr zuzurechnende Konsumstandard zu wichtigen, wenn nicht entscheidenden Faktoren für die kulturelle und moralische Sozialisation, gegen die nicht nur der Jugendschutz, sondern auch eine planmäßige Erziehung wenig Chancen haben. Über die Freizeit ist das Aufwachsen in einem hohen Maße vergesellschaftet worden, das heißt an universellen und unpersönlichen Maßstäben orientiert. Riesman (1958, S. 83 ff.) hat schon in den fünfziger Jahren die Bedeutung der Gleichaltrigen-Gruppe in diesem Zusammenhang beschrieben, deren Hauptbeschäftigung die Herausbildung von Konsumnormen ist und die sich schließlich selbst konsumiert. "Menschen und Freundschaften werden als die wichtigsten Konsumgüter angesehen" (S. 94).

Diese Konsumhaltung ist planmäßig produziert worden. Nach dem Kriege bis etwa Mitte der sechziger Jahre setzte sich - ausgehend von den USA, die damals unter einer gewaltigen Überproduktion litten - eine Wirtschaftsauffassung durch, die den Wohlstand aller durch hohe Wachstumsraten gesichert sah. In diesem Zusammenhang gewann der höchstmögliche Konsum die Qualität einer wirtschaftlichen Bürgerpflicht. Dieses Ansinnen traf aber auf eine festverwurzelte traditionelle Wirtschaftsmoral, in der entgegengesetzte Tugenden wie Sparsamkeit, Bescheidenheit und Schuldenfreiheit die größte Bedeutung hatten - zumindest bei der Mehrheit der Bevölkerung. Eine zweite Barriere war, daß die Menschen früher vergnügungs- und lustfeindlich erzogen worden waren. Im Mittelpunkt ihres moralischen Selbstverständnisses standen Arbeit, Dienst und Pflicht; ein bescheidenes Vergnügen war allenfalls erlaubt, insofern es der Erholung zum Zwecke der Wiederherstellung der Arbeitskraft diente. Noch die KDF-Konzeption stand ganz unter diesem Anspruch. Sollte also die Einstellung, daß höchstmöglicher Konsum Bürgerpflicht sei, sich durchsetzen, so mußte die alte Moral der Massen erst einmal gebrochen werden. Eine wichtige Funktion übernahm dabei die

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Konsumwerbung, die sich vom eher biederen Anpreisen von Produkten zu einer raffinierten Strategie der tiefenpsychologischen Beeinflussung mauserte (vgl. Packard; Dichter). Sie erkannte, daß die Kaufwünsche der Menschen selten rationale Gründe haben, auch wenn das vom Verbraucher immer wieder behauptet wird - weshalb viele auf Meinungsforschung basierende Werbekampagnen ins Leere liefen. Die tiefenpsychologisch angelegte Motiv-Forschung entdeckte dagegen, daß sich allgemeine menschliche Bedürfnisse - zum Beispiel nach Liebe, Anerkennung und Geborgenheit - "verdinglichen", also mit Gütern verbinden ließen, und daß andererseits die Produkte nicht nur einer praktischen Verwendung dienen, sondern eine soziale Bedeutung haben, das heißt, daß sie mit gewünschten menschlichen Beziehungen und deren Ausgestaltung in Verbindung zu bringen seien. Da zudem viele Verbrauchsgüter für einen baldigen Verschleiß produziert wurden, mußte die psychische Bereitschaft zum Wegwerfen, zum Neukauf und zum Modenwechsel in die neue Moral mit einprogrammiert werden. Mit den nun erheblich gestiegenen Werbeetats wurde zwar immer noch für bestimmte Produkte geworben, aber die Werbung wurde dabei zu einer eigentümlichen gesellschaftlichen Instanz mit unübersehbaren moralischen Wirkungen und Prägungen insbesondere für die heranwachsenden Generationen. Mit diesen verbündete sich die Werbepropaganda gegen die Altmoral der älteren Generationen. Schon in den fünfziger Jahren stimmten alle Freizeituntersuchungen darin überein, daß die Jungen die "besseren" Verbraucher seien. Ernest Dichter, einer der führenden amerikanischen Motivforscher, gestand die moralische Propaganda als allgemeinen Zweck der neuen Werbung ein:

"Wir stehen jetzt vor dem Problem, dem Durchschnittsamerikaner zu erlauben, sich für moralisch zu halten, auch wenn er flirtet, auch wenn er Geld ausgibt, auch wenn er nicht spart, sogar wenn er zwei Urlaubsreisen im Jahr macht und einen zweiten oder dritten Wagen anschafft. Eines der Grundprobleme dieses Wohlstandes besteht demnach darin, den Leuten die Sanktion und die Rechtfertigung zu geben, den Wohlstand zu genießen und ihnen darzutun, daß ihre lustvolle Lebensauffassung eine moralische und keine unmoralische ist. Die dem Verbraucher erteilte Genehmigung, sein Leben frei zu genießen, der Nachweis, daß er Recht

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daran tut, sich mit Erzeugnissen zu umgeben, die sein Dasein bereichern und ihm Freude machen, muß ein Haupttherna jeder Werbung und jedes Verkaufsförderungsplanes sein" (zit. n. Packard, S. 312).

Arbeit und Freizeit im Wandel

Überblicken wir die geschichtliche Entwicklung unseres Themas, dann lassen sich zwei zeitliche Abschnitte unterscheiden, in denen sich jeweils ein bestimmtes Verhältnis von Arbeit und Freizeit herausbildete.

In der ersten Phase, die man etwa bis 1950 ansetzen kann, ging es darum, der industrialisierten Arbeitszeit, die menschliche Bedürfnisse ausgliederte, insofern sie der zeitökonomischen Effizienz des Produzierens nicht von Nutzen waren, einen möglichst großen anderen Zeitteil an die Seite zu stellen - eben Freizeit -, in der diese vertriebenen oder überhaupt unterdrückten Bedürfnisse sich entfalten konnten. In der damit gegebenen Polarisierung zweier Lebenssphären - Arbeit und Freizeit - wurde Arbeit das entscheidende individuelle wie soziale Lebenszentrum, dem die Freizeit untergeordnet wurde. Arbeit zu bekommen und zu behalten, um mit dem Ertrag sein Leben fristen zu können, blieb die Grundlage der Existenz. Freizeit diente der ständigen Wiederherstellung der Arbeitskraft, Vergnügen, Genuß und Luxus waren - je nach religiöser Tradition - entweder moralisch verpönt oder allenfalls als "Belohnung" für anstrengendes Schaffen zu akzeptieren. Von der Stellung im Arbeitssystem hingen wichtige Teile der sozialen Identität ab wie Ansehen, Prestige und soziale Zugehörigkeit überhaupt. Für die organisierte Arbeiterbewegung war Arbeit zudem das Fundament der kollektiven Identität: sie konnte Stolz und Selbstbewußtsein des Einzelnen fundieren und als im Streik verweigerte die politische und soziale Emanzipation fördern. Das menschliche Leben war nach der Arbeit geordnet: Es gab eine Lebensphase vor Eintritt in die Arbeitstätigkeit - Kindheit und Jugend -, die Arbeitsphase selbst und schließlich die Phase nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben.

Arbeit war auch die entscheidende moralische Stütze der Gesellschaft, sie disziplinierte die Menschen, ordnete ihr

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Leben und ihre menschlichen Beziehungen. Sie zwang den Menschen ihre eigentümlichen Tugenden auf: Gehorsam, Unterordnung, Verzicht, Bescheidenheit, Arbeitseifer, Pflichttreue; denn abgesehen vom Militärdienst wurden diese Tugenden im Arbeitsleben gebraucht und sie regulierten auch weitgehend das Privatleben.

In einer zweiten Phase - etwa von 1950 bis 1980 - begann die Arbeit diesen zentralen Stellenwert mehr und mehr zu verlieren. Für immer mehr Menschen, vor allem für die abhängig arbeitenden Arbeiter und Angestellten, trug sie ihren Sinn nicht mehr in sich selbst, sie wurde vielmehr zunehmend als Job verstanden, der nötig ist, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Wo - wie vor allem bei den älteren Generationen - am alten Arbeitsethos festgehalten wurde, trat Verunsicherung angesichts des von den jüngeren repräsentierten Zeitgeistes ein. Gewiß war dieser Prozeß vielfältig und widersprüchlich, wie immer bei sozialen und kulturellen Umbrüchen. Die zunehmende öffentliche Entwertung der alten Arbeit und ihres Ethos widersprach nicht dem Karrierestreben insbesondere in den Mittelschichten, dem oft alle anderen menschlichen Dimensionen untergeordnet wurden. Schließlich war die wirtschaftliche Perspektive im ganzen optimistisch, beruflicher Aufstieg schien sich zu lohnen, so daß Mangel an freier Zeit durchaus das Prestige fördern konnte. Aber schon in den fünfziger Jahren deutete sich eine Wandlung der Lebenseinstellung bei den meisten Menschen an (vgl. Blücher 1956). Gelebt wurde in der Freizeit, und die dort benötigten Tugenden waren ganz andere, nämlich solche des Genießens und Verbrauchens - Freiheit statt Gehorsam, Gleichordnung statt Unterordnung, Verschwendung statt Verzicht, Aufsehen-Erregen statt Bescheidenheit-Zeigen, Müßiggang statt Arbeitseifer, Selbstbestimmung statt Pflichttreue. Es kam zu einer Art von "Tugend-Konflikt" oder "Wert-Konflikt", der zu der Lösung tendierte, die als angenehmer empfundenen Freizeiteinstellungen auch auf das Arbeitsleben auszudehnen. Dieser Konflikt wird von den einen wahrgenommen in der Klage über das Sinken der Arbeitsmoral und Arbeitsmotivation, von den anderen dagegen wird die zunehmende Entfremdung und Sinnlosigkeit der Arbeit beklagt. Einerseits effektiv wie möglich ausgenutzt, wird die Arbeitszeit so effektiv wie möglich ausgenutzt, wodurch die nervliche Beanspruchung wächst, andererseits haben Tarifverträge,

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Gesetzgebung und Rechtsprechung vor allem im öffentlichen Dienst dafür gesorgt, daß Kündigungen und Entlassungen - auch wegen mangelnder Leistungsbereitschaft - kaum noch möglich sind. Hauptziele der gewerkschaftlichen Tarifpolitik waren einerseits Erhöhung der Löhne und Gehälter, andererseits Vermehrung der Freizeit. Voraussetzung dieser Lohn- und Sozialpolitik war, daß das Sozialprodukt ständig gesteigert werden konnte.

Es scheint, daß wir heute am Anfang einer neuen, einer dritten Phase leben. Schon in den fünfziger Jahren hatte Hannah Arendt in ihrem Buch "Vita Activa" vorausgesagt, daß unserer Gesellschaft die bezahlbare Arbeit ausgehen werde. Die gegenwärtige strukturelle Arbeitslosigkeit mit über 2 Millionen Arbeitslosen scheint dieser These recht zu geben. Die Gründe dafür werden fast täglich in der politischen Publizistik diskutiert: Die technologische Entwicklung bringt Arbeitsplätze durch Rationalisierung zum Verschwinden, ein Roboter oder Computer läßt sich zeiteffizienter einsetzen als ein Mensch (vgl. Friedrichs/Schaff); adäquate Umschichtungen auf neue Branchen und ihre Arbeitsplätze sind nicht in Sicht; der Konsummarkt in den westlichen Industrieländern ist weitgehend gesättigt. Zudem ist das ökologische Bewußtsein sensibler geworden und der höchstmögliche Konsum steht nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses, im Gegenteil, es läßt sich eine Suche nach neuen Freizeitwerten beobachten, deren Symbol weniger das Auto als das Fahrrad ist. Längst werden viele Menschen - zum Beispiel Arbeitslose oder Studenten - dafür bezahlt, daß sie nicht arbeiten oder unterbeschäftigt sind.

"In manchen Ländern, wie Österreich, ist der öffentliche Dienst bewußt zur Überbeschäftigung, will sagen: zur Unterbeschäftigung der Betroffenen benutzt worden. Längst schon ist es still geworden um die Rationalisierung des öffentlichen Dienstes, weil jedermann weiß, daß wir zwar wahrscheinlich mit der Hälfte der Beamten und öffentlichen Angestellten auskommen könnten, daß die andere Hälfte aber dann auf der Straße liegen würde. Denn auch die Industrie, zumal die große Industrie, könnte heute mit 80 Prozent, 70 Prozent - wer weiß, vielleicht mit 50 Prozent? - ihrer Beschäftigten denselben Ertrag erwirtschaften. Sie tut es nicht, um des sozialen Friedens willen, wohl auch, um den Ärger vor Arbeitsgerichten zu vermeiden, und vor allem aus lieber Gewohnheit. Wachsende Industrien sind heute in der Lage, gleichzeitig ihre Produktion um 10 Prozent pro Jahr zu steigern und die Zahl ihrer

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Beschäftigten um 10 Prozent zu verringern. Und es ist auch nicht mehr wahr, daß neue Wirtschaftsunternehmen entstehen - Kleinbetriebe, Dienstleistungsbetriebe, - die die Freigesetzten aufnehrnen" (Dahrendorf 1980, S. 752).

Der Ruf nach einer Neuverteilung der Arbeit wird laut: Die Wochen- oder Jahresarbeitszeit soll verkürzt werden, so daß möglichst viele Menschen Arbeit finden können, Arbeitsplätze sollen geteilt werden können (vgl. Huber 1979; Benseler u. a. 1982; Espenhorst; Teriet 1976 u. 1983). Fraglich ist, ob sich die vorhin erwähnte soziale Konstruktion Jugendphase als Vorbereitung auf die Arbeit, die mittleren Generationen als Arbeitende, die alten als Pensionierte noch aufrechterhalten läßt.

"Junge Leute quälen sich gelangweilt durch die teuren Bildungsinstitutionen; und zehn Jahre ältere würden zuweilen ihre Karriere drangeben, noch einmal zurückkehren zu können. Sie können es nicht, nicht nur wegen der Karriere, sondern auch, weil keine Schule oder Hochschule sie aufnimmt, und jedenfalls keine ihnen das bietet, was ein Mensch sucht, der Erfahrungen hat und diese strukturieren will" (Dahrendorf, S. 759).

Schwerwiegender ist - und darauf weist Dahrendorf mit Recht hin -, daß das "Entschwinden der Arbeitsgesellschaft" zu einer Fülle persönlicher Identitätskrisen führen kann, eben weil die Arbeit der Mittelpunkt unseres Lebens war, von dem her Freizeit und Konsum noch ihren Sinn bekamen. Freizeit ohne die sozialen Bindungen und Verpflichtungen, die früher von der Arbeit ausgingen, stiftet zumindest zunächst eine Welt voller Optionen und ungestillter Bedürfnisse - eine sinnlose Welt, wenn es nicht gelingt, die moralische Leere, die so entstanden ist, durch andere soziale Verbindlichkeiten zu füllen.

"Für lange Zeit hat die Arbeit als ausstrahlende Kraft des Lebens die übrigen Aspekte seiner sozialen Konstruktion zusammengehalten. Für diese Zeit hallten wohl alte Ligaturen noch nach. Gott war noch nicht tot; und die Familie fing den verlorenen Einzelnen noch auf. Dann, mit dem Schrumpfen der Arbeit, fielen die verschiedenen Bestandteile auseinander - und sichtbar wurde eine trümmerhafte Leere, die anzufüllen nichts Bekanntes sich mehr zu eignen schien" (Dahrendorf, S. 756).

Möglicherweise weist ein Teil der jugendlichen Freizeitszene darauf hin, daß in der Tat Jugendliche, die arbeitslos sind oder noch nicht im Arbeitsprozeß stehen oder in deren Per-

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spektive Arbeit keinen Sinn mehr hat, auch in ihrer Freizeit orientierungslos zu werden drohen.

Gewiß ist dies weitgehend noch utopische Vorwegnahme. Ein großer, wenn auch offensichtlich kleiner werdender Teil der mittleren Generationen arbeitet nach wie vor hart und oft mit Überstunden, aber die Zahl der Jüngeren und Älteren, die davon mit durchgefüttert werden müssen, wächst. In dieser Situation wird die Aufteilung der Lebenszeit im ganzen problematisch. Wäre es nicht besser, die Arbeit weniger zeiteffektiv zu organisieren, so daß aus der Arbeitszeit vertriebene menschliche Bedürfnisse - nach Gesprächen und Geselligkeit zum Beispiel - wieder am Arbeitsplatz einziehen könnten? Alternative Kleinunternehmen versuchen, solche Arbeitsformen, bei denen Arbeit, Freizeit und Geselligkeit ineinander übergehen, zu praktizieren (vgl. Huber; Benseler). jedoch darf nicht übersehen werden, daß es die klare Trennung von Arbeitssphäre und Nicht-Arbeitssphäre war, die die emanzipatorischen Möglichkeiten der Freizeit erst freisetzte. Der Arbeitgeber hat Anspruch auf eine bestimmte Zeit des Arbeitnehmers und auf eine bestimmte Arbeitsleistung, aber darüber hinaus gehen ihn weder dessen Bedürfnisse noch Gefühle etwas an. Darüber kann dieser in seiner Freizeit frei verfügen, und zwar zusammen mit anderen, die er sich dafür aussuchen kann. Im Betrieb dagegen muß man mit denen auskommen, die da sind. Werden die aus der Arbeitswelt verdrängten Bedürfnisse und Interessen wieder in diese zurückgeholt, so werden sie auch wieder den dort notwendig vorherrschenden Zwängen unterworfen, wobei es gleichgültig ist, ob die Betriebsorganisation eher hierarchisch oder eher partizipatorisch-kooperativ ist. Der Zwang, mit Menschen zu kooperieren, die man sich nicht aussuchen kann, kann ebenso zermürben wie ein altmodischer, autoritärer Chef.

Hat die Entwicklung der Freizeit nun jene emanzipatorischen Versprechen eingelöst, die sie in der Weimarer Zeit - vor dem Zugriff der Nationalsozialisten - zu geben schien?

