Hermann Giesecke

Droht das auch uns?
Rezension: 

Richard Münch: Der bildungsindustrielle Komplex: Schule und Unterricht im Wettbewerbsstaat. Weinheim 2018

veröffentlicht in: Amazon-Kunden-Rezension

© Hermann Giesecke


Richard Münch, ein international anerkannter, inzwischen emeritierter Professor für Soziologie in Bamberg, hat bereits mehrere Bücher über gesellschaftliche Gegenwartsfragen veröffentlicht – unter anderem über die akademischen Eliten in Deutschland und über die Hochschulreformen. Sein neues Buch (Der bildungsindustrielle Komplex: Schule und Unterricht im Wettbewerbsstaat. Weinheim 2018) erzählt die spannende Geschichte, welche Bildungsreformen in den USA in den letzten Jahrzehnten wie, mit welchen Zielen und mit welchen Resultaten inszeniert worden sind. Nur auf den ersten Blick ist das weit von uns entfernt. Tatsächlich jedoch ist in den USA eine Entwicklung vorangetrieben worden, die auch in Deutschland und Europa längst eingesetzt hat: die radikale Vermarktung des Bildungswesens. Deshalb geht dieses Buch auch in Deutschland alle an, die von Bildungspolitik in welcher Weise auch immer betroffen sind. Vor allem sollten diejenigen es genau zur Kenntnis nehmen, die diese Politik gestalten und zu verantworten haben.

 "Die Vereinigten Staaten sind ein lehrreiches Beispiel für eine Politik, die von der Schule erwartet, alle Verwerfungen, Ungleichheiten und Konflikte einer sozial, kulturell und religiös höchst heterogenen Gesellschaft aufzulösen. Und sie bieten ein lehrreiches Beispiel für die zunehmende Unterwerfung von Bildung, Schule und Unterricht unter einen bildungsindustriellen Komplex, in dem sich Bildungsreformer mit besten Intentionen, Bildungsforscher mit dem Interesse an der Nutzung ihrer Erkenntnisse, Think Tanks, Beratungsunternehmen, Milliardärsstiftungen und eine Bildungs- und Testindustrie mit handfesten geschäftlichen Interessen die Hand geben" (S. 13)

Der allgemeine ökonomische Hintergrund dieser Entwicklung beruht darauf, dass die so genannten Finanzmärkte ein dringendes und drängendes Bedürfnis hervorrufen, neue Felder für profitable Investitionen zu entdecken. Da bieten sich auch solche an, die sich traditionell nach eigenen, nämlich nicht "marktkonformen" Maßstäben organisiert hatten. Auch sie sollen sich nun nach den Maßstäben des radikalen Marktes und angeblich auch nach denen des Wettbewerbs neu gestalten lassen. Bei uns in Deutschland gehören dazu bereits Teile des Gesundheitswesen, des Verkehrswesens und auch schon des Bildungswesens, die früher als Gemeingut angesehen wurden. Diese Expansion vollzieht sich einerseits unter dem Stichwort der Globalisierung, andererseits vor Ort bis in die letzten bisher in Ruhe gelassenen Ecken des unmittelbaren sozialen Lebens hinein.

 In den USA zeigt sich nach Recherchen von Richard Münch nun folgendes: Für eine radikale, inzwischen milliardenschwere Kommerzialisierung des Schulwesens braucht man möglichst allgemein anzuerkennende Tests, deren Prüfungsaufgaben möglichst schnell monopolisiert werden. Ferner muss die professionell verstandene Lehrertätigkeit abgeschafft oder zumindest eingeschränkt werden - zur Not auch durch eine entsprechende Auswechslung des Personals - was im Unterschied zu Deutschland in den USA offenbar relativ einfach zu regeln ist. Zudem ist dafür die Konzentration auf wenige Fächer erforderlich - in vorliegenden Falle reduziert auf Mathematik und Englisch. Die Inhalte der Fächer müssen auf das beschränkt werden, was sich überregional standardisieren lässt, damit die Schulen und deren Klassen möglichst landesweit und tendenziell sogar international miteinander vergleichbar werden können. Schulen, die auf Dauer bei den Tests nicht erfolgreich abschneiden, werden geschlossen, um dies zu verhindern werden schlechte Schüler, die die Bilanz der vergleichenden Tests senken, zur Not der Schule verwiesen.

Dabei wird keineswe eine bestimmte Reformideologie favorisiert, vielmehr hat es verschiedene pädagogische Ansätze und Ausgangspunkte gegeben, die auch in Deutschland teilweise eine Rolle spielen. Die Konzentration auf dieses bestimmte Format, Resultate zu messen, führt jedoch zu einer Verarmung der inhaltlichen, emotionalen und sozialen Dimension des pädagogischen Handelns - aber eben auch zu einem großen Geschäft.

