Hermann Giesecke
Bildung

In: Kreft, Dieter/Mielenz, Ingrid (Hrsg.): Wörterbuch Soziale Arbeit, 5. vollständig überarbeitete und ergänzte Aufl. Weinheim/München 2005, S. 174-176
© Hermann Giesecke





Zum Begriff

"B." ist ein vieldeutiger und schwer zu präzisierender pädagogischer Begriff. Das liegt daran, dass in ihn seit der Antike viele, teils kontroverse philosophische, anthropologische und wissenschaftliche Traditionen sowie unterschiedliche normative Positionen eingegangen sind, die als Implikationen immer mitschwingen, wenn das Wort benutzt wird. Der Begriff "B." mobilisiert alles, was irgendwie mit dem Menschen und seiner Stellung in der Welt zu tun hat. Andererseits hat er gerade in den letzten Jahrzehnten in vielen Zusammensetzungen eine geradezu inflationäre Ausweitung erfahren (u.a. Bs.planung, Bs.beratung, Bs.forschung, Bs.wesen, Bs.ökonomie, Bs.politik, Gemütsb., Affektb., Herzensb., Erwachsenenb., Seniorenb.). Darin drückt sich jedoch weniger ein zunehmendes Interesse an der Sache selbst, als vielmehr eine sprachliche Verlegenheit aus, weil der Gebrauch des in diesem Zusammenhang alternativ möglichen Begriffes "Erziehung" zu sehr auf den Umgang mit Unmündigen verweist.

Bildung und Erziehung

Weitgehend ungeklärt ist auch das Verhältnis der B. zur Erziehung. Erziehung ist als Bestandteil sozialer und gesellschaftlicher Reproduktion immer nötig, Bildung im hier zu erläuternden Sinne jedoch eine relativ späte historische Zutat, die sich sogar subversiv gegen Erziehungsansprüche wie auch gegen andere gesellschaftliche Erwartungen wenden kann. Die reale Bs.geschichte zeigt immer wieder Versuche zur Domestizierung der aufklärerischen Momente der B. durch Erziehung, während umgekehrt die B. dazu tendiert, als pädagogischer Selbstzweck anerkannt zu werden, der durch erzieherische Vorgaben nicht erst legitimiert werden muss. Andererseits enthält der Prozess der B. selbst erzieherische Implikationen, wie es etwa in der Rede vom "erziehenden Unterricht" zum Ausdruck kommt.

Der Begriff im Wandel der Zeiten

Das Wort B. taucht in der Mitte des 18. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum auf. Es wird benutzt von Dichtern und Denkern im Umfeld des Deutschen Idealismus (u.a. Goethe, Schiller, Kant, Lessing), die angesichts des Untergangs der ständischen Gesellschaft und ihrer normativen Vorgaben die Freiheit davon als Chance für individuelle Autonomie und höchstmögliche Entfaltung ihrer Persönlichkeit erkennen; was die soziale Außenwelt nicht mehr regelt und kontrolliert, muss in der Innenwelt des Individuums verankert werden. In diesem Zusammenhang entwickelte sich das Ideal des "Gebildeten", der einer wenigstens zeitweisen Freiheit von äußeren Pflichten bedarf, um in der Auseinandersetzung mit Wissenschaft, Kunst und Literatur seine geistigen und sittlichen Fähigkeiten zur höchsten Entfaltung zu bringen, indem er in einen intensiven Austausch mit seiner Kultur und ihrer Tradition sowie tendenziell mit allen anderen Weltkulturen eintritt.
Auf diesem geistigen Hintergrund formulierte Wilhelm von Humboldt im Gegensatz zum damals herrschenden utilitaristischen Erziehungsideal, das wirtschaftliche und gesellschaftliche Brauchbarkeit unmittelbar anstrebte, seine Vorstellung von "allgemeiner B.", die jeder beruflichen Spezialisierung vorausgehen müsse und jedem Menschen ohne Rücksicht auf Stand und Herkunft zu ermöglichen sei.
"Jeder ist offenbar nur dann ein guter Handwerker, Kaufmann, Soldat und Geschäftsmann, wenn er an sich und ohne Hinsicht auf seinen besonderen Beruf ein guter, anständiger, seinem Stande nach aufgeklärter Mensch und Bürger ist. Gibt ihm der Schulunterricht, was hiezu erforderlich ist, so erwirbt er die besondere Fähigkeit seines Berufs nachher sehr leicht und behält immer die Freiheit, wie im Leben so oft geschiehet, von einem zum anderen überzugehen ... Fängt man aber von dem besondern Berufe an, so macht man ihn einseitig, und er erlangt nie die Geschicklichkeit und die Freiheit, die nothwendig ist, um auch in seinem Berufe allein nicht bloss mechanisch, was Andere vor ihm gethan, nachzuahmen, sondern selbst Erweiterungen und Verbesserungen vorzunehmen." (W. v. Humboldt).
Politischer Hintergrund für dieses Konzept war die Niederlage Preußens gegen Napoleon und die Notwendigkeit, das in Ständen voneinander getrennte Volk sich als einer gemeinsamen Nation zugehörig erfahren zu lassen.
Dank Humboldt wird die Bs.idee zur Grundlage des allgemein bildenden Schulunterrichts - allerdings im geschichtlichen Verlauf mit bedeutsamen Verengungen: Die Konzentration auf einen literarisch-ästhetischen Kanon insbesondere in den Gymnasien hat nicht nur naturwissenschaftliche, sondern auch politisch-gesellschaftliche Dimensionen als für B. nicht relevant ausgeblendet; die Trennung von Allgemeinb. und Berufsausb. hat faktisch dazu geführt, letztere sich selbst bzw. der Wirtschaft zu überlassen und gar nicht erst unter den Maximen der Bildung kritisch zu prüfen; die durch das Berechtigungswesen immer wieder reproduzierte Trennung
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zwischen den Gymnasien einerseits und dem restlichen Schulwesen andererseits hat B. an einen bestimmten gesellschaftlichen Status ("Bs.bürgertum") gebunden und diesen weitgehend exklusiv an den eigenen Nachwuchs vererbt. Diese Exklusivität wurde auf die Dauer jedoch überwunden. Weil das Bs.konzept nämlich prinzipiell für alle Menschen gelten sollte, hat es demokratische Entwicklungen vorbereitet und mit forciert, insofern es pädagogische Maßstäbe für die politischen Emanzipationsbewegungen der Moderne - der Arbeiter, der Frauen und der Landbevölkerung - setzte. Was zunächst elitär und klassenspezifisch begann, entwickelte sich zum Anspruch an und für alle Kinder.

Bildung heute

Geht man nun auf den Kern der ursprünglichen Problemformulierung zurück und lässt dabei die geschichtlichen Variationen außer Acht, entpuppt sich die Bs.idee als erstaunlich produktiv und durchaus aktuell. Das gilt vor allem für das Projekt der selbsttätigen Individualisierung und für die These von der notwendigen Distanz des Prozesses der Selbstb