Zweifellos hat sich für die große Masse der Arbeiter und Angestellten die Emanzipation vom Existenzminimum, vom Milieu als lebenslangem sozialen Schicksal und von der Totalität der Berufsrolle in einem nicht vorhersehbaren Maße durchgesetzt. Wer aus eigener Erfahrung oder im Rahmen seiner Familiengeschichte sich eine Vorstellung von

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früheren Relationen von Arbeit und Freizeit machen kann, der wird sich nach diesen Zeiten nicht zurücksehnen. Andererseits kann jede Emanzipation nur so lange als Erfolg verbucht werden, wie das, wovon sich zu emanzipieren ist, noch einigermaßen mächtig gegenwärtig ist, und das ist der Zwang der entfremdeten fremdbestimmten Arbeit mit ihren sozialen Nötigungen. Entschwindet sie aus dem Blick beziehungsweise aus dem Reich der Notwendigkeit, dann droht der Emanzipation, weil sie ihre Ziele und ihren Sinn nicht aus und in sich selbst haben kann, sondern auf ihren Widerpart angewiesen bleibt, die Auszehrung. Bisher waren die Freizeittätigkeiten - obwohl sie an und für sich eine große Beliebigkeit hätten haben können - immer begrenzt in einem gewissen Spielraum, früher im Rahmen eines sogenannten Milieus, später dann im Rahmen von Kompensationen der jeweiligen beruflichen Anstrengungen, worauf ja oft genug kritisch hingewiesen wurde (z. B. Habermas 1957). Das Verdikt, die Menschen täten in ihrer Freizeit sowieso nicht, was sie "eigentlich" tun könnten und auch tun müßten - wie es zum Beispiel das Bildungsbürgertum und Pädagogen forderten -, war immer schon realitätsfremd; denn niemand kann sich in Freizeittätigkeiten bewegen, die nicht eine kulturell geformte soziale Resonanz haben. "Bildung" zum Beispiel kann sich jeder im Rahmen seiner Freizeit und seines Freizeitetats heute leisten; die Frage ist nur, was er damit im Rahmen seines "Milieus" - bei seinen Freunden und Arbeitskollegen zum Beispiel - anfangen soll. Wenn heute beispielsweise viele Jugendliche über mangelnde Freizeitmöglichkeiten und damit über Langeweile klagen, dann ist das objektiv falsch, aber subjektiv richtig oder wenigstens verständlich. Es ist falsch, weil keine Jugendgeneration vorher einen derartigen finanziellen Fond, derartige technische Möglichkeiten und ein derart dichtes und vielfältiges Netz von Freizeitangeboten vorgefunden hat. Man braucht sich ja nur einmal auszumalen, was man mit einem normalen Kassettenrecorder alles machen könnte, außer sich die neuesten Hits anzuhören. Dennoch ist die Klage subjektiv verständlich, weil für viele einfach die kulturellen Vorgaben fehlen, innerhalb derer zum Beispiel kreative Tätigkeiten eine soziale Resonanz hätten. Andererseits darf man wohl auch nicht vergessen, daß sehr viele in das System der Freizeitangebote so integriert sind, daß ihr Terminkalender einem

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Generaldirektor alle Ehre machen würde - was natürlich noch keine Bewertung eines solchen Engagements ist.

Wenn also die Arbeit zunächst nicht ersetzt werden kann als Zentrum des menschlichen Lebens, dann müßte versucht werden, sie neu für alle zu verteilen, damit die nächsten Generationen den Übergang zu einer Gesellschaft leichter vollziehen können, in der vielleicht wirklich die Freizeit ihre eigenen Lebensverbindlichkeiten zu stiften vermag.

Daß Freizeit auch die Zeit des bürgerlichen politischen Engagements sein könne oder sogar müsse, ist von den einen immer wieder gefordert, von den anderen immer wieder befürchtet worden. Wir sahen, daß die zunehmende Freizeit dem politischen Engagement in der Arbeiterbewegung nicht zugute kam, sondern im Gegenteil deren Professionalisierung, d. h. der Tätigkeit bezahlter Funktionäre, Vorschub leistete. In den fünfziger und sechziger Jahren setzte sich die Vorstellung von drei gesellschaftlichen Handlungsfeldern durch, die möglichst klar zu trennen seien: Arbeit beziehungsweise Betrieb, Politik und Freizeit. Wer dauerhaft politisch tätig sein wollte, mußte dies zu seinem Beruf machen, ein "Freizeitpolitiker" hatte außer vielleicht im lokalen Bereich wenig Chancen. Die politische Tätigkeit der meisten Bürger beschränkte sich auf die Wahl. Das Entstehen von Bürgerinitiativen veränderte diese Aufteilung des Lebens. Politische Aktionen, Demonstrationen, Hausbesetzungen, Geländebesetzungen usw. wurden zur neuen Freizeittätigkeit, wenn auch (zunächst?) nur für eine Minderheit. Hier engagierten sich Bürger in ihrer Freizeit für bessere Bedingungen ihres Freizeitlebens beziehungsweise gegen entsprechende Bedrohungen zum Beispiel der Umwelt. Das war insofern ein Novum, als bis dahin politische Aktionen dieser Art entweder an allgemeine politischen Fragen geknüpft waren (zum Beispiel Notstandsgesetze), oder an beruflich-betriebliche (zum Beispiel Lohnerhöhungen).

Angesichts dieser in der Freizeit entstehenden neuen Bewegungen stellte sich heraus, daß zwar die traditionellen Freizeittätigkeiten weiterhin "frei", d. h. kaum reglementiert sind, daß aber andererseits die politischen und ökologischen Rahmenbedingungen (Umweltbelastung, Bodenrecht, Städtebau) als bedrohlich oder zumindest als unzulänglich empfunden wurden. Diese Rahmenbedingungen zum politischen Kampfthema zu machen, bedeutete aber eben auch,

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die dem Handlungsbereich Freizeit bisher gesetzten Grenzen zu überschreiten. Darin drückt sich eine Neubesinnung auf die grundlegenden Lebenswerte aus; denn derartige Reflexionen müssen auf die Widersprüche stoßen, die in der erwähnten Dreiteilung des gesellschaftlichen Handelns beschlossen sind, sich darin geradezu verfestigt haben. Wenn der Spaziergänger auf einen sterbenden Wald trifft, dann beruhigt ihn der Gedanke wenig, daß die Verantwortung dafür in den Handlungsbereich Arbeit oder Politik gehöre. So wie die Freizeit bisher eine Restzeit war, so war eben auch der ihr entsprechende Handlungsbereich der Rest dessen, was die herrschenden ökonomischen Prinzipien der Arbeit und die daran orientierte Politik übrig ließen. In einem solchen Vorstellungshorizont ist neuer Sinn nicht zu finden, ihn findet man nur dann, wenn man neue Prinzipien aus den Vorstellungen eines "guten Lebens" in der Freizeiterfahrung entwickelt und als Forderung an die anderen beiden Handlungsbereiche richtet.

Politisch gesehen hat diese Tendenz aber auch ihre Grenzen; denn komplexe Gesellschaften bedürfen der professionellen und relativ zentralen Regierung und Verwaltung. Allerdings wäre denkbar - und auf Dauer ist es wohl auch unvermeidlich -, daß die Administration das gesellschaftliche Basishandeln wieder mehr freigibt, Verantwortlichkeiten und Entscheidungskompetenzen nach unten delegiert. Jedoch kann dies gerade nicht gelten für langfristige und großräumig notwendige Planungen und Entscheidungen, wie sie zum Beispiel die Umweltprobleme erfordern.

Die in diesem Kapitel beschriebenen Veränderungen im Verhältnis von Arbeit und Freizeit lassen die Vermutung zu, daß in Zukunft unser Leben sich abspielen wird zwischen der sich verkürzenden Erwerbstätigkeit einerseits und freiwillig gewählter, bezahlter oder unbezahlter politischer, sozialer oder auch wirtschaftlicher Tätigkeit andererseits - eine Perspektive, für die der überlieferte Begriff der "Freizeit" kaum noch passen würde.

Freizeitpädagogische Reaktionen

Wir hatten schon festgestellt, daß freizeitpädagogische Konzepte Reaktionen auf die mit Freizeit und Konsum zusam-

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menhängenden gesellschaftlichen Entwicklungen darstellen. Naumann wollte Ideale einer "christlichen" Erholung gegen die kommerzielle Verflachung der "Freudenindustrie" realisieren. Klatt wollte die Urlaubs-"Freizeiten" in bestimmter Weise gestalten.

Diese Traditionen setzten sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg fort. Im Gemeinde- und Vereinsleben beider Kirchen etwa entwickelte sich noch einmal eine christliche "Freizeit-Kultur". Ihre Bedeutung ging allerdings in dem Maße zurück, wie der allgemeine Wohlstand stieg. Die alten "Freizeiten" wurden nun in Erwachsenen- und Jugendbildungsstätten mit neuen Konzepten fortgesetzt, deren Grundgedanke aber blieb, daß das kurzzeitige gemeinsame Zusammenleben von Lehrenden und Lernenden an einem Ort besondere Chancen einer pädagogischen Kommunikation enthält. Wiederentdeckt wurden Formen und Methoden, die im reglementierten Unterricht der Schule kaum zu realisieren waren: offene, nicht durch vorgegebene Inhalte reglementierte Gespräche, freie Gesprächsformen, Begegnungen zwischen Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft oder politisch-weltanschaulicher Positionen, Arbeit in Kleingruppen, und dies alles im Rahmen eines "pädagogischen Bezugs", der durch ein hohes Maß an Gleichberechtigung charakterisiert war, da die Teilnehmer ja freiwillig in ihrer Freizeit kamen. Besonders bekannt wurden evangelische und katholische Akademien, Jugendhöfe und Kurzschulen (vgl. Giesecke 1966 und 1980; Schepp; Lüers). Hier wurden zum Teil didaktisch-methodische Konzepte erprobt, vor allem zur politischen Bildung, die später teilweise auch in Schulen Eingang fanden. Hinzu kamen die Ferien- und Zeltlagermaßnahmen der verschiedenen Jugendverbände, die nun auch das Interesse der wissenschaftlichen Pädagogen fanden (Giesecke u. a. 1967; Hansen 1970; Lauff/Homfeldt 1979; Hölzel 1971). Schließlich sind noch lokale Freizeitstätten zu nennen, in denen Kinder und Jugendliche ihre tägliche Freizeit verbringen können (Müller 1965; Giesecke 1980).

Es gab und gibt also auf dem Freizeitmarkt eine Fülle von pädagogischen Anbietern und Angeboten, mit denen wir uns hier im einzelnen allerdings nicht beschäftigen können, die aber den Kern dessen ausmachen, was wir

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Erwachsenenbildung und außerschulische Jugendarbeit nennen.

Im folgenden geht es um eine Darstellung der wichtigsten allgemeinen freizeitpädagogischen Konzepte in der Zeit nach 1945.

An Klatts Konzept knüpfte J. Zielinski in seinem Buch "Freizeit und Erziehung" (1954) an. Dabei erweiterte er den Freizeitbegriff auf die gesamte freie Zeit. Klatt hatte sich zwar im wesentlichen auf seine "Freizeiten" in Prerow konzentriert, hielt aber den gesamten Umgang des Menschen mit seiner Zeit für revisionsbedürftig und erhoffte sich entsprechende Impulse dafür aus den im Alltag nachwirkenden Erlebnissen seiner Veranstaltungen. Auf lange Sicht hielt er eine allgemeine Freizeiterziehung für unumgänglich und plädierte dafür, "daß jeder Werktätige und zwar von Jugend auf die richtigen Methoden der Freizeitgestaltung lernt" (Klatt 1933/34, S. 114).

Diese Intentionen greift Zielinski auf, allerdings mit der Vorstellung, daß das Freizeitproblem in erster Linie ein Problem der Arbeiter sei. Freizeiterziehung sei nötig, weil "die alten Erziehungsmächte" (Familie, Schule, Kirche) an Einfluß verloren hätten, "und so wurde der Arbeiterschaft der Boden unter den Füßen entzogen, von dem aus eine kulturelle Durchdringung der Freizeit, echte Muße also, möglich geworden wäre" (S. 49 f.). Insofern sei die moderne Freizeit ein "Danaer-Geschenk".

"Was tut denn der durchschnittliche Arbeiter in seiner Freizeit? Wenn er noch einigermaßen gesundes Leben in sich hat, geht er in den Schrebergarten (sofern er das Glück hat, einen zu besitzen). Oder er wandert, zumal am Wochenende. Oder er betätigt sich politisch, kommunal, vereinsgebunden, ehrenamtlich. Die Mehrzahl aber - und besonders die Jugend - strebt dort hin, wo die unheimlich und als Bedrohung empfundene Langeweile von der Freizeitindustrie gefüttert und damit quasi-beruhigt wird. Man eilt in voll gepfropften Trambahnen zum Fußballplatz, man geilt um pornographische Literatur, liest Groschenhefte und Kitsch, zerstreut sich in Gaststätten, Varietes, Zirkussen, dreht das Radio auf, um ja nicht in den vier Wänden mal allein zu sein, vergnügt sich am Tanz bis zum ausschweifenden Jazz (als einer modernen Form des Veitstanzes), fühlt sich nur wohl im Kollektiv, flieht das Theater, wo es zu geistiger Auseinandersetzung herausfordert, und genießt am liebsten das Kino, das aufgrund seines komplexen Charak-

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ters ... rasch und billig alles vergessen macht, vor allem die dunkel fragenden Stimmen des Innern, das Raunen eines Gewissens, das untergründig aufklingt und in den Launen und der Gereiztheit des modernen Menschen seine kompensatorische Auslösung findet" (S. 51).

Was Tradition und Sitte nicht mehr vermögen, nämlich der Freizeit einen kulturellen Sinn zu geben, muß durch systematische Freizeitpädagogik kompensiert werden. Ein systematische Freizeitpägogik legte Zielinski nicht vor, er beschränkte sich auf Postulate an die einzelnen Erziehungsinstitutionen. Zielinskis kulturpessimistische Sicht der modernen Massenfreizeit, die an die Diskussionen um die Jahrhundertwende erinnert, war in den fünfziger Jahren durchaus repräsentativ für große Teile des Bildungsbürgertums.

Unter "Bildungsbürgertum" verstehe ich jene Gruppen in der Bevölkerung - von einer sozialen Schicht oder Klasse kann man nicht sprechen, weil sie sich nicht als konsistente Gruppe artikulierte-, deren kulturelle Normen dem traditionellen Bildungsideal verpflichtet waren, und aus denen einerseits die die öffentliche Meinung weitgehend prägenden kulturellen Wortführer hervorgingen, die andererseits aber auch als Publikum den sozialen Resonanzboden abgaben für die Verbreitung bzw. Reproduktion jener kulturellen Normen. Dieses "Bildungsbürgertum", zu dem die Mehrzahl derjenigen gehörte, die das Gymnasium - vor allem das humanistische - abgeschlossen hatten, gab unbeschadet aller politisch-weltanschaulichen Divergenzen im einzelnen der Gesellschaft der fünfziger Jahre ihre kulturelle Identität.

Ein auf Dauer siegreicher Rivale erwuchs ihm in Gestalt der jungen Soziologie. Vor allem die Arbeiten von H. Schelsky (1956; 1957) und seiner Schüler relativierten das Persönlichkeits- und Bildungsideal des Bildungsbürgertums nachhaltig und führten, wie noch zu zeigen sein wird, auch zu einer Wende in den freizeitpädagogischen Vorstellungen. Ein interessantes Dokument in diesem Zusammenhang ist das "6. europäische Gespräch", eine öffentliche Diskussionsveranstaltung des Deutschen Gewerkschaftsbundes 1957 in Recklinghausen, das dem Thema "Freizeit" gewidmet war und bei dem bildungsbürgerlicher Kulturpessimismus und soziologische Distanz aufeinander trafen (vgl. Die freie Zeit, 1957).

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Die junge Soziologie ging das Freizeitproblem anders an als zum Beispiel Zielinski. Schelsky (1956) zum Beispiel hielt das alte Bildungsideal der autonomen, vielseitig gebildeten Persönlichkeit als freizeitpädagogische Leitvorstellung für unrealistisch. Er plädierte dafür, nicht derartige Ziele von außen an das Freizeitverhalten heranzutragen, sondern umgekehrt solche Ziele im realen Freizeitverhalten selbst zu suchen, zum Beispiel die Fähigkeit zur Auswahl und zur Distanz gegenüber dem Angebotsdruck und zur Beschränkung und Konzentration des Genusses zu stärken. Zahlreiche empirische Untersuchungen über das Freizeit- und Konsumverhalten entstanden Mitte der fünfziger bis Mitte der sechziger Jahre (vgl. Scheuch 1977), die unter anderem zeigten, daß das Freizeitleben der meisten Menschen - auch der jungen - wesentlich undramatischer verlief, als die Kritiker befürchteten (Scheuch 1977; Scheuch/Meyersohn 1972; Strzelewicz 1965). Es zeigte sich unter anderem, daß die Jungen kundiger mit dem Konsumangebot umgingen als die Älteren, und daß das Bild des hilflos dem Konsumdruck und seiner Angebote unterworfenen Individuums nicht zutraf, schon weil auch bei Jugendlichen ein ganzes Netz von teils formellen teils informellen sozialen Bindungen zu beobachten war.