Münch nennt dafür Ross und Reiter, also diejenigen Personen und ihre großen Firmen, die dabei eine Rolle spielen und miteinander vernetzt sind.

 "Dass die Bildungs- und Testindustrie trotz aller Misserfolge gute Geschäfte mit diesem Programm macht, ist keine auf Dauer tragfähige Legitimationsgrundlage für dessen Weiterführung. Erst recht rechtfertigen die Profite von Pearson, ETS, McKinsey & Co. nicht, dass das von ihnen errichtete Testregime einen Druck aufbaut, der ganze Generationen von Schüler/innen ihrer Kindheit und Jugend beraubt, ohne dass die Gesellschaft irgendeinen Nutzen davon hätte." (S. 336)

 Überprüfungen durch Forschungen in den USA, die von außen das Geschehen analysieren, haben nämlich, wie Münch berichtet, eindeutig das Scheitern dieser so genannten Reformen, gerade auch gemessen an ihren eigenen Maßstäben, festgestellt. Ein Grund dafür ist, dass eben Sozialpolitik nicht durch Bildungspolitik, materielle Verteilungsfragen nicht durch Bildungsangebote kompensiert oder gar ersetzt werden können. An der sich auch in den USA vergrößernden ökonomischen Schere zwischen Arm und Reich soll sich ja durch diese Bildungspolitik grundsätzlich nichts ändern.

Vor allem im Schlusskapitel ("Schule und Unterricht im Zugriff des bildungsindustriellen Komplexes") finden sich zahlreiche nicht nur politisch, sondern auch pädagogisch bedenkenswerte Überlegungen, die sich aus diesem Scheitern ergeben.

 Münch bezieht sich für seine bildungspolitische und schulpädagogische Argumentation unter anderem auf die erziehungswissenschaftliche Anwendung der so genannten Systemtheorie (Niklas Luhmann/Karl Eberhard Schorr: Reflexionsprobleme im Erziehungssystem,1988). Nach dieser Theorie hat sich die moderne Gesellschaft in relativ autonome Teilsysteme ausdifferenziert, zu denen auch das Erziehungswesen mit einer ihm eigentümlichen Professionalität zu rechnen sei. Daraus ergebe sich auch, dass das Erziehungswesen in seinem Kern "nicht technologisierbar" sei. (Was übrigens jeder Lehrer mit einer gewissen Berufserfahrung auch ohne Systemtheorie weiß).

Die Frage ist jedoch, ob diese Interpretation der gesellschaftlichen Differenzierungen nicht schon zum Zeitpunkt ihrer Formulierung problematisch war, weil sie historisch gesehen möglicherweise weniger einem Tatbestand als vielmehr einem Ende Ausdruck verleiht. Zumindest von heute aus gesehen könnte diese Bestandsaufnahme der Systemtheorie auch als ein Abgesang auf eine Ordnung des gesellschaftlichen Lebens verstanden werden, die nicht nur tatsächlich, sondern auch normativ pluralistisch konstruiert und insofern auch demokratisch verfasst war. Jedenfalls können die Tendenzen, die Münch beschreibt, auch als ein neuer Totalitarismus empfunden werden. Überschreiben sie nicht längst diese Differenzierungen wieder dadurch, dass sie offenbar gerade in der Gestalt des Marktradikalismus und seiner Implikationen das ganze soziale und kulturelle Leben infiltrieren? Entsteht dadurch nicht ein neuer, in seinen Folgen noch nicht absehbarer, antipluralistischer ökonomischer und ideologischer Totalitarismus?

 Für uns in Deutschland liegt nach der Lektüre dieses Buches die Überlegung nahe, ob wir nicht auf die PISA- Untersuchungen, die aus dem Holz des angeblich international vergleichenden Testens geschnitzt sind, in Zukunft verzichten sollten. Diskutiert wurde dies schon zu Beginn unseres Jahrtausends - nachdem Deutschland zum ersten Mal daran teilgenommen hatte. Für eine Verbesserung des Unterrichts taugen sie anerkanntermaßen so gut wie nichts und für eine akzeptable zukunftsorientierte Bildungspolitik stellen sie die falschen Fragen. Sie sind aber ein zentrales Einfallstor für kommerzielle Tendenzen und kosten eine Menge Geld. "Die Leistungsvergleiche selbst gehören auf den Prüfstand einer intensiven öffentlichen Debatte über Sinn und Zweck von Bildung, Schule und Unterricht. Ob sie überhaupt helfen, den Bildungsprozess zu verbessern, bedarf einer eingehenden Diskussion." (S. 13)

 

Prof. Dr. Hermann Giesecke, Göttingen