In den sechziger Jahren nahmen die Klagen über die "Freizeitnot" vor allem der Jugend sowie die Forderungen nach einer Verbesserung freizeitpädagogischer Maßnahmen im pädagogischen Schrifttum deutlich ab (vgl. Hammerich 1971, S. 58 f.). Damals ging ja auch - wie wir schon sahen - das öffentliche Interesse am Jugendfreizeitschutz stark zurück. Von nun an traten solche freizeitpädagogische Konzepte - und übrigens auch solche des Jugendschutzes - in den Vordergrund, die das Freizeitproblem als ein allgemeines zum pädagogischen Thema machten - so wie andererseits das Konzept des "positiven Jugendschutzes" das nachlassende Interesse am "eigentlichen" Jugendschutz kompensieren sollte. Hammerich sieht in dieser Wende ein Legitimierungsbedürfnis der Freizeitpädagogik. In der Tat läßt sich zeigen, daß zum Beispiel in der außerschulischen Jugendarbeit, für die ja die "Freizeit der anderen" (Vgl. Schelsky 1965) ihre wesentliche Erwerbsgrundlage war, Anfang der sechziger Jahre ein Bedürfnis nach freizeitpädagogischer Theorie einsetzte, das einerseits durch die Verun-

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sicherung der ehrenamtlich Tätigen, andererseits durch den Wunsch nach professioneller Identität der Hauptamtlichen hervorgerufen wurde, sowie durch das Bedürfnis, die eigene Arbeit gegenüber der Öffentlichkeit - vor allem gegenüber der öffentlichen Hand - zumal dann zu rechtfertigen, wenn man neue, durchaus auch angefeindete Wege ging (vgl. Müller u. a. 1964; Müller 1965; Giesecke 1980). Zum anderen aber traten nun auch die Chancen der vermehrten Freizeit deutlicher ins Bewußtsein, und damit entstand auch ein pädagogisches Interesse an einer systematischen Behandlung dieses Themas und an seiner Einbeziehung in die allgemeine Pädagogik.

Auf diesem Hintergrund muß man wohl den freizeitpädagogischen Entwurf von Erich Weber (1963) sehen. Er geht aus von einer normativen Anthropologie und versucht, "sinnvolles" von "sinnlosem" Freizeitverhalten zu unterscheiden. "Sinn hat, was als konstituierender Beitrag letztlich der Verwirklichung von in sich selbst gültigen Werten (= Sinnwerten) dient" (S. 147). "Generell gilt, daß ein Freizeitverhalten sinnvoll ist, soweit es bedeutsame Aufgaben für die menschliche Selbstverwirklichung erfüllt" (S. 160). Demnach muß das Freizeitverhalten vor allem drei Funktionen erfüllen: Regeneration, Kompensation, Ideation.

Die Regeneration (S. 161 f.) ist eine unmittelbar notwendige Aufgabe, da ohne ständige Erholung nicht nur die Arbeitsfähigkeit nicht wieder hergestellt werden kann, sondern auch jede höhere geistige Tätigkeit unmöglich bleibt. je kürzer die Freizeit ist, um so mehr wird sie absorbiert von diesem Rekreationsbedürfnis. Je länger die Freizeit wird, um so mehr "ermöglicht (sie) über die bloße Kräfterestitution für neue Erwerbsleistungen hinaus noch die Gewinnung eines Kräfteüberschusses, der dem 'Menschen' zugute kommt, der mehr ist als bloßer Funktionär im Erwerbsleben" (S. 161). Allerdings muß die Fähigkeit einer richtigen Erholung gelernt werden - eine wichtige Aufgabe für die Freizeitpädagogik.

Die zweite Funktion der Freizeit, die Kompensation (S. 163 f.) soll jene Kräfte und Fähigkeiten des Menschen zur Entfaltung bringen, die im rationalisierten Arbeitsprozeß nicht zur Geltung kommen oder unterdrückt werden. Dazu gehört der private Konsum, mit dem unter anderem

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Anerkennung und Prestige gewonnen werden können, das Verlangen nach Abwechslung und überhaupt das Vergnügen, dessen Niveau man jedoch nicht nach zu hohen Maßstäben beurteilen darf, weil man niemandem vorschreiben kann, was ihm Vergnügen bereitet und was nicht. Aufgabe der Freizeitpädagogik sei hier, "sowohl die Bereitschaft und Empfänglichkeit für Vergnügungen als auch deren Niveau zu steigern" und "dem Einzelnen zu dem ihm individuell zugänglichen optimalen Vergnügungsniveau zu verhelfen" (S. 166). Überhaupt bietet die Freizeit im Unterschied zum Erwerbsleben die Chance, durch Besinnung auf die eigene Individualität sich dem Konformitätsdruck zu entziehen und zu einer persönlichen Lebensversion zu finden, wozu auch die Möglichkeit der Weiterbildung gehört. Begegnet werden muß der Gefahr, daß - was schon Klatt sah - die Hektik und der Leistungsdruck der Arbeitswelt sich auch auf die Freizeitgestaltung ausdehnen.

Schließlich muß die Freizeit auch über die bisher erwähnten, eher pragmatischen Aspekte hinausgehend die Möglichkeit bieten, zu den Grundprinzipien des eigenen Lebens- und Weltverständnisses vorzustoßen. Dies nennt Weber "Ideation" (S. 187f.) "Unter Ideation wird hier die Orientierung im Bereich des Ideellen verstanden. Das Ideelle gilt dabei als der Inbegriff der Ideen, von denen ein normativer und appellativer Anruf an den Menschen ausgeht" (S. 187). Hier wird der alte, in Religion und Philosophie geläufige Gedanke der "kontemplativen Muße" (S. 189) wieder aufgegriffen, die sich "zum Beispiel als künstlerische Betrachtung, philosophische Besinnung oder religiöse Andacht" äußern kann (S. 189). Weber greift dabei ausdrücklich auf die Schrift des katholischen Theologen und Philosophen Josef Pieper "Muße und Kult" (1958) zurück, die das Denken katholischer Intellektueller über Arbeit und Freizeit nachhaltig beeinflußt hat. Da die katholische Theologie und Soziallehre den modernen protestantisch-calvinistischen Arbeitsbegriff und seine Konsequenzen nie übernommen hat, ist es angebracht, in einem kleinen Exkurs auf Piepers Schrift einzugehen.

Pieper analysiert zunächst die totale Funktionalisierung des modernen Menschen durch die Arbeit, die in der Rede vom "Geistesarbeiter" ihren vollkommenen Ausdruck gefunden

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habe. Gestützt wird diese Entwicklung durch eine Philosophie, die "das Gute" und "die Mühe" identifiziert habe, und nur dem aktiven, tätigen Denken, nicht aber dem kontemplativen, "mühelosen" Denken Erkenntniswert zugesprochen habe. Im Begriff der "Muße" entwickelt Pieper einen Gegenbegriff zur modernen Definition der Arbeit, und zwar insofern diese als Aktivität, als Mühe, und als soziale Funktion bezeichnet wird. "Gegen die Ausschließlichkeit des Richtbildes der Arbeit als Aktivität ... steht die Muße als die Haltung der Nicht-Aktivität, der inneren Ungeschäftigkeit, der Ruhe, des Geschehen-Lassens, des Schweigens" (S. 52).

In ihr kommt etwas "von der Heiterkeit des Nichtbegreifenkönnens, von der Anerkennung des Geheimnischarakters der Welt" zum Ausdruck. "Gegen die Ausschließlichkeit des Richtbildes der Arbeit als Mühe ... steht die Muße als die Haltung feierlicher Betrachtung" (S. 55). Ihre höchste Form ist das Fest. "Das Fest ist der Ursprung, der innere und innebleibende Ursprung von Muße. Es ist der Feier-Charakter, durch den es der Muße zukommt, nicht allein mühelos zu sein, sondern das Gegenteil von Mühe" (S.56).

Schließlich "steht die Muße gegen die Ausschließlichkeit des Richtbildes der Arbeit als sozialer Funktion" (S. 56). Pause und Erholung sind immer auf den Arbeitsalltag bezogen, werden von daher bestimmt, funktionalisiert. Aber "nicht um der Arbeit willen ist die Muße da - so viel Kraft der tätig Werkende aus ihr auch gewinnt; Muße hat ihren Sinn nicht darin, als körperliches Ausruhen oder als seelische Erholung neue Kraft zu spenden zu neuer Arbeit - wiewohl sie dies tut!" (S. 57). Sie rechtfertigt sich nicht dadurch, daß der Mensch danach besser funktionieren könne; Muße "ist, ebenso wie die Gabe des kontemplativen Sichversenkens in das Seiende und die Fähigkeit zur festlichen Erhebung des Gemütes, die Kraft, in der Überschreitung der Arbeitswelt Berührung zu gewinnen zu übermenschlichen, Leben spendenden Seinsmächten, die uns dann erquickt und erneuert in den wachen Werktag entlassen" (S. 58).

Muße ist also nicht ableitbar aus den Determinanten der Arbeit, deren Verlängerung - auch in die Freizeit hinein kann die Fesselung an den Arbeitsprozeß nicht auflösen, den Menschen nicht zu sich selbst führen und in Einklang mit

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dem Sinn des Daseins bringen. Für Pieper ist folgerichtig die Diskussion um "sinnvolle" Freizeittätigkeiten viel zu vordergründig, wenn sie nicht zu einer Befreiung vom Diktat der Arbeitsideologie und der darauf bezogenen Freizeitideologie führen kann. Kern der Muße ist das Fest, die Feier, und sie kann nur gedeihen im Rahmen eines Kultes. Wo die Gegengesetzlichkeit des Kultes - zum Beispiel Zweck- und Nutzlosigkeit; Kontemplation - fehlt, wird die Arbeit unmenschlich, ja, selbst zum Kult erklärt, um auch die Bereiche des Nicht-Machbaren, Nicht-Planbaren, Nicht-Erforschbaren zu okkupieren. Kulte aber werden nicht von Menschen gemacht, sondern von Gott gegeben, und so richtet sich die Hoffnung des Theologen, der praktische Ratschläge nicht zu geben vermag, auf die Kultgemeinschaft der Kirche (S. 87).

Auf diesem Hintergrund wird vielleicht deutlicher, was Weber mit "Ideation" meint, nämlich eine Dimension, die nicht mehr beschreibbar ist aus der aktuellen Differenz von Arbeit und Freizeit.

Das Problem dieses wie anderer systematischer anthropologischer Entwürfe ist - neben den normativen Setzungen, die als solche akzeptiert werden können oder nicht - ihre Abstraktheit. Webers Konzept ist kaum in konkrete praktische Schlußfolgerungen zu übersetzen, auch und gerade dann nicht, wenn er das Individualisierungsprinzip ausdrücklich einführt, das heißt, daß die freizeitpädagogischen Maßnahmen sich nach den je individuellen Bedingungen und Voraussetzungen richten sollen. Im Grunde handelt es sich hier um regulative Ideen, an deren Maßstab die praktischen freizeitpädagogischen Handlungen und ihre Begründungen diskutiert werden können. Der Vorteil solcher Konstruktionen liegt allerdings darin, daß sie auch das benennen können, was nicht unmittelbar praktisch umsetzbar ist - wie zum Beispiel die Ideation -. so daß die Theorie auch eine kritische Distanz zum praktisch Machbaren aufrechterhalten kann. Ein weiterer Vorteil ist, daß gerade wegen der Offenheit zwischen den anthropologischen Prinzipien einerseits und den praktischen Schlußfolgerungen andererseits, diese eben auch in einem breiten Spielraum als vernünftig gelten können, solange eine gewisse Balance zu den anthropologischen Prinzipien gewahrt bleibt, etwa in dem Sinne: Der

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Wunsch der Menschen nach Vergnügen ist berechtigt und man kann niemandem vorschreiben, was ihn vergnügen soll, aber man muß auch die anderen Dimensionen des menschlichen Lebens im Blick behalten. So weist Weber auf eine Reihe von Gefahren hin, denen die Freizeitpädagogik nicht erliegen dürfe: Sie müsse vom Utilitarismus loskommen, bei dem immer etwas "herausspringen" müsse, "während alles Selbstzweckliche, nur in sich selbst Beglückende ausgeklammert und als 'Müßiggang' verdammt wird" (S. 205); sie dürfe auch nicht in Dirigismus verfallen, der andere - wenn auch in fürsorglicher Absicht - nur betreut und damit unmündig hält; zu warnen ist auch vor organisierter Betriebsamkeit sowie vor der "Reduzierung des Privatlebens" durch die Angebote pädagogischer Organisationen und Verbände, und - damit zusammenhängend - vor der Produktion einer "Konsumentenhaltung", die auf Initiative, Spontaneität und Produktivität verzichtet. Versucht die Freizeitpädagogik alle diese Gefahren zu vermeiden, so steht sie allerdings vor ihrem entscheidenden Dilemma:

"Freizeiterziehung muß einerseits führen, aber sie darf nicht zwingen oder gängeln. Sie soll andererseits Freiheit gewähren, aber den Einzelnen nicht hilf- und schutzlos sich selbst überlassen. Was Freizeit sinnvoll macht, läßt sich nicht organisieren, arrangieren und dirigieren, ist aber auch nicht schon von selbst vorgegeben und stellt sich ohne Betreuung auch nicht automatisch ein. Zwischen den beiden Extremen der straffen, heteronomen Einflußnahme und der Unterlassung jeglicher Freizeitlebenshilfe wird die Freizeitpädagogik eben immer wieder den rechten Weg, einen vernünftigen Ausgleich suchen müssen, der nicht völlig konfliktfrei zu finden sein wird" (S. 212).

So soll die Freizeitpädagogik mit einer gewissen Zurückhaltung "anregen und aneifern", "anleiten und einführen", "anbieten und bereitstellen", "beraten und unterstützen", "behüten und bewahren" und "umgestaltend und verbessernd einwirken" auf solche Verhaltensweisen, die pädagogische Bedenken auslösen (S. 213 f.).

Indem Weber die Freizeitproblematik als allgemeines pädagogisches Problem formuliert und behandelt, lokalisiert er es auch nicht mehr allein bei den Arbeitern. Ob und inwieweit Arbeiter ein spezielles Problem damit haben, muß im Rahmen der pädagogischen Individualisierungsperspektive geklärt und behandelt werden. In dieser Verallgemeinerung

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kommt einmal zum Ausdruck, daß das Selbstbewußtsein des Bildungsbürgertums, das sich seit Ende des vergangenen Jahrhunderts um die "sinnvolle" Freizeit der Arbeiter sorgte, zerbrochen war; zum anderen zeigt sich darin die Tatsache, daß der sozio-kulturelle Wandel, den das Freizeit- und Konsumsystem hervorgerufen hat, sich für alle Altersstufen und sozialen Schichten radikalisiert hatte.

Franz Pöggeler (1965) dehnt den Begriff der "Freizeitpädagogik" noch weiter aus, indem er sie faßt "als die Theorie von Problemen und Prozessen der Erziehung und Bildung, die durch die menschliche Freizeit bedingt werden". Freizeitpädagogik wird so "ein neues Motiv des gesamten pädagogischen Denkens" (S. 39), indem sie nämlich in kritischer Absicht die Theorie der Bildung und Erziehung im ganzen ergreift. "Ein pädagogischer Laborismus" (S. 42) beherrsche das pädagogische Denken, favorisiere einseitig den Arbeitsmenschen, die Schule habe vergessen, daß sie auch eine Stätte der "Muße" sein müsse. Im einzelnen sieht Pöggeler folgende grundlegende Einsichten durch das Freizeitproblem aufgeworfen:

1. Die einseitige Betonung von Arbeit und Betrieb ist anthropologisch falsch. ""Ein Leben kann sinnvoll sein, wenn es ganz und gar der Muße, die Beschauung, der Wahrheitssuche, der Verehrung Gottes gewidmet ist. Würde menschliches Leben aber auf Beruf und Arbeit beschränkt bleiben, würde der Sinn des Lebens verkürzt" (S. 42 f.).

2. Der hohe Grad der Institutionalisierung und Organisierung des Bildungswesens - eine Konsequenz des Arbeitsdenkens - verdeckt die Einsicht, daß "wesentliche Grundakte der Menschenbildung" "sich nicht organisieren, nicht veranstalten, nicht anordnen (lassen), so etwa die elementare Liebe zwischen Erzieher und Zögling, das spontane Gespräch zwischen Bildner und Partner, die Intensität helfenden und heilenden Beistandes bei Kindern, deren Erziehungsmöglichkeiten gering sind. Einer im Kern veranstalteten Menschenbildung fehlt sogar die Essenz wahrer Bildung. Organisation und Institution werden durch die freie Entscheidung des Erziehers und Bildners zur Hingabe an das Du des Partners überhöht. Der eigentliche pädagogische Elan ist weder planbar noch im methodischen Kalkül erfaßbar ... " (S. 43).

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3. Die Freizeit ist ein "freier Raum", "in dem (der Mensch) sich nach seinem Willen und Gutdünken bewegen, 'umtun', 'er-gehen' und betätigen kann" (S. 46). Aber das Bedürfnis nach "freiem Raum" muß auch im Beruf und Betrieb zur Geltung kommen können, sonst droht eine falsche Polarisierung: Freizeit = Freiheit, Beruf = Zwang.

4. Bildung verlangt Zeit. "Wer ausschließlich in den Kategorien von Arbeit und Beruf denkt, begreift nicht das Geheimnis der Bildung" (S. 47). Die in der Freizeit neugewonnenen Bildungschancen werden vertan, wenn sie unter das Gesetz der rationellen Zeitausnutzung gestellt werden. "Die Freiheit in der freien Zeit darf sich durchaus darin äußern, daß der Mensch das Gefühl hat, die Zeit verschwenden zu können, sie also im Überfluß zu besitzen. Um die Freizeitbildung würde es auf die Dauer nicht gut bestellt sein, stünde sie primär unter dem Gesetz der Nutzung" (S. 48). Freizeit ist nicht mehr "Annex der Berufstätigkeit", sie wird zu einer eigenständigen neuen Lebensdimension.

5. Erholung und Unterhaltung müssen im pädagogischen Denken rehabilitiert und dürfen nicht länger als "bildungsfremd" verdrängt werden. Zu suchen sind neben der Bildungs"arbeit" unterhaltende und erholende Formen der Bildung, zum Beispiel im Hinblick auf Möglichkeiten der Geselligkeit.

6 Das "neue Bildungsbewußtsein", das die Freizeit nahelegt, betrifft deshalb auch die "Sphäre schöpferischen Tuns, freien Daseins und meditativen Verweilens" (S. 51), im Unterschied zu den Vorstellungen der Formung und der Machbarkeit. "Zum Erlebnis wahrer Bildung gehört es, die Dinge sein zu lassen, wie sie sind, sie auf den Menschen wirken zu lassen, sich ihnen zu öffnen. Das gilt nicht nur für den Kontakt zwischen Mensch und Ding, sondern auch für das Verhältnis von Mensch und Mitmensch" (S. 51).

7. Die Freizeit legt nahe, das Ausmaß an öffentlicher Erziehung abzubauen zugunsten freier Bildungsgeselligkeiten und der "Reaktivierung der Familienerziehung" (S. 53).

8. Die "Kunst des Verbringens und des Vernehmens" (S. 53), die den neuen Bildungsbegriff charakterisiert, kann zu einer Wiederentdeckung des Musischen, auch des musischen Dilettierens führen. Hier verbindet sich der Mensch mit etwas "Über-flüssigem", "mit dem, was erst jenseits

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der Nützlichkeit seinen Sinn entfaltet, eine Schönheit, die das Leben verzaubert" (S. 56).

9. Schließlich wird durch die Freizeit wieder entdeckt, daß es ohne Muße keine Bildung geben kann. "Muße ist zweckfreie, aber sinnvolle Besinnung auf die wahre Ordnung des Lebens, auf die wahren Güter von Sein und Dasein. Menschliches Leben gerät in die Totalherrschaft des Utilitarismus, wenn nicht immer wieder die Leitkraft der Muße reklamiert wird. Von der Muße her bekommt die Arbeit ihren Sinn. Arbeit vermag sich nicht selbst ihren Sinn zu geben" (S. 57). Die Chance der Massenfreizeit ist die Chance der "Sozialisation der Muße".

Im ganzen geht also Pöggelers Argumentation dahin, einerseits in die Bildungsdiskussion wieder jene "alten" Momente einzubringen, die von Schiller bis Humboldt in der ursprünglichen Entfaltung der Bildungsidee geradezu konstitutiv waren, aber in der Folgezeit verdrängt worden sind von der Anlehnung am industriellen Begriff der Arbeit und ihrer Organisation. Andererseits warnt er vor einer pädagogischen "Gestaltung" der freien Zeit - gerade auch durch die einschlägigen pädagogischen Institutionen - nach jenen arbeitsorientierten Maßstäben von "Bildungsarbeit". Deshalb ist Freizeitpädagogik im wesentlichen "Anleitung zum Selbsttun". Erforderlich ist eine "Mußemethodik", die zum Beispiel "Methoden der Sammlung, des Sprechens, des Schweigens und des Verweilens" (S. 61) entwickelt, Methoden also, die der Hektik des "Keine-Zeit-Habens" entgegentreten können. Jedenfalls ist die "Vorbereitung auf vernünftiges Freizeitleben" "eine zukünftige Bildungsaufgabe von hohem sozialpolitischen Rang" (S. 61). Deshalb plädiert Pöggeler auch für einen neuen pädagogischen Beruf, den "Freizeiterzieher" oder "Freizeitlehrer". Er soll "neben einer Grundausbildung in der Theorie der Jugendarbeit und Erwachsenenbildung eine intensive theoretische und praktische Spezialausbildung für den Beruf des Freizeiterziehers bekommen. Grundlage der theoretischen Ausbildung muß eine neuartige, noch zu entwickelnde ... Freizeitpädagogik sein, verbunden mit der nötigen Information über die ökonomischen, sozialpolitischen, psychologischen, soziologischen, juristischen und pastoralen Aspekte der Freizeit. Die praktische Ausbildung sollte einerseits eine Erprobung in wichtigen Bildungsformen (Gespräch, Wanderung, Reise,

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gesellige Aktivitäten usw.) umfassen, andererseits eine Spezialausbildung für einzelne Grundformen, sei es für Werken oder für Sport, für Leseberatung oder Gesprächsarbeit, für handwerkliche oder künstlerische Tätigkeiten. Der hauptberufliche Freizeiterzieher muß auf einzelnen Gebieten des Freizeitlebens ein versierter Fachmann sein; es ist abzulehnen, daß sich seine Tätigkeit ausschließlich auf das Organisieren und Planen von Freizeittätigkeiten beschränkt, wiewohl dies einen gewichtigen Teil der Arbeit eines Freizeiterziehers ausmachen muß" (S. 68).

Pöggeler argumentiert aus den Erfahrungen der Erwachsenenbildung, und ihr gelten in erster Linie seine Warnungen. Es ist der bisher letzte freizeitpädagogische Versuch, die Substanz des klassischen Bildungsbegriffs in Verbindung mit grundlegenden anthropologischen Prinzipien wieder zum Bewußtsein und zur Geltung zu bringen. Das hat sich in der weiteren Diskussion nicht durchsetzen können - vermutlich vor allem deshalb nicht, weil es dafür keinen sozialen Träger etwa in Gestalt des Bildungsbürgertums mehr gab. Ähnlich ging es der von Pöggeler favorisierten "musischen Bildung". Paul Heimann (1957) hatte schon darauf hingewiesen, daß die Inhalte und Formen der "musischen Bildung", die ja wesentlich beeinflußt waren von reformpädagogischen Impulsen und solchen der erwähnten "Jugendmusikbewegung" und eben auch von deren problematischen kulturkritischen Implikationen, außerhalb der Schule, zum Beispiel auch im Elternhaus, kaum eine soziale Resonanz fanden und somit eigentlich nur in der Schule selbst praktizierbar waren. Heimann plädierte damals unter anderem für eine Öffnung gegenüber den Massenmedien.

Abgesehen davon gelten auch für Pöggeler die schon bei Weber erwähnten Mängel und Chancen: Einerseits die hohe Abstraktion, die wenig Konkretisierung für das pädagogische Handeln brachte, andererseits aber eben auch gerade deshalb die Aufrechterhaltung der Komplexität des pädagogischen Handlungsfeldes, dem regulative Perspektiven angeboten wurden. Wir werden später auf seine prinzipielle Argumentation noch zurückkommen.

Aber den Bedürfnissen der an der Basis tätigen Freizeitpädagogen, deren Notwendigkeit Pöggeler selbst begründet hatte, kam sein Konzept offensichtlich nicht entgegen. Dies

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mag eine Ursache mit dafür gewesen sein, daß sich neben diesem normativen beziehungsweise bildungstheoretisch orientierten Ansatz ein anderer entwickelte, den ich den sozialwissenschaftlichen nennen möchte. Seine wichtigsten Vertreter sind Wolfgang Müller (1965) und Wolfgang Schulz (1965), wobei Müller seine Überlegungen aus der Praxis der außerschulischen Jugendarbeit entwickelte. Beide griffen die schon erwähnte Anregung von Schelsky auf, nicht von außen Erziehungsziele an das Freizeitverhalten zu richten, sondern die freizeitpädagogischen Ziele aus dem Lebenszusammenhang der Freizeit selbst zu entwickeln. Allerdings ist diese Beschreibung ungenau, denn wenn Schelsky zum Beispiel die Fähigkeit zur Auswahl aus dem Konsumangebot für ein vernünftiges Erziehungsziel hält, dann können die Maßstäbe dafür ja nicht einfach aus dem Freizeitleben selbst erwachsen, sondern sie setzen ein Persönlichkeitsbild voraus, das dem des "Gebildeten" gar nicht so weit entfernt ist. Im Grunde wollte Schelsky nur die Blickrichtung ändern: Die Persönlichkeit als Ergebnis von Anpassung und Widerstand in den konkreten Lebensbereichen, also auch in der Freizeit, nicht als vorgegebene Größe für die Ableitung von Erziehungszielen. Jedenfalls konkretisierten sich die freizeitpädagogischen Überlegungen in diesen Konzepten, man sah sich das tatsächliche Freizeitverhalten der jungen Menschen genauer an und versuchte, freizeitpädagogische Überlegungen und Maßnahmen daran anzuknüpfen.

Als Beispiel für die sozialwissenschaftliche Richtung sei die schon erwähnte Arbeit von Wolfgang Schulz (1965) vorgestellt. Schulz begründet die Notwendigkeit einer Freizeiterziehung im wesentlichen damit, daß das Freizeitsystem einen bedeutsamen sozio-kulturellen Wandel markiert, der Erziehungshilfen im Sinne von Lernhilfen notwendig mache, und daß zweitens überlieferte pädagogische Grundsätze und Intentionen dafür nicht mehr angemessen seien. Dabei wendet er sich ausdrücklich gegen die normative Pädagogik und optiert für eine "offene Gesellschaft", deren Normen pluralistisch seien, und diese Pluralität werde gerade in der Freizeit erfahren. Wer in überlieferten Normen und Traditionen heranwachse, zum Beispiel im Rahmen einer religiösen Gemeinschaft, könne zwar noch von daher auch grundlegende Orientierungen für sein Freizeitle-

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ben erhalten, aber immer mehr Menschen müßten sich ohne eine solche Orientierung unmittelbar der normativen Pluralität stellen. Deshalb können die Maßstäbe für ein autonomes Verhalten im Freizeit- und Konsumbereich immer weniger aus selbstverständlichen Überlieferungen erwachsen, sie müssen immer häufiger aus der Erfahrung in diesem Bereich als Einzel- oder Gruppenentscheidungen entstehen. Auf diesem Hintergrund schlägt Schulz folgende pädagogische Ziele vor:

"Freizeiterziehung muß dem Heranwachsenden helfen, neben der Berufsrolle anspruchsvolle berufsunabhängige Rollen zu übernehmen, um ihn von seiner Identifikation mit der Berufsrolle abzuhalten und Rollenwechsel zu kultivieren, damit er seinen beruflichen Einsatz steuern und dessen Einseitigkeit kompensieren kann; dem Erwachsenen muß geholfen werden, sich diese Flexibilität zu erhalten oder sie wiederzugewinnen.

Freizeiterziehung muß helfen, im Wechsel der Rollen die Selbstrolle zu erkennen und zu korrigieren, eine Instanz, die die Individualität interpretiert, indem Rollen akzeptiert, akzentuiert oder abgelehnt werden, gemäß dem Verhalten, das man von sich selbst erwartet. Freizeiterziehung muß helfen, im Rahmen der gesellschaftlichen Gegebenheiten Verhaltensmuster für die Freizeitaktivitäten zu entwickeln: Zur Rekreaktion, zur Gestaltung in teamgruppenhaften Beziehungen, zur Teilhabe am öffentlichen Leben, zur spielerischen Produktivität, zum kritischen Genuß des Kulturangebots, zur Korrektur der Arbeitssituation.

Freizeiterziehung muß stetige und differenzierte Orientierung und deren Integration erleichtern, wie sie in einer dynamischen und pluralistischen Großraumgesellschaft für angemessene Verhaltenssteuerung unerläßlich sind.

Freizeiterziehung muß helfen, den Angeboten der Überflußgesellschaft gegenüber eine ausreichende Frustrationstoleranz zu entwickeln, die fähig und bereit zur partiellen Nichtpartizipation macht: damit man nicht über Begehrlichkeit und Prestigewillen der Fremdsteuerung unterliegt.

Freizeiterziehung sollte insbesondere die Kontraktfähigkeit entwickeln und erhalten helfen, als Gegenstück zur Dogmengläubigkeit der geschlossenen Gesellschaft und als Ergänzung der Bindung an die absoluten Werte der Glaubensgemeinschaften: Verhaltensregeln müssen erarbeitet, Übereinkünfte gehalten werden können, ohne daß man Einwände, die man gegen sie hat, nach dem anderslautenden Beschluß der Mehrheit aufgibt" (S. 213 f.).

Es geht Schulz also "um die Fähigkeit zu autonomem Freizeitverhalten als Teil von Autonomie überhaupt" (S. 215).

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Um dies zu lernen braucht der Heranwachsende Experimentierfelder, realistische - und nicht nur in einer "pädagogischen Provinz" angebotene - Aufgaben sowie mannigfaltige Sozialerfahrungen. Die geplanten Einflußmaßnahmen auf das Freizeitverhalten sollten nicht in der Freizeit selbst erfolgen. "Es ist ohne weiteres möglich, in dem Raum, der dem Erzieher außerhalb der Freizeit zur Verfügung steht, genügend Anregungen zu geben, so daß erzieherische Eingriffe in der Freizeit selbst lediglich in dem Maße erfolgen, in dem der Zögling es wünscht ... der Erzieher ermuntert, aber er drängt sich nicht auf. Wo er als Fachmann benötigt wird, macht er Alternativvorschläge. Wie jeder andere, ist er der rückblickenden Kritik ausgesetzt" (S. 216 f.). Spezialinteressen sollen gefördert, eine kritische Haltung gegenüber Freizeit, Konsum und Massenmedien sollte eingeübt werden.

Schulz nimmt also ebenso wie W. Müller (1965) die normative Pluralität als normative Desorientierung im Freizeit- und Konsumsystem ernst, und mutet folgerichtig die Entscheidung über Ziele und Werte des Freizeithandelns den Subjekten selbst zu, die sie gemeinsam mit anderen finden und experimentell erproben müssen. Leitmotiv ist dabei der von Riesman übernommene Begriff der "Autonomie", also einer Verhaltenssicherheit, die durch ein ausbalanciertes Verhältnis von Mitmachen und Distanz zu charakterisieren ist. Vorausgesetzt wird dabei jene schon erwähnte ökonomische Prämisse, daß hoher Konsum eine Art von "Bürgerpflicht" sei, weil nur dann der allgemeine Wohlstand wachsen könne. Insofern hält auch Schulz Leben im Konsum für unausweichlich, die pädagogische Arbeit ist darauf verwiesen, gleichsam das Beste daraus zu machen.

Indem die Menschen, so wie sie in ihrer Freizeit leben, zum eigentlichen Thema der Freizeitpädagogik werden, bekommen auch die Freizeitpädagogen eine neue Position, nämlich als kommunikative Partner zum Beispiel für Jugendliche, die helfen, raten und anregen, aber außer sich selbst nichts mehr vertreten, weder objektive Normen - außer rechtlichen - noch außersubjektive kulturelle oder wissenschaftliche Maßstäbe. Der "pädagogische Bezug" wird also in gewisser Weise subjektiviert, was den Erzieher durchaus weiterhin als "Vorbild" wirken lassen kann. "Nicht nur der Dienst an fraglos anerkannten Werten, sondern auch das experimentierende Verhalten in einer sich wandelnden Welt können

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beispielhaft vorgelebt werden" (S. 218). Normen für Verhaltenssicherheit und Maßstäbe für kulturelle Stile und Interessen sind hier zu einer Suchleistung und zu einem wechselseltig zu kommentierenden Probehandeln geworden. Der Freizeiterzieher hat gegenüber seinen Partnern keinen Vorsprung mehr, er befindet sich in der gleichen Verlegenheit angesichts der Chancen und Zwänge des Freizeit- und Konsumsystems. Die regulativen Ideen, die etwa bei Pöggeler ja auf außersubjektive und letztlich religiös fundierte anthropologische Maximen zurückgehen, können nun nur noch in der Zufälligkeit einer Erziehergestalt zur Geltung kommen. Derartiger außersubjektiver Ansprüche und Maßstäbe beraubt, wird Freizeitpädagogik zur kommunikativen Reproduktion von Moden und Stilen, wie sie das kommerzielle Freizeit- und Konsumsystem in ständigem Wechsel eingibt.

Damit sind die wesentlichen freizeitpädagogischen Grundpositionen skizziert. Die pädagogischen Arbeiten der siebziger bis Anfang der achtziger Jahre, vor allem von Nahrstedt und Opaschowski erbringen in diesem Punkte nichts prinzipiell Neues mehr. In dieser Zeit tritt die alltägliche "Lebensqualität" ins öffentliche Bewußtsein. "Freizeitpolitik" (vgl. Kohl) ist die Antwort von Politikern, Parteien und zahlreichen Organisationen. Es geht vor allem darum, die Wohnungsumgebung einschließlich der Naherholungsgebiete "freizeitfreundlicher" zu gestalten. Vielfältige öffentliche Kritik erhebt sich, zum Beispiel an der Wohnungsbaupolitik (Beispiel: "Märkisches Viertel" in Berlin), an fehlenden Spielmöglichkeiten für Kinder sowie an der Benachteiligung von Minderheiten wie Alte, Arme und Gastarbeiter. Allmählich wird bewußt, daß der Wiederaufbau nach dem Kriege durchweg arbeits- und betriebsorientiert war: man brauchte möglichst viele Wohnungen und möglichst in der Nähe von Arbeitsplätzen, was die Menschen in ihrer Freizeit taten, galt als ihre Privatsache. Trat "Freizeitpolitik" zunächst noch unter quantitativen Wachstumsgesichtspunkten an - mehr Sportstätten, Schwimmbäder, Spielplätze USW. -, so ging es bald eher um Umweltprobleme und um die Erhaltung alten (und billigen) Wohnraumes. Vor allem in der alternativen Jugendszene entstand eine neue Sensibilität für den Nahbereich, verbunden mit einer heftigen Kritik

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an der zivilisatorischen Bedrohung durch die Verschandelung der Landschaft und die Gefahren der Kernkraft.

Auf dem Hintergrund dieses freizeitpolitischen Interesses bekam auch die Freizeitpädagogik einen neuen Auftrieb. Sie etablierte sich nun an einigen Hochschulen als erziehungswissenschaftliche Teildisziplin. "Beratung" und "Animation" wurden Leitmotive des freizeitpädagogischen Handelns, entsprechende "Berufsbilder" für ein neues pädagogisches Arbeitsgebiet - die Freizeit - entworfen und teilweise realisiert (Nahrstedt 1982; Opaschowski 1973).

Hatte Weber drei anthropologische Funktionen der Freizeit formuliert (Rekreation, Kompensation, Ideation), so schlug Opaschowski nun acht "individuell-gesellschaftliche Zielfunktionen der freien Zeit" vor:

"l. Rekreation: Erholung und Entspannung (zum Beispiel Ausruhen, Nichtstun, gesundheitsfördernde Tätigkeiten)

2. Kompensation: Ablenkung und Zerstreuung (zum Beispiel Entlastung, Unterhaltung, Vergnügen; Ausgleich von Mängeln, Versagungen, Entbehrungen, Enttäuschungen, insbesondere unbefriedigte Ansprüche auf Achtung, Anerkennung und Geltung).

3. Edukation: Lernen und Weiterbildung (zum Beispiel "edukation permanente", Lernen von Freiheit in Freiheit, soziales Lernen).

4. Kontemplation: Selbstbesinnung und Selbstfindung (zum Beispiel Sinnfindung des Lebens, Muße, geistige Erbauung, Beschaulichkeit, Nachdenken, Meditation, religiöse Andacht, künstlerische Betrachtung, Identitätsfindung).

5. Kommunikation: Mitteilung und Partnerschaft (zum Beispiel Austausch von Informationen, Kontakte zwischen Individuen und Gruppen, personale Beziehungen, Artikulation individueller Bedürfnisse im Dialog; Begegnung, Sensibilisierung für die Gefühle und Absichten anderer).

6. Partizipation: Beteiligung und Engagement (zum Beispiel Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, Mitwirkung am öffentlich-politischen Geschehen, demokratische Mitsprache, Mitbestimmung und Mitverantwortung, Solidarität und soziale Aktion, Gemeinschaftsbewußtsein).

7. Integration: Sozialorientierung und gemeinsame Lernerfahrung (zum Beispiel Stabilisierung des Familienlebens, Hineinwachsen in Schule, Nachbarschaft, Gemeinwesen und Gesellschaft, Orientierung an institutionalisierten Formen der Kindererziehung, des religiösen Verhaltens, der Zusammenarbeit u. a.).

8. Enkulturation: Kulturelle Selbstentfaltung und Kreativität (zum Beispiel Teilnahme an der Gegenwartskultur, Kultivierung eigener Möglichkeiten in Spiel, Sport, Kunst und Wohnkultur, Erlernen

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kulturtechnischer Fertigkeiten, schöpferische Tätigkeiten)" (S. 118).

Der Vorteil dieser Ausdifferenzierung ist sicher, daß auf diese Weise mehr Einzelgesichtspunkte in den Blick geraten. Der Nachteil ist zweifellos, daß diese Zielfunktionen additiv wirken, weil sie nicht in einen bildungstheoretischen oder anthropologischen Zusammenhang gebracht sind. Neu ist, daß auch die politische Partizipation ausdrücklich in den Katalog aufgenommen ist. Abgesehen davon aber zeigt sich, daß "Freizeitpädagogik" hier soweit verallgemeinert wurde, daß sie ihre Ziele als pädagogischer Teilbereich kaum wird erreichen können. Es sind Ziele nicht nur für die Freizeitpädagogik, sondern für das Bildungswesen insgesamt.

Im übrigen ließ der für eine Universitätsdisziplin typische Hang zur Vollständigkeit nun alles zum Thema werden, was irgendwie mit Freizeit zu tun hat. Nahrstedt zum Beispiel erprobte das Konzept der Animation auch im Rahmen der kommerziellen Touristik (1974, I, S. 167ff.). Nahrstedt, der den früher erwähnten Zusammenhang von Freizeit und Freiheit seit der Aufklärung untersucht hat (1970), verlängert diese Einsicht nun in die Zukunft und erwartet bei Beibehaltung der Polarisierung von Arbeitszeit und Freizeit das Heraufkommen einer Freizeitgesellschaft, in der nur noch wenig gearbeitet wird und die das Versprechen der Aufklärung nach Freiheit einlösen werde. Opaschowski, der diese Position vehement kritisiert (1976, S. 150ff.), sieht einen Zuwachs an Freiheit nur, wenn sie nicht auf einen Teil der menschlichen Zeit, die Freizeit, beschränkt wird, sondern für die menschliche Existenz im ganzen gilt, also auch für die Arbeitszeit, die deshalb flexibel gestaltet werden soll.

So wichtig dieses Problem als ein sozialpolitisches für die Zukunft ist, so bleibt doch die Frage, wie weit sich daraus praktische freizeitpädagogische Konsequenzen ableiten lassen. Überhaupt erwecken die freizeitpädagogischen Publikationen seit den siebziger Jahren den Eindruck, daß der Gegenstand - nämlich die freizeitpädagogische Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeit - nicht trägt, was der Umfang der Publikationen verspricht. Die Wissenschaft droht sich hier gegenüber ihrem praktischen Gegenstand zu entfremden. Deshalb soll im folgenden Kapitel das Ergebnis unserer historischen Betrachtung ein wenig systematisiert werden.

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IV. Resümee über Freizeitpädagogik

Wozu noch Freizeitpädagogik?

Unsere historische Darstellung hat drei verschiedene Versionen des Begriffs "Freizeitpädagogik" erbracht:

1. Freizeitpädagogik als pädagogische Hilfe in der Freizeit für deren "sinnvolle" Gestaltung;

2. Freizeitpädagogik als "Freizeitenpädagogik" in den Ferien in Distanz zum Alltag;

3. Freizeitpädagogik als besonderer Aspekt der allgemeinen Pädagogik, als Reflexion aller Probleme, die aus der menschlichen Freizeit entstehen.

Gegenwärtig bestehen diese drei Begriffe - und die Wirklichkeiten, die sie bezeichnen - nebeneinander, und sowohl diese gegenwärtige Gleichzeitigkeit wie auch ihr historischer Entstehungszusammenhang signalisieren Reaktionen auf einschneidende sozialgeschichtliche und kulturelle Veränderungen.

Für die Gegenwart und Zukunft von Bedeutung und noch einmal einiger grundsätzlicher Überlegungen wert scheint mir lediglich die dritte Version zu sein.

Was die erste Version betrifft, so ist historisch gesehen der Versuch gescheitert, ein pädagogisch motiviertes Programm gegen den Freizeit- und Konsummarkt durchzuhalten; mit dem Niedergang des Bildungsbürgertums als kultureller Führungsschicht verschwanden auch die für einen solchen Anspruch notwendigen und öffentlich anerkannten Normen und Leitbilder. Das freizeitpädagogische Konzept von W. Schulz ist die Konsequenz aus dieser Entwicklung: Freizeitpädagogik ist nun Kommunikation über prinzipiell beliebige Inhalte mit offenem Ergebnis und in der Erwartung, daß sich dabei die Handlungskompetenz erweitert. Diese Intention, ursprünglich wohl in erster Linie für Jugendclubs und Jugendfreizeitstätten gedacht, hat sich inzwischen auch in anderen Freizeitbereichen durchgesetzt; man denke etwa an den sogenannten "Psycho-Markt" oder

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an zahlreiche gruppendynamisch orientierte Veranstaltungsformen in Jugendarbeit und Erwachsenenbildung. In solchen Konzepten spiegelt sich die Tatsache wider, daß in einem hohen Maße grundlegende Lebensentscheidungen auf die Individuen zurückgefallen sind, die dabei mangels allgemeingültiger kultureller Vorgaben der Resonanz und Korrektur anderer zu bedürfen scheinen, - wobei ein Extrem die Unterwerfung unter ein Gruppen-Wir sein kann, um der Notwendigkeit persönlicher Entscheidungen zu entgehen.

Abgesehen von diesem "Kommunikations-Markt" wäre auch für die Zukunft denkbar, daß die öffentliche Hand solche Angebote unterstützt, die aus irgendwelchen Gründen erwünscht, aber kommerziell nicht interessant sind, zum Beispiel Programme der Weiterbildung beziehungsweise der Bildung überhaupt, Programme für Minderheiten usw. Welche Auswirkungen dabei die moderne Mikro-Elektronik haben wird, ist schwer vorauszusehen. Vermutlich werden Video und Computer das Bildungswesen im Ganzen revolutionieren.

Die "Freizeitenpädagogik" - die zweite Version unseres Begriffs - wie sie in den zwanziger Jahren entstand, hat sich weitgehend durchgesetzt und ist heute ein fester Bestandteil des Freizeitangebotes in Gestalt von Tagungen, Lehrgängen und Kongressen geworden. Allerdings blieben die Arbeiterschaft und ein großer Teil der kleinen Angestellten noch lange Zeit davon mehr oder weniger ausgeschlossen, - teils aus finanziellen Gründen, teils wegen der damit verbundenen sozialen Barrieren, vor allem aber auch wegen fehlender Beurlaubung. Erst der "Bildungsurlaub" hat hier neue Möglichkeiten eröffnet. Obwohl an sich die möglichen Inhalte und Formen solcher Veranstaltungen unbegrenzt sind, haben sich nicht zuletzt unter dem Druck der Richtlinien der öffentlichen Finanzierung sehr arbeitsorientierte Programme durchgesetzt, - sei es, daß Themenstellung und Aufgaben direkt berufsbezogen sind (Weiterbildung), sei es, daß zumindest die Programmgestaltung bei eher allgemeinbildenden Themen in etwa den Anforderungen eines normalen Arbeitstages entspricht. Klatts Idee, die Tatsache des Zusammenlebens in Distanz zum Alltag pädagogisch zu sinnorientierten "ganzheitlichen" Reflexionen zu nutzen, scheint nur in Ausnahmefällen noch eine Rolle zu spielen,

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und Poeggelers kritischer Hinweis darauf, daß Bildung nur durch Relativierung arbeits- und organisationsorientierter Maßstäbe zu gewinnen sei, hat eher noch größeres Gewicht bekommen. Die neuen kulturellen Bewegungen, die ja die Sinnfrage neu aufwerfen, scheinen jedenfalls solcher organisierter "Freizeiten" kaum zu bedürfen zu ihrer Selbstverständigung.

Die beschriebene historische Entwicklung legt die Überlegung nahe, ob es sinnvoll ist, den Begriff "Freizeitpädagogik" weiterzuverwenden. Gewiß ist es schwierig, eine auch in Institutionen und Ausbildungsgängen etablierte Bezeichnung zu wechseln. Treffender wäre jedoch sicher, von "außerschulischer Bildung" oder von "kultureller Bildung" zu sprechen. Das würde auch den Blick schärfen für die Ausbildungsanforderungen, die an pädagogische Berufe in diesem Bereich zu stellen wären. Wer hier tätig sein will, muß etwas von den - im weitesten Sinne - kulturellen Gehalten verstehen: von einem Handwerk, einer Kunst, einer Wissenschaft, von Literatur, Massenkommunikation oder Politik.

Eine solche Sicht war im Grunde schon in Poeggelers Konzept vorweggenommen, denn für seine Rekonstruktion des Bildungsgedankens im Rahmen der Freizeitmöglichkeiten paßt der Ausdruck "Freizeitpädagogik" nur noch in einem übertragenen Sinne. Das wird deutlicher, wenn wir uns diese dritte Version des Begriffs etwas genauer ansehen.

Obwohl bei Klatt mit seiner Idee der "Freizeithochschule" bereits angedeutet, setzt sich die dritte Version des Begriffs "Freizeitpädagogik", nämlich als Chiffre für die mit der Freizeit gegebenen Probleme überhaupt, erst in den sechziger Jahren durch (Weber 1963; Pöggeler 1965). Diese Verallgemeinerung ist nur eine konsequente Reaktion auf die Einsicht, daß die vom Freizeit- und Konsumsystem ausgehenden Sozialisationswirkungen nicht mehr nur im Rahmen der Freizeit diskutiert werden können, sondern zu einer grundsätzlichen pädagogischen Neubesinnung zwingen. Vorher ging es im wesentlichen darum, bestimmten Schichten beziehungsweise Gruppen nach den Maßstäben eines bürgerlichen Bildungs- und Kulturverständnisses zu einem "sinnvollen" Freizeitverhalten zu verhelfen, und zwar gegen diejenigen Alternativen, die das kommerzielle Angebot für die

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tägliche und für die Wochenendfreizeit lieferte. Im Blick waren dabei vor allem die Arbeiter und die (Arbeiter-) Jugendlichen. Die vor dem Ersten Weltkrieg entstandene "Jugendpflege" war und ist eine großangelegte Freizeitpädagogik in dem Sinne, daß Jugendlichen ein pädagogisch überlegtes Freizeitangebot gemacht wurde, das ihnen einerseits den erwünschten Freiraum gewähren sollte, diesen andererseits aber auch gesellschaftlich kontrollieren konnte (vgl. Giesecke 1981). Nur vordergründig ging es nämlich dabei um kulturelle Alternativen, etwa darum, ob das Volkslied besser sei als der Schlager oder das Theater bildender als das Kino. Deutlicher bei den jugendlichen als bei den erwachsenen Arbeitern stellte sich vielmehr heraus, daß die Freizeit das alte System der sozialen Mächte (bei den Erwachsenen) beziehungsweise Erziehungsmächte (bei den Jugendlichen) einschneidend veränderte. Mit den kommerziellen Freizeitanbietern nämlich kam ein "Erziehungsfaktor" ins Spiel, der seiner Natur nach keine pädagogischen Ambitionen hatte, sondern wesentlich den Regeln des Marktes gehorchte. Und dieser Faktor relativierte den Einfluß und die Normen der anderen Erziehungsmächte mehr und mehr. Die Freizeit wurde zu einer Lebenszeit mit immer mehr Optionen (Wahlmöglichkeiten) - im Hinblick auf die Verbringung der Zeit, die Wahl der Konsumgüter und auch normativ-sittlicher Alternativen. Und die Fülle der Optionen wurde schließlich das Freizeitproblem, und zwar auf die Dauer für alle Menschen, verstärkt natürlich für die Heranwachsenden. Das Freizeitsystem lieferte nämlich die Regeln und Maßstäbe, nach denen zu optieren sei, nicht mit. Im Gegenteil sorgte es selbst mit dafür, daß die alten Leitbilder der Erziehungsmächte und der kulturellen Traditionen (z. B. Bildung) verblaßten, so daß die in der Freizeit wirkenden Massenmedien zu unentbehrlichen Orientierungshelfern wurden, was allerdings auch nur zu mehr oder weniger häufig wechselnden Moden führte, da die Medien keine allgemein gültigen normativen Prinzipien vertreten können.

Option und Identität

Ich möchte nun das Kernproblem der Freizeitpädagogik, so wie ich es sehe und um dessentwegen die freizeitpädagogi-

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schen Überlegungen in die allgemeine Pädagogik zurückgeholt werden müssen, als das Verhältnis von Option und Identität bezeichnen und es im folgenden etwas genauer beschreiben. Ich wähle dabei nicht wie Weber und Pöggeler einen systematischen anthropologischen bzw. bildungstheoretischen Ansatz - diese Überlegungen setze ich vielmehr voraus, sondern versuche, ähnlich wie W. Schulz vorgegangen ist, unter Berücksichtigung der beschriebenen historischen Veränderungen die Probleme aus der Sicht der Betroffenen zu beschreiben. Dies ist allerdings nicht subjektivistisch gemeint, sondern gerade im Hinblick auf die allgemeinen, außersubjektiven Tatbestände, die vielen gar nicht bewußt sind.

Dabei muß man deutlich sehen, daß diese objektiven Probleme zwischen den heute lebenden Generationen noch thematisiert werden können. Der in diesem Buch beschriebene Zeitraum mit seinen faktischen und normativen Veränderungen wird noch durch lebende Menschen repräsentiert, und die dabei zutage tretenden Differenzen können noch im Erziehungsprozeß zu produktiven oder unproduktiven Konflikten, aber auch zur Besinnung zwischen den Generationen führen. Denkt man das Ganze jedoch einige Generationen weiter, dann werden alle lebenden Generationen unter denselben kulturellen Bedingungen und Maßstäben des gegenwärtigen Freizeit- und Konsumsystems aufgewachsen sein und dieselben kulturellen und normativen Erfahrungen gemacht haben. Das bedeutet einerseits, daß Generationsunterschiede zumindest in diesem Punkte keine Bedeutung mehr haben, weil man zum Beispiel von den Älteren nichts mehr erfahren kann, was man nicht selbst schon erfahren hat; demnach wird es auch immer weniger attraktiv, erwachsen zu werden, um auf diese Weise neue, bisher verschlossene Erfahrungen machen zu können.

Wer zum Beispiel heute etwa 55 Jahre alt ist und seine Kindheit im Zweiten Weltkrieg verbrachte, der kann von den Veränderungen, von denen in diesem Buch die Rede ist, noch aus eigener Erfahrung sprechen: daß es zum Beispiel eine Zeit ohne Fernsehen gab, wo ein Kinobesuch selten und deshalb etwas Besonderes war. Es macht doch wohl einen Unterschied für das Ergebnis der Erziehung und Sozialisation, daß heute ein 15jähriger vielleicht so viele Spielfilme gesehen hat wie ein 50jähriger. Und welche Bedeutung hat

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es für die Sozialisation, wenn das Leben nichts Außergewöhnliches bringt, wie es früher vielleicht eine Bahnreise war oder ein besonders teures Geschenk, auf das man lange warten mußte und dem lange danach nichts Vergleichbares mehr folgen konnte? Derartige Erfahrungen lassen sich - wie gesagt - im Verhältnis der Generationen noch thematisieren. Werden solche Erfahrungsunterschiede aber gegenstandslos, dann bricht der soziale Sinn dessen zusammen, was wir bisher Erziehung genannt haben: denn sie beruhte nicht nur auf der Macht, wie sie im Generationsverhältnis verankert war, sondern auch auf Privilegien des Erlebens und der Erfahrung, die den verschiedenen Generationen zugeschrieben waren. Arbeit, Sexualität und Freizeitautonomie waren zum Beispiel Vorrechte der Eltern, der "schönen Jugendzeit" dagegen wurden Entlastung von Verantwortung, Sorglosigkeit und "Jugendstreiche" bis zu einem gewissen Grade zugebilligt. Der Weg von der Kindheit zum Erwachsenenstatus war einer, der sich lohnte.

Mit der Einebnung der Generationsunterschiede und Generationserfahrungen, wie sie das Freizeitsystem und hier vor allem das System der Massenmedien vornimmt, verliert auch der herkömmliche Begriff der Erziehung seinen Sinn, an seine Stelle stritt eine persönlich nicht verantwortete Sozialisation, die vor allem über die Gleichaltrigen abläuft. Erziehung im überlieferten Sinne wird in absehbarer Zeit nur noch in der Familie stattfinden und spätestens nach dem Schuleintritt an Wirkung immer mehr verlieren.

Andererseits schrumpft auf diese Weise auch das Zeitgefühl auf eine unentwegt wiederholbare Gegenwart zusammen. Geschichte, die nicht mehr durch (ältere) Personen repräsentiert wird, ist uninteressant und unbrauchbar, und Zukunft, die nichts anderes versprechen kann als die Gegenwart schon hält, kann eben nur deren Wiederholung sein.

Ob letztenendes diese Vision, die ja nur aus der Fortschreibung der bis zur Gegenwart reichenden Prozesse erwachsen kann, so Wirklichkeit wird, kann natürlich niemand wissen. Denkbar wäre ja auch, daß sich neue kulturelle Traditionen bilden, die die Optionen neu regulieren. Tatsächlich nämlich gibt es keine objektive Zwangsläufigkeit mehr etwa in dem Marxschen Sinne, daß die ökonomische Basis den kulturellen Überbau bestimme. Selbst wenn man diese These nach wie vor für richtig hält, würde ihre Anwendung auf die

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Gegenwart nur zu der Einsicht führen, daß auf der gegenwärtigen ökonomischen Basis ein nahezu beliebiger kultureller Überbau widerspruchslos möglich ist, gerade weil alle traditionellen Leitwerte und Steuerungen im Prinzip außer Kraft gesetzt sind. Mit der gegenwärtigen ökonomischen Basis verträgt sich nicht nur die Discothek, sondern alles, was in diesem Buch an historischen Beispielen angeführt wurde: das Bildungsbürgertum, das klassische Gymnasium mit seinem alten Bildungsbegriff, die Jugendmusikbewegung, das "Jugendgemäße" der Jugendbewegung, die Schulungslager gesellschaftlicher Teilgruppen usw. Wenn solche Traditionen nicht mehr lebendig sind, so nicht aus zwingenden ökonomischen Gründen, sondern weil sie den Menschen nichts mehr sagen oder aber ihnen gar nicht mehr bekannt sind. Im Bereich des kulturellen Überbaus ist das Faktische nur noch das Faktische, nicht das Notwendige oder Unausweichliche. Das Spektrum der gegenwärtigen Alternativ-Kulturen deutet etwas von der kaum zu begrenzenden Beliebigkeit kultureller Gestaltungsformen an.

Gegenwärtig jedoch befinden wir uns noch in einer Übergangszeit, in der das Problem von Option und Identität für Kinder und Jugendliche - auf die ich mich jetzt beschränken will - nicht nur eine je individuelle Bedeutung im Sinne eines Lebensproblems hat, sondern darüber hinaus den Sozialcharakter ganzer Generationen formen kann. Das Problem läßt sich unter folgenden Einzelaspekten beschreiben:

1. Das Problem der Optionen angesichts einer nicht vermehrbaren, allenfalls effektiver zu nutzenden Zeit. Von Kindheit an müssen wir entscheiden, was wir mit unserer Zeit machen sollen. Es gibt eine Fülle von Angeboten und Möglichkeiten vor allem in den Städten, und Schule oder Beruf erscheinen leicht als lästige Unterbrechung dessen, was man sich sonst aussuchen kann. Wahlmöglichkeit bedeutet Entscheidung, und Entscheidung bedeutet Verzicht, nämlich auf das, wofür man sich nicht entschieden hat, Verzicht aber auf etwas anderes läßt den Verdacht nicht verschwinden, daß das Nichtgewählte vielleicht doch besser gewesen wäre. Eine latente Unzufriedenheit mit dem, was man tut, ist die Folge. Je mehr Optionen, um so mehr Verzichte, um so größere Unzufriedenheit - jedenfalls dann, wenn es keinen persönlich überzeugenden Maßstab gibt für

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solche Entscheidungen. Andererseits ist die Wahlmöglichkeit nicht unbegrenzt, sondern erfolgt immer noch im Rahmen sozialer Kontexte. Viele Mittelschichteltern etwa versuchen ihren Kindern bestimmte Freizeittätigkeiten nahezubringen: Musikunterricht, Reiten, Sport usw. Andere überlassen dies dem Zufall. Oder im Jugendalter nimmt die Gleichaltrigengruppe viel vom Entscheidungszwang ab. Andererseits führen die Massenmedien unentwegt Alternativen vor.

Der "Zeit-druck" betrifft auch den Umgang mit Dingen und Sachen: Wer auf seiner Stereo-Anlage eine Symphonie hören will, muß sich dafür mehr Zeit nehmen, als wenn er nur einen Schlager hören will. Insofern die Nutzung von Konsumgütern und Dienstleistungen von der Sache her eine je eigentümliche Zeit braucht, kann eben diese Zeit auch zum Kriterium der Nutzung werden, zum Beispiel insofern man sich den Dingen lieber zuwendet, die weniger Zeit beanspruchen. Daß "Zeit" für sehr viele Menschen ein so knappes Gut geworden ist, daß sie zum Beispiel ihren Kindern gegenüber gelegentlich lieber Geld als Zeit aufwenden, hängt nicht nur damit zusammen, daß Zeit eben als natürliche Größe nicht vermehrbar ist - der Tag hat nun einmal vierundzwanzig Stunden, von denen man ungefähr acht für den Schlaf rechnen muß -, sondern eben auch damit, daß die Fülle von Optionen beziehungsweise Alternativen selbst Druck erzeugt.

Wofür man im Laufe des Heranwachsens seine Zeit opfern will, hängt entscheidend davon ab, was in dieser Zeit gelernt wird, was also zum Beispiel die Schule überzeugend mitgibt. Die Fülle der tatsächlichen Möglichkeiten kann andererseits so erschlagen, daß sich Resignation einstellt und die freie Zeit als Langeweile empfunden wird. Wo also ist der Maßstab zu finden für eine befriedigende Verwendung der Zeit?

2. Das Problem der Optionen im Rahmen begrenzter finanzieller Mittel, aber eines tendenziell unbegrenzten Warenangebotes. Wer als Kind im Zweiten Weltkrieg aufwuchs, mußte subjektiv kaum auf Materielles verzichten, weil es wenig Optionen gab. Was man zum Beispiel als Spielzeug geschenkt bekam, machte Freude, weil Alternativen nicht vorstellbar waren. Auch für die Verbringung der freien Zeit gab es wenig Variationen. Heute dagegen machen Kinder

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ständig - und nicht nur gelegentlich - die Erfahrung, daß das, was man besitzt oder bekommt, nur ein kleiner Teil von dem ist, was man sonst noch haben oder bekommen könnte. Das führt nicht nur zu einer geschmälerten Freude und zu nur bedingter Zufriedenheit, sondern auch zur Gleichgültigkeit gegenüber den Dingen selbst, die zum Beispiel nicht recht gepflegt und gewartet werden, weil sie ja ohnehin leicht austauschbar sind. Die finanziellen Mittel - zum Beispiel Taschengeld oder das Einkommen der Eltern - sind immer begrenzt im Vergleich zur Fülle dessen, was man damit kaufen könnte. Haben bedeutet Verzichten und bringt Unzufriedenheit - solange kein subjektiv überzeugender Maßstab gefunden ist.

3. Das Problem der Optionen im Rahmen menschlicher bzw. sozialer Beziehungen angesichts vorgegebener finanzieller und zeitlicher Grenzen. Auch menschliche Beziehungen sind wählbar und abwählbar, das ist nichts Neues. Im Laufe seines Lebens lernt jeder Mensch, die Vielzahl seiner menschlichen Kontakte außerhalb der Familie zu ordnen: Relativ wenige verbindliche Freundschaften werden abgegrenzt von schon weniger verbindlichen Bekanntschaften und übrig bleiben schließlich jene vielen Menschen, mit denen umzugehen die üblichen Regeln distanzierter Höflichkeit ausreichen. Derartige soziale Differenzierungen sind aber unbrauchbar für den Konsum menschlicher Beziehungen. Um andere sexuell, emotional, materiell oder zur narzißtischen Selbstdarstellung benutzen zu können, müssen sie gleichsam "gleichgeschaltet" werden, auch damit Wechselseitigkeit möglich wird. Diese Tendenz, menschliche Beziehungen wechselseitig zu konsumieren, die schon Riesman als wichtigsten Zweck der jugendlichen Gleichaltrigengruppe beschrieb, hat offensichtlich zugenommen. In dem Maße, wie die gesellschaftlich ritualisierten Kennzeichnungen von Nähe und Distanz entfallen sind, breitet sich Kontaktunsicherheit aus, weil in jedem einzelnen Falle wieder neu herausgefunden werden muß, welche Art von Beziehung gemeint ist. Man hat diese neue Beziehungsproblematik als narzißtisches Syndrom zu erklären versucht (Ziehe). Sie scheint jedoch zumindest teilweise auch aus dem Freizeitsystem selbst erklärbar, insofern hier eben ritualisierte beziehungsweise

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institutionell geregelte Beziehungsmuster abgesehen vom Typus Kunde-Verkäufer weitgehend fehlen.

Freizeit ist der Lebensraum beliebiger, jederzeit wechselbarer und vor allem unverbindlicher menschlicher Beziehungen. Für das Alter der späten Kindheit und vor allem für das Jugendalter sind die Gleichaltrigen-Gruppen die dominante Sozialform. Sie haben die erzieherische Wirkung der Familie und Schule zurückgedrängt und inzwischen eine kaum zu überschätzende Bedeutung für die Herausbildung sozialer und normativer Vorstellungen bekommen. Diese Gruppen sind der soziale Ort, an dem die hier beschriebenen Sozialisationswirkungen des Freizeit- und Konsumsystems konkret umgesetzt werden. Sie entwickeln Konsumstandards und üben Verhaltensdruck aus. Insofern können sie Orientierungshilfe im Feld der Optionen geben. Beziehungsmuster werden zum Beispiel in den Gleichaltrigengruppen jeweils festgelegt. Die Skala reicht dabei von autoritär-hierarchisch wie bei neonazistischen Gruppen, bis zu locker-unverbindlich etwa in der Disco-Szene. Beispiele wie Neonazismus und Jugendsekten zeigen, daß die Offenheit und Unstrukturiertheit der Freizeitsituation auch durch Unterwerfung unter rigide Regeln gelöst werden kann. Die soziale Beziehungsproblematik hat jedoch auch eine sachliche Seite: Über die Gleichaltrigengruppen im Jugendalter laufen Zugänge zu Freizeittätigkeiten. Das kann sich im Rahmen des üblichen halten (z. B. Sport, Disco), aber auch in gefährliche Bezirke führen: Zu politisch-radikalen Gruppen, Jugendsekten oder ins Drogenmilieu (vgl. Giesecke 1981a). Diese Extreme markieren unterschiedliche Versuche, der Last der Optionen nicht nur im Hinblick auf die menschliche Beziehung, sondern auf die Sinnfrage im ganzen zu entrinnen.

4. Das Problem der Optionen im Rahmen pluralistischer moralischer und weltanschaulicher Konkurrenzen. Die bisher beschriebenen Optionen haben alle auch normative Implikationen. Dennoch ist es ratsam, hierauf die Aufmerksamkeit besonders zu richten. Erich Weber (1982a) hat jüngst zu Recht darauf hingewiesen, daß "Werterklärung" und "Sinnorientierung" zu wichtigen freizeitpädagogischen Aufgaben geworden seien. In dem Maße, wie dafür gültige kulturelle Traditionen und Gewohnheiten an Orientierungs-

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kraft verloren haben, muß die bewußte Reflexion normativer Fragen einsetzen. Dabei kann, wie Weber betont, die normative und die Sinnpluralität nicht unterlaufen werden, aber es gibt Möglichkeiten, in dieser Widersprüchlichkeit eine eigene Position zu finden.

Grundsätzlich ist normative Pluralität, wenn sie schon in der Kindheit erlebt wird, pädagogisch problematisch, so sehr sie politisch zu den unverzichtbaren Fundamenten eines demokratischen Gemeinwesens gehört. Normative Pluralität ohne eine stabile Grundlage in der Kindheit kann zur Desorientierung führen und damit die Identitätsfindung erheblich erschweren.

Eine weitere Folge ist vielleicht noch bedeutsamer: Wenn man normative Pluralität von früh an erlebt, dann kann sich der Eindruck einstellen, daß normative Prinzipien und ethisch begründetes Verhalten ähnlich beliebig wählbar seien wie konsumierbare Beziehungen und Waren.

Diese vier Optionsdimensionen - Zeit, Geld, menschliche Beziehungen und Werte - müssen ergänzt werden durch mindestens zwei weitere Probleme, die die Optionsentscheidungen mitbestimmen.

1. Das Problem, Freizeit- und Konsumerfahrungen nicht unreflektiert auf andere Lebensdimensionen wie Arbeit und Politik zu übertragen, sondern alle Bereiche in ihrer relativen Eigengesetzlichkeit verstehen und handhaben zu können. Schon Kinder und erst recht Jugendliche können ihre Freizeit mehr oder weniger autonom verbringen. Nach der Shell-Studie "Jugend '81" (Jugendwerk ... ) sind Freizeitautonomie und sexuelle Betätigung - klassische Privilegien des Erwachsenenstatus - vielfach schon in der späten Kindheit üblich. Diese Privilegien muß man sich kaum mehr erkämpfen, sie fallen einem ohne sichtbare Gegenleistung irgendwann einfach zu, genauso, wie man im allgemeinen als Kind Konsumgüter ohne Arbeit bekommt, sozusagen zum "Nulltarif". Derartige Prägungen und Gewöhnungen durch das Leben im Freizeit- und Konsumbereich fördern entsprechende Erwartungen auch im Hinblick auf andere Lebensbereiche. Autonomie zum Nulltarif, also ohne Verbindung mit Verantwortung ist aber zum Beispiel so weder in der Schule noch am Arbeitsplatz zu haben. Verstärkt werden

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diese Erfahrungen noch durch die Massenmedien. Sie stecken ebenfalls voller Optionen. Man kann auswählen, was einem gerade gefällt, Bildung und Information etwa im Fernsehen scheinen ohne nennenswerte geistige Anstrengung und intellektuelle Disziplin erwerbbar - welch ein Unterschied zur Schule! Nimmt man noch die schon erwähnte Nivellierung der Sozialerfahrungen (die "Gleichschaltung" der sozialen Beziehungen) hinzu, so können die Freizeiterfahrungen zu falschen Vorstellungen und Erwartungen über Arbeit und Politik führen, was unter bestimmten Umständen auch politisch gefährlich werden kann. Eine gewisse Infantilisierung des politischen Denkens und Verhaltens läßt sich nicht nur bei Neonazis beobachten. Jugendarbeitslosigkeit ist nicht zuletzt deshalb so verheerend, weil ohne die gegenläufigen Erfahrungen am Arbeitsplatz die Freizeiterfahrungen übermächtig werden müssen - mit äußerst problematischen Folgen für die Identitätsbildung.

Verstärkt wird dieses Problem durch die Tatsache, daß die überlieferte Polarisierung von Arbeit und Freizeit brüchig zu werden beginnt. Unter dem Stichwort der "Humanisierung der Arbeit" werden Bestrebungen diskutiert, die rigorose Ausnutzung der Arbeitszeit wieder zu mildern und die im modernen Arbeitsbegriff "ausgegliederten" menschlichen Bedürfnisse etwa nach Kommunikation und Geselligkeit wieder stärker in die Arbeitszeit aufzunehmen.

Andererseits - und das ist für unseren Zusammenhang vielleicht bedeutsamer - laufen alle gegenwärtigen Überlegungen zur Neuverteilung der Arbeit darauf hinaus, dem Einzelnen neue Optionen zu verschaffen, nämlich im Hinblick auf den Umfang der täglichen, wöchentlichen und jährlichen Arbeitszeit (vgl. Espenhorst). Danach wäre - im Prinzip nicht einmal, sondern ständig - zu entscheiden zwischen dem gewünschten zeitlichen Verhältnis von Arbeit und Freizeit einerseits und - damit zusammenhängend - zwischen Freizeit und Einkommen andererseits. Je mehr Freizeit sich einer wählt, um so geringer wird sein Einkommen sein. Setzt sich diese Perspektive auf breiter Front durch, dann wird sich die Optionslast noch vergrößern, und es ist zu vermuten, daß viele Menschen damit ähnliche Probleme bekommen, wie jene ersten Generationen, die zur Zeit des Beginns der Industrialisierung in die starre Arbeitszeit gezwungen wurden. Die kulturellen Konsequenzen einer

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solchen Entwicklung und damit auch die pädagogischen Folgen können also kaum hoch genug eingeschätzt werden; denn einerseits könnte auf diese Weise der Stellenwert der Erwerbsarbeit für das menschliche Leben erheblich zurückgehen, die Arbeit zum Job werden, den man ohne große Anteilnahme für den Lebensunterhalt zu "verrichten" hat, wobei dann kulturelles, soziales und politisches Engagement zum eigentlichen Sinnzentrum des Lebens werden könnten. Andererseits wäre aber auch denkbar - und das hängt wohl nicht zuletzt von der Art der Arbeit ab, daß gerade die Verkürzung der Arbeitszeit und die verstärkten Wahlmöglichkeiten zu einer neuen Identifizierung mit der Arbeit führen könnten, so daß von daher die Erwerbsarbeit auf neue Weise zum Lebenszentrum werden kann. So oder so aber werden die künftigen Entwicklungen den Menschen nicht unerhebliche Lernleistungen abverlangen.

2. Das Problem der "Verdinglichung", also klarstellen zu müssen, inwieweit die wirklichen menschlichen Bedürfnisse - nach Liebe, Anerkennung, Geborgenheit, Zugehörigkeit - durch Waren befriedigt werden können. Kosmetik zum Beispiel verschafft trotz gegenteiliger Reklameversprechungen keine Liebe, kann sie aber möglicherweise schöner machen. Das Grundprinzip der Konsumwerbung beruht auf dem ständigen Bemühen, menschliche Bedürfnisse mit Waren zu befriedigen. Das ist solange unproblematisch, wie es nicht um grundlegende menschliche Beziehungen geht, die dann umdefiniert werden müssen, um zu einer Ware zu passen, in ihrer Substanz jedoch auf warenunabhängige menschliche "Investitionen" angewiesen sind. Die Fähigkeit, ständig zwischen Bedürfnis und Waren unterscheiden zu können, ist eine wichtige Voraussetzung für die Identitätsfindung.

Die beschriebenen Probleme stellen sich selbstverständlich nicht jedem Kind oder Jugendlichen in gleichem Maße. Wieweit jemand davon betroffen ist, hängt von vielen Faktoren ab: von der Persönlichkeitsstruktur, den Bedingungen, die die Familie schaffen kann, vom Wohngebiet (z. B. Stadt oder Land), vom Ausmaß der religiösen Bindung und nicht zuletzt davon, auf welche Gruppen von Gleichaltrigen man stößt. Aber alle solche Einschränkungen können

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die prinzipielle Bedeutung des Verhältnisses von Option und Identität nicht außer Kraft setzen.

Entscheidend ist, in welchem Maße eben die im Freizeit- und Konsumbereich gültigen Erfahrungen und Erwartungen Gegengewichte bekommen können, so daß sie als nur partikular gültige Varianten der menschlichen Existenz, nicht aber als ihr exemplarischer Fundus begriffen werden können. Die radikale Verabsolutierung der Freizeit- und Konsumerfahrungen ist die Sucht, insofern der Süchtige Wohlbefinden nicht durch zwischenmenschliche Tätigkeit einerseits oder durch Kontemplation andererseits zu erreichen trachtet, sondern es durch Konsum entsprechender Waren, gleichsam durch technische Manipulation ohne menschliche "Investitionen" für erreichbar hält. Daß auch viele Jugendliche heute suchtgefährdet oder süchtig sind, sollte den Blick dafür schärfen, inwieweit tatsächlich noch Gegengewichte gegen die Wirkungen der Freizeitsozialisation mächtig sind. Vieles spricht eher dafür, daß zum Beispiel die wichtigsten Erziehungsmächte wie Familie und Schule weniger gegensteuern, als vielmehr die aus der Freizeiterfahrung stammenden Erwartungen hofieren.

Diese hier beschriebenen Probleme sind also im Rahmen des Freizeit- und Konsumbereichs entstanden und werden in erster Linie auch dort erfahren. Sie in irgendeiner subjektiv befriedigenden Weise zu lösen bzw. die darin enthaltenen Widersprüche auszubalancieren, ist eine unerläßliche Voraussetzung für die Gewinnung von Identität. Eine Welt voller Optionen ohne soziale Verbindlichkeiten und Verpflichtungen und ohne ein Mindestmaß an kulturellen Selbstverständlichkeiten ist eine sinnlose Welt, in der Bedürfnis- und Interessenhorizonte unendlich scheinen. In ihr lohnt auch das Erwachsenwerden nicht mehr, das immer beängstigende Ausziehen aus dem familiären Versorgtsein. Es verspricht heute keinen Vorteil mehr, sondern nur die Mühe von Arbeit, Leistung, Entscheidung und Verantwortung. Ich-Stärke kann man im Sozialisationsgefüge von Freizeit und Konsum nicht lernen, sie wäre aber Voraussetzung für eine tragfähige Innerlichkeit als regulative Instanz zur Bewältigung der Optionen.

Im Grunde genommen gibt es dafür nämlich nur zwei prinzipielle Möglichkeiten: Den Rekurs auf die Innerlichkeit als den tragenden Grund der hier geforderten Maßstäbe und

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Entscheidungen oder die Identifikation mit den kulturellen Mustern und Postulaten einer sozialen Gemeinschaft. In der Praxis des menschlichen Lebens spielen gewiß beide Instanzen immer eine gewisse Rolle. Der totale Rekurs auf die eigene Innerlichkeit ist nur als Abstraktion denkbar und würde die menschlichen Möglichkeiten übersteigen, zumal jeder ja im Rahmen gewisser sozialer Verbindlichkeiten lebt, und sei es nur einer informellen Bezugsgruppe. Totale Identifikation mit einer sozio-kulturellen Gemeinschaft andererseits würde Verlust der Individualität bedeuten. Identitätentwickelt sich also als Balance zwischen beiden Instanzen. Dieser Spielraum aber markiert einerseits das Maß an individueller Selbstbestimmung, andererseits aber auch eine durchaus auch mühsame "Pflicht zur Freiheit". Was aber, wenn beide Pole sich als wenig tragfähig erweisen, wenn also weder hinreichendes Zutrauen zur eigenen Innerlichkeit besteht noch eine relativ dauerhafte kulturelle Gemeinschaft verläßliche Vorgaben anbietet, wie es in der gegenwärtigen Umbruchsituation weitgehend zu sein scheint? Dann tritt ein, was Riesman die "Außenleitung" nannte. Selbstvergewisserung wird erwartet durch die Rückmeldungen "der anderen". Aber diese anderen repräsentieren nichts außer sich selbst, wobei sie im wesentlichen das Produkt ihrer erfahrenen Rückmeldungen sind. Dieser in der Freizeit wirkende soziale und emotionale Mechanismus kann für sich genommen aber keine biografische Kontinuität stiften, sondern nur wechselnde Moden vorführen, deren Wechsel jedoch irrational, willkürlich und gleichgültig gegen dieBedürfnisse der Menschen ist, weil er keinen kulturellen Sinn repräsentiert. Wenn das Vorschulkind in die Schule wechselt, der Schulabgänger in den Beruf, der Liebhaber in die Ehe, der Angestellte in die Chefetage - um nur einige Beispiele zu nennen -, dann sind das kulturell gestaltete und insofern für die Persönlichkeit bedeutsame Veränderungen, die als kontinuierliche Entwicklung erlebt werden können.

Daran gemessen ist der Wechsel von Trimm-Dich zu Aerobic oder von der anti-autoritären Erziehung zur interaktionistischen oder vom Punk zum Popper bedeutungslos, das heißt es würde niemandem etwas fehlen - außer denen, die dabei verdienen -, wenn es solche Wechsel nicht gäbe, es sei denn, sie hätten in der Selbstvergewisserung einer Biografie eine dann aber vom Einzelnen hergestellte Bedeutung, die in

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der Sache selbst nicht mitgeliefert wird. So wäre etwa denkbar, daß sich im Wechsel eines jungen Menschen vom Punk zum Popper der Wunsch ausdrückt, die Beziehungen zur sozialen Umwelt nun in Richtung auf mehr Höflichkeit, Ästhetik und Distanz zu gestalten, ein Handeln, das nach dem Ende der Popper-Mode auch unter veränderten "Szenen" durchgehalten wird. Dies Beispiel soll zeigen, daß der Modenwechsel selbst nicht das Problem ist, sondern die Art und Weise seines Einbaus in die als Weiterentwicklung verstandene eigene Lebensgeschichte.

Wenn unsere Überlegungen über die pädagogische Problematik der Freizeitsozialisation einleuchten, dann liegt es nahe, noch einmal an jene Tradition zu erinnern, die zu Anfang dieses Buches erwähnt wurde, die in der Formulierung der klassischen Bildungsidee gipfelte, sich aber im arbeitsorientierten gesellschaftlichen Denken nicht durchsetzen konnte. Nun aber, da unsere Arbeitsgesellschaft zur Neubesinnung gezwungen wird, erwächst in Anlehnung an die klassische Bildungsidee die Chance, den Grundgedanken der Entfaltung aller wichtigen menschlichen Fähigkeiten vor jeder beruflichen Spezialisierung wieder aufleben zu lassen, Fähigkeiten, die durch die Abarbeitung an kulturellen Objektivationen (vom Handwerk über die Wissenschaft bis zur Politik) entstehen. Löst man diesen Gedanken aus seinem ursprünglich recht individualistischen Kontext, dann läßt er sich mit den schon erwähnten Kommunikationsbedürfnissen verbinden zu der Einsicht, daß eine solche Bildung nur gemeinsam mit anderen zu erwerben ist und wohl auch nur noch so befriedigen kann. In einer solchen Kombination von Bildung und Kommunikation könnten wir eine regulative Idee sehen, von der schulische wie außerschulische Pädagogik neue Impulse erhalten könnten, die den Menschen wieder als Person ins Auge fassen und die traditionelle Trennung von Arbeit und Freizeit wenn auch noch nicht real, so doch wenigstens in der Vorstellungskraft und in der Selbstdeutung überwinden können.

"Selbstdeutung" oder "Identität" ist nämlich vom Einzelnen her gesehen in der gegenwärtigen kulturellen Umbruchsituation das entscheidende Problem geworden. Es hier im einzelnen in Auseinandersetzung mit den vorliegenden Identitätstheorien zu entfalten, würde den Rahmen spren-

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gen und fast ein neues Buch erfordern. ich muß mich also beschränken auf die Darstellung des Problems, wie es sich aus unserem Kontext ergibt, und benutze dafür den Begriff "Identität", obwohl er ein Modebegriff geworden ist, im umgangssprachlichen Sinne. Die Bedeutung des Begriffs läßt sich dabei in folgende Fragen kleiden: Wer bin ich? Was kann ich? Wozu bin ich da?

Das Freizeit- und Konsumsystem erschwert Identität, wie wir sahen, vor allem unter folgenden Aspekten:

a) durch die Last der Optionen bei wenig kulturellen Verbindlichkeiten;

b) durch das Schrumpfen der Zeiterfahrungen infolge der sich qualitativ wiederholenden Freizeiterlebnisse, die eine biographische Selbstvergewisserung im Sinne des Älterwerdens, Reiferwerdens, des Fortschritts der eigenen Lebensgeschichte erschweren;

c) durch das Zurückgeworfensein auf die Gleichaltrigen, wobei Erfahrungen der Älteren immer unwichtiger werden bzw. diesen ausgewichen werden kann, so daß die klassische Bedeutung des Generationsverhältnisses als eines Erziehungsverhältnisses, an dem sich der Jüngere abarbeiten und profilieren müßte (und könnte), mehr und mehr entfällt;

d) durch den Moden-Wechsel im Freizeitbereich, der gleichgültig ist gegenüber der Dignität der Sachen und Sachverhalte wie auch gegenüber den Menschen, deren Bedürfnisse lediglich in immer neuen Formen vergesellschaftet werden.

Bildung und Kommunikation sind in dem Maße unentbehrlich geworden für die Beantwortung der Frage nach der Identität, wie die Antwort nicht mehr durch soziale und kulturelle Zugehörigkeit erfolgen kann ("Ich bin einer von ... "). Dabei muß eines das andere relativieren: Kommunikation ohne Bildung, d. h. ohne die Disziplinierung des Denkens und Fühlens an objektivierten kulturellen Gehalten und Ansprüchen, bliebe ebenso leer wie andere unverbindliche Freizeitkommunikationen auch. Bildung ohne Kommunikation, also ohne gemeinsame Suche nach Sinn und ohne gemeinsame Überprüfung der Erfahrungen liefe Gefahr, ihren Wert für die Identitätsfindung zu verlieren, weil dafür individualistisch verstandene Innerlichkeit ohne soziale Resonanz zu unzuverlässig wäre.

Mit einer derartigen Rückbestimmung auf die immer noch bedeutsamen Gehalte der Bildungsidee kann die Pädagogik

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die genannten Probleme zwar nicht lösen, aber eine Hilfe für die Identitätsarbeit anbieten. Reflexion allein zur Stärkung der Innerlichkeit kann nicht ausreichen, solange sie nicht aufgehoben ist in stabilen Basisbeziehungen familiärer, freundschaftlicher oder auch kollegialer Art; die aber kann die Pädagogik allenfalls ermöglichen, nicht stiften. Der "Beziehungshunger", der in den pädagogischen Einrichtungen ebenso zu finden ist wie im übrigen Freizeitmarkt - die Beliebtheit schülerzentrierter didaktischer Konzepte gehört ebenso dazu wie Selbsthilfegruppen oder Selbsterfahrungsgruppen - breitet sich nicht von ungefähr aus. Er verweist auf die fundamentale Bedeutung verläßlicher Basisbeziehungen für die Identität.

Diese Überlegungen appellieren zunächst an die außerschulischen Bildungsstätten, sich zumindest teilweise wieder von der Laborisierung ihrer Bildungs"arbeit" zu lösen und sich experimentellen Lebens- und Erlebensformen zuzuwenden, die den erwähnten Zusammenhang von Bildung und Kommunikation erfahrbar machen und dabei möglicherweise stilbildend wirken. Vermutlich müssen solche Einrichtungen - wie früher auch schon - hier bahnbrechend wirken, bevor ein Umdenken in der Schulpädagogik erfolgen kann.

Unsere kritische pädagogische Interpretation der Sozialisationswirkungen des Freizeit- und Konsumsystems sollte nicht mißverstanden werden. Die in diesem Buch beschriebene Entwicklung ist ein immenser Fortschritt an Emanzipation, vor allem für die Arbeiter und Angestellten, wir verdanken dieser Entwicklung - wozu auch die Polarisierung von Arbeit und Freizeit gehört - viele unserer konkreten alltäglichen Freiheiten, vom Wohlstand ganz zu schweigen. Das Plädoyer richtet sich nicht dagegen und trauert auch nicht jenen Zeiten nach, wo Identität vielleicht noch leichter zu haben, der Spielraum der Freiheiten aber wesentlich geringer war. Es zielt auf die Chancen an persönlicher Entfaltung, an kulturellen Variatiosmöglichkeiten, an kommunikativen Spielarten. Gewiß: Irgendwie sorgen gesellschaftliche Systeme immer dafür, daß Menschen sich ihnen anpassen und sogar mehr oder weniger glücklich darin leben. Es wäre denkbar, daß die beschriebene Freizeitsozialisation in Zukunft einen Sozialcharakter produziert, der mit sich nicht weniger unzufrieden ist und nicht weniger unglücklich ist,

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als es auf ihre Weise frühere Generationen auch waren. Die Science-Fiction-Literatur ist voll von entsprechenden Charakterisierungen. Die bürgerlichen Ideale der Freiheit und Autonomie und eine daran orientierte Bildung können auch vergessen werden und als Alternativen gar nicht mehr im Repertoire der Vorstellungen vorhanden sein. Gleichwohl können wir gegenwärtig nur von diesen Maßstäben ausgehen, wenn wir uns überhaupt mit gesellschaftlichen Tatsachen und Entwicklungen pädagogisch beschäftigen wollen.

Schule für die Freizeit

Es dürfte deutlich geworden sein, daß die für die eben beschriebenen Probleme erforderlichen pädagogischen Hilfen nicht einem pädagogischen Teilbereich wie "Freizeitpädagogik" überlassen bleiben können. Eine solche Ausgliederung mochte solange vertretbar sein, wie es lediglich darum ging, die eine Freizeittätigkeit gegen ihre kulturell "bessere" Alternative auszutauschen, wo aber grundlegende Faktoren der Persönlichkeit oder gar ihre Identität zumindest erkennbar nicht zur Debatte standen. Die genannten Probleme sind vielmehr solche, die Gegenstand des gesamten Bildungsganges sein müssen, also auch ein Thema der Familien- und Schulerziehung.

Über das Thema "Schule und Freizeit" gibt es kaum Arbeiten (vgl. Hoyer/Kennedy). Das heißt nicht, daß man in der Schule nichts gelernt hätte, was man nicht auch in der Freizeit hätte gebrauchen können. Der Literatur-, Kunst- und Musikunterricht sowie der Sportunterricht in den Gymnasien vermochten durchaus auch zu entsprechenden kulturellen Partizipationen hinzuführen. Aber die neuen Medien wie Film, Funk, Fernsehen, Publizistik wurden kaum Gegenstand des Unterrichts, sondern nur Unterrichtsmittel (Schulfunk, Schulfernsehen). Sie galten nicht als "bildend", bzw. man unterstellte, daß ihr "Bildungswert" erschlossen werden könne von den Kategorien der klassischen künstlerischen und literarischen Fächer her: Wer sich etwa in Literatur auskennt, verstehe auch genug vom Film.

In der Volksschule lernte man erheblich weniger für den Gebrauch in der Freizeit. Die sie beherrschende Idee der "volkstümlichen Bildung" fand nicht einmal Zugang zur

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modernen Industriearbeit, sondern orientierte sich an vorindustriellen Formen der Arbeit und Geselligkeit, was Paul Heimann (1957) am Beispiel der Musischen Bildung kritisierte. Selbst der Werkunterricht blieb meist bei kunstgewerblichen Arbeiten stecken, die außerhalb der Schule kaum Resonanz fanden. Zudem war ein Lehrer, der etwas von Massenmedien oder Publizistik verstand, Außenseiter. Die Tendenz, alles zu pädagogisieren, bis es bildend erscheinen konnte, versperrte den unmittelbaren Zugriff auf die Realitäten.

Ein Beispiel für die Schwierigkeit, das Thema Freizeit in die Schule hineinzuholen, ist die Arbeit von H. E. Wittig (1964) über "Schule und Freizeit". Wittig, dessen Schrift auf einem Schulversuch mit einem neunten Schuljahr basiert, geht aus von der Unterscheidung Blüchers in "harte-innengeleitete" und "weiche-außengeleitete" Freizeitinteressen. Blücher hatte in seiner Untersuchung "Freizeit in der industriellen Gesellschaft" (1956) entdeckt, daß viele Freizeittätigkeiten - wie der regelmäßige Kinogang - gar nicht weiter im Bewußtsein verankert sind, man nennt sie gar nicht, wenn nach den Freizeitbeschäftigungen gefragt wird. Andere dagegen, vor allem die Hobbys, sind im Bewußtsein der Menschen gegenwärtig und werden auf Befragen auch genannt. Letztere nannte Blücher "harte", die anderen "weiche" Freizeittätigkeiten. Daran knüpfte nun Wittig an, indem er meint: "Harte-Innengeleitete Freizeitinteressen besitzen meist Bildungswert" (S. 29). Die Problematik der Freizeit entstehe aus dem entgegengesetzten Verhalten. Das weiche-außengeleitete Freizeitverhalten "stellt die typische Verbraucher- und Konsumhaltung der großen Mehrheit dar. Damit sind die motiv- und bewußtseinsentlasteten alltäglichen Freizeitgewohnheiten gemeint, die mehr konventionell, gewohnheitsmäßig und ohne starke Interessenfixierung ausgeführt werden. [Sie] erzeugen das für unsere Zeit typische 'Sichtreiben-lassen' und 'Mitmachen'" (S. 30). Wittigs Vorschlag, die "harten" Freizeitinteressen in der Schule zu fördern, fiel damals durchaus aus dem Rahmen und ist auch heute noch bedenkenswert. Aber dafür braucht man Lehrer, die etwas von dem verstehen, was die Schüler können.

Unsere Schulpädagogik und Bildungspolitik war immer schon arbeits- und leistungsorientiert, sowohl früher, als bestimmte Bildungsideen den Zugang zur Realität versperr-

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ten, als auch seit den siebziger Jahren - und jetzt eher noch verstärkt -, als die Schule sich diesen Realitäten gleichsam über Nacht zu öffnen versuchte. Als Pöggeler (1965) diese "Laborisierung" beklagte und dagegen die alte "Muße" ins Feld führte, war der Zeitgeist noch fixiert auf den "Sputnik-Schock", auf die politik-ökonomisch gegründete Furcht, ohne "Begabungsreserven" zu mobilisieren werde man im Wettkampf der politischen Systeme unterliegen oder auf dem Weltmarkt konkurrenzunfähig werden. Die Bildungsreformpolitik Ende der sechziger bis Mitte der siebziger Jahre wurde überwiegend ökonomisch begründet, daß "Bildung" auch "Bürgerrecht" sei (Dahrendorf), also ein Recht des Einzelnen auch unabhängig von seiner jeweiligen ökonomischen oder politischen Verwertbarkeit, geriet aus dem Blick. Um effektiver zu werden, wurde der Unterricht industrialisiert und bürokratisiert, an den Hochschulen sollten komplizierte Studienordnungen die "Berufsbezogenheit" verbessern. Dies alles geschah zu einem Zeitpunkt, als die industrielle Arbeitswelt ihrem Ende entgegen ging, die "Grenzen des Wachstums" sichtbar wurden und eine hohe strukturelle Arbeitslosigkeit die "Berufsbezogenheit" vieler Studiengänge zur Farce werden ließ.

Da Schulpädagogik beziehungsweise Schulpolitik hier im Ganzen nicht unser Thema ist, können wir nur einige Thesen formulieren, die sich aus dem bisher Gesagten ergeben, und die die künftige wünschbare Rolle der Schule im Hinblick auf die Freizeitsozialisation skizzieren sollen.

1. In einer historischen Situation, die einerseits durch hohe strukturelle Arbeitslosigkeit und insbesondere auch Jugendarbeitslosigkeit und andererseits durch eine bevorstehende Neuvertellung der Arbeit charakterisiert werden muß und in der zudem die Arbeit als Zentrum des Lebens für viele zunehmend an Bedeutung verlieren wird, ist eine Rekonstruktion des Bildungsideals erforderlich. Ein Konzept der Allgemeinbildung ist gefordert - vor und neben jeder beruflichen Spezialisierung -, dem es in erster Linie um die Entwicklung von grundlegenden Fähigkeiten, Kenntnissen und Vorstellungen geht, damit die Schule nicht nur ihren Ort im beruflich orientierten Berechtigungswesen behält - was im Prinzip unvermeidlich ist -, sondern auch auf das Leben in Freizeit und Politik vorbereitet.

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Die bisherige Zuordnung von Bildungsgängen und Berufsstrukturen muß erheblich gelockert werden. Wer morgen das Abitur oder einen Hochschulabschluß macht, erhält möglicherweise einen Job, für den er weder das eine noch das andere gebraucht hätte. Deshalb sind aber beide Abschlüsse nicht sinnlos, gleichsam vergeudete Zeit; denn die erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten können nützlich und wertvoll sein für Tätigkeiten außerhalb der Erwerbsarbeit. Die Furcht vieler Bildungspolitiker vor einem "akademischen Proletariat" gründet sich auf politische Realitäten von gestern, nicht von morgen. Warum soll ein Taxifahrer nicht auch Fachmann für moderne Literatur sein und ein Maurer sich nicht für ökologische Fragen kundig engagieren? In den jungen Generationen wächst die Einsicht, daß die Karrieren ihrer Väter und Großväter so erstrebenswert nicht sind, weil sie die wichtigsten Jahre des Lebens zu kosten pflegten für durchaus zweifelhafte Belohnungen. Vermutlich können in Zukunft die meisten Berufstätigkeiten gar nicht mehr direkt angesteuert werden, sondern es muß sich Zug um Zug zeigen, was sich anbietet. Ein flexibles Bildungssystem, das einerseits auf die Förderung allgemeiner Fähigkeiten setzt und andererseits auch jederzeit spezialisierte Qualifizierungen anbietet, wäre die angemessene Antwort auf diese Lage.

2. Die Aufgabe der Schule ist in erster Linie eine kognitive. Im Zeitalter der massenmedialen Kultur und damit der ubiquitären Information und Gegeninformation kann nur die Schule bzw. Hochschule geordnete "Vorstellungshorizonte" (Wilhelm 1982) bzw. eine kategoriale Strukturierung des Bewußtseins anbieten. Alles andere machen die Massenmedien bzw. die Gleichaltrigengruppen sowieso und wirksamer.

Die Schule muß sich also auf das besinnen, wozu sie nach wie vor unentbehrlich ist, und das wird quantitativ immer weniger, aber qualitativ immer bedeutsamer. Unsere Lehrpläne tun immer noch so, als ob es die Massenmedien gar nicht gäbe und jede nötige Einsicht oder Information über die Schule laufen müsse. Das ist auch eine Frage der weiteren technologischen Entwicklung. Die neuen Video-Möglichkeiten könnten zu neuen Stilen des Unterrichts führen, zum Beispiel zu mehr selbständiger Arbeit - einzeln oder in

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Gruppen - und auch zur Verkürzung der Schulzeit bzw. zur Verringerung der Unterrichtsstunden. Die Betonung der kognitiven Bedeutung der Schule soll den Reichtum an methodischer Phantasie keineswegs begrenzen. Nicht nur das Bücherlesen und das Unterrichtsgespräch können zu kategorialen Einsichten führen, sondern auch die Reparatur eines Mopeds oder das Einstudieren eines Einakters.

3. Angesichts der vom Freizeitsystem erzeugten bzw. in ihm erfahrenen normativen Pluralität und Orientierungslosigkeit muß Hilfe zur Identitätsarbeit eine wichtige Aufgabe des Unterrichts werden. Das betrifft nicht nur die Auswahl der Fächer, sondern die Konstruktion des Unterrichts überhaupt. "Objektive", d. h. außersubjektive Ansprüche der politisch-kulturellen Welt müssen kombiniert werden mit den Erfahrungen und Problemen der Schüler. Die Planung des Unterrichts muß dafür offenbleiben, zum Beispiel für Sinnfragen der Schüler, die den Stoff möglicherweise nur zum Anlaß nehmen. Der Unterricht muß immer auch gleichsam philosophierende Elemente enthalten. Nichts wäre jedoch gewonnen, wenn der Unterricht die bornierte Unmittelbarkeit von Schülererfahrungen nur verstärkt bzw. verdoppelt. Er muß auch das einbringen, was sich in der Alltagserfahrung von Freizeit und Konsum nicht ohne weiteres auffinden läßt, zum Beispiel soziale Phantasie und angemessene Vorstellungen über globale Probleme, über die Mechanismen politischer und ökonomischer Strukturen. Der Erfahrungshorizont muß transzendiert werden können.

4. Der Gedanke der Muße muß zumindest als Korrektiv zum an Stoffquantitäten orientierten Leistungsprinzip zur Geltung kommen. Zeit für reflexive Besinnung muß vorhanden sein. Es geht nicht um Stoffülle - die ist praktisch unbegrenzt aus den Massenmedien zu haben -, sondern um den Aufbau von Verständniskategorien an exemplarischen Stoffen.

5. Die Unterrichtsfächer und ihre didaktische Funktion müssen im Hinblick auf das Leben in Freizeit und Politik überprüft werden. Vor allem Film, Fernsehen und Publizistik müssen unbedingt sowohl im inhaltlichen wie im formal-ästhetischen Sinne berücksichtigt werden, - sei es in einem eigenen Fach, sei es als Teil bestehender Fächer (z. B.

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die künstlerisch-ästhetischen Dimensionen im Literatur-, Kunst- und Musikunterricht, die politisch-informative Dimension im historisch-politischen Unterricht).

6. Die Schulfächer sind dazu da, die Fähigkeiten und Begabungen der Schüler zur Entfaltung zu bringen. Deshalb ist es nicht ungewöhnlich, wenn ein Schüler unterschiedliche Noten in einzelnen Fächern hat. Daran gemessen ist die Berechnung von Durchschnittsnoten zu Verwaltungszwecken (z. B. Numerus clausus) Unfug.

7. Vor allem bis zu den mittleren Klassen sollte der Unterricht in den kulturellen Fächern im engen Kontakt mit der kulturellen Umwelt erfolgen (Theater, Kino, Museen usw.), um kulturelle Partizipation einzuüben und zu verhindern, daß wie früher bei der "musischen Bildung" im wesentlichen nur für die Schule gelernt wird.

8. Optionen - zum Beispiel bei der Wahl von Fächern - sollten möglichst reduziert werden. jedenfalls verstärkt das heute in der Oberstufe des Gymnasiums übliche Verfahren der Wahl von Kursen die von der Freizeit her erfahrene Optionslast. Zudem fördern Optionen auch hier Flucht vor Anforderungen und ständige latente Unzufriedenheit mit dem Gewählten. Abgesehen davon erschwert das die Sachverhalte atomisierende System von Einzelkursen die nötige Identitätsarbeit, wozu ja auch das Fertigwerden mit Gegenständen und Stoffen gehört, die einem weniger leicht fallen oder einen weniger interessieren als andere. Die hier praktizierte Wahlfreiheit entstammt nicht etwa den politischen Prinzipien der Demokratie, sondern dem Freizeit- und Konsumbereich. Zudem hat das Kurssystem eine heillose Bürokratisierung heraufbeschworen, die ihrerseits die Möglichkeiten des Unterrichts zur Identitätsarbeit behindern.

Hinsichtlich der Optionen für Kurse und Fächer könnte man auf den ersten Blick auch den gegenteiligen Schluß ziehen, daß nämlich die Schüler gerade lernen müßten, mit Optionen umzugehen, und daß sie dies nur lernen könnten unter dem Zwang, es auch zu praktizieren. Selbst wenn man aber davon ausgeht, daß in nicht wenigen Fällen Schüler zumindest dem äußeren Anschein nach mit diesem Problem fertig werden, bleibt die Frage, was dabei in Wirklichkeit

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geschieht. Eine bloß zweckmäßige Wahl - "Wie bekomme ich mit dem geringsten Aufwand die meisten Punkte?" - führt ja gerade zur Gleichgültigkeit gegenüber den Sachverhalten und Themen und kann insofern nicht der Identitätsbildung zugutekommen. Andererseits hat Wählen in diesem Zusammenhang nur dann einen Sinn, wenn ein Fundus an Vorstellungen bereits vorhanden ist, der die Richtung der Wahl auch motivieren könnte. Vernünftiger wäre, einen wenn auch nur pragmatisch begründbaren Lehrplan - möglicherweise auch mit einem minimalen Grundkanon - zu formulieren, der dem Lehrer möglichst viel Gestaltungsspielraum läßt für einen Unterricht, der Zusammenhänge und Konsistenzen aufdecken kann. Unterricht als Identitätsarbeit läßt sich nicht landesweit in Richtlinien planen, und "Lernziele" und "Qualifikationen" sind hier ohnehin unzulängliche Beschreibungen, weil das, was gemeint ist, vielfach nicht Vorgabe, sondern erst Ergebnis des Unterrichts sein kann.

9. Die Sozialerziehung sollte nicht nur Kooperationsfähigkeit und angemessenes Verhalten in Gruppen üben, sondern vor allem auch Distanz des Einzelnen als Schutz vor den anderen. Hier darf die Schule die "Gleichschaltung" der Gleichaltrigengruppe in der Freizeit nicht verdoppeln, sondern muß sie kritisch korrigieren. Auch sollte die Schule ritualisierte Formen des Umgangs, soweit sie sich aus dem Charakter der Institution ergeben, wieder deutlich machen. Ein Lehrer, der sich von den Schülern duzen läßt, hilft ihnen damit noch nicht. Umgekehrt sollte er Schüler von einem bestimmten Alter an siezen. Ritualisierte Kommunikationen, in letzter Zeit als "unsolidarisch" verfemt, sind auch kulturell geformte Möglichkeiten, die Persönlichkeit zu schützen, und außerdem sind sie außerhalb der pädagogischen Provinz, in Beruf und Politik, üblich. Zum schulischen Kommunikationsritual gehört auch die Durchsetzung jenes Maßes an Disziplin, das für die Unterrichtsarbeit erforderlich ist. Disziplinlosigkeit ist die Übertragung von Freizeiterfahrungen auf die Schule, ihre Zulassung fördert nur die Desorientierung der Schüler und ist meistens Ursache, nicht Folge von Aggressivität.

10. Das bisher Gesagte darf nicht dahingehend mißverstan-

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den werden, als ob damit aus der "Leistungsschule" eine "Spielschule" werden solle. Gerade als Korrektiv der Erfahrungen, die im Umgang mit Freizeit und Massenmedienkultur gewonnen werden, muß die Schule von Anfang an die Erfahrung von planmäßiger und auch anstrengender Arbeit vermitteln, - nicht nur, um junge Menschen berufsfähig zu machen, sondern auch, weil angemessene Weltvorstellungen und letztlich auch Identität ohne Anstrengung nicht zu haben sind. Sich mit Ansprüchen kultureller Objektivationen einzulassen, vermag aus der Falle der je aktuellen Bedürfnisse, Interessen, Lust- oder Unlustgefühle herauszuführen. Sich im Unterricht gerade darauf zu fixieren, hilft den Schülern nicht, sondern verdoppelt nur ihre schon in der Freizeit erworbene Ratlosigkeit und Desorientierung. Allerdings ist "Arbeit" in diesem Sinne nicht zu verstehen wie jene industrielle Arbeit, die unter rationeller Ausnützung der Zeit möglichst hohe Erträge erwirtschaften will, sondern im Sinne von disziplinierter geistiger Tätigkeit, die sich wenn nötig die dafür erforderliche Zeit auch nehmen kann.

Dabei muß dann auch überprüft werden, ob so manche modische Unterrichtsmethode nicht nur eine Anpassung an die im Freizeit- und Konsumsystem erworbenen Haltungen und Erwartungen der Schüler signalisiert, statt sich am Prinzip der disziplinierten geistigen Tätigkeit zu orientieren.

11. Vor allem bis zu den mittleren Jahrgangsklassen sollte eine Art von "Werkunterricht" erteilt werden, der ohne falsche Pädagogisierung einige handwerkliche Grundkenntnisse und -fertigkeiten vermittelt, die für Tätigkeiten außerhalb der Erwerbsarbeit nützlich sein können.

12. Was für die Schule gefordert wurde, gilt im Prinzip und sinngemäß auch für die Hochschule. In einer Zeit, in der Berufszugänge nicht mehr zwingend mit bestimmten Studienabschlüssen verbunden sind, wird das Studium zunehmend auch zu einem Freizeitstudium, dessen Thema und Gegenstand auch die berufsunabhängige Identitätsarbeit ist. Bevor auch das geisteswissenschaftliche Studium industrialisiert wurde, gab es eine Vorstellung davon, daß die Studienzeit auch eine eigentümliche Zeit der Sozialisation sei,

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in der das Studieren nur eine wenn auch wichtige Teilbedeutung hat. Diese Vorstellung gilt es zu reaktivieren.

13. Bildungspolitisch gesehen sollte die starre Altersdreiteilung unseres sozialen Lebens - Kindheit und Jugend als Phase der Vorbereitung auf den Beruf, Berufsarbeit, Rentnerdasein - entscheidend gelockert werden. Möglichst früh sollten Phasen der Erwerbstätigkeit mit Phasen des Rückzugs in die Bildungstätigkeit wechseln können. Bei jungen Menschen könnte dadurch die allzulange Zwangsfixierung auf die Gleichaltrigen gemildert werden, ältere könnten nicht nur ihre Freizeitbildung weiterbetreiben, sondern - je nach Beruf - sich auch beruflich weiterbilden. Die Chancen der ohnehin anstehenden Neuverteilung der Arbeit sollten auch unter diesem Gesichtspunkt genutzt werden.

Die Chancen für die in diesem Kapitel vorgeschlagenen Reformen stehen einstweilen nicht gut, weil nach den Bildungsreformen der siebziger Jahre verständlicherweise ein Bedürfnis nach Beruhigung und Konsolidierung sich breit gemacht hat. Aber wie wir heute wissen müssen, hat jene Reform überwiegend die falschen Fragen gestellt, Fragen, die für die Generation der engagierten Reformer zweifellos von - auch biographischer - Bedeutung waren, für die kommenden Generationen jedoch weitgehend uninteressant sein werden. Diese Reformkonzepte haben die überlieferte Laborisierung der Schule mehr oder weniger radikal zu Ende gebracht und damit erst jenes Maß an menschlicher Entfremdung und an Bürokratisierung und Industrialisierung des Unterrichts heraufbeschworen, das für eine Lösung der künftigen Bildungsprobleme nur hinderlich sein kann. Die für die heraufkommende Arbeits- und Freizeitgesellschaft nötige Bildungsreform steht noch aus und wird geistig wie organisatorisch vor immensen Schwierigkeiten stehen.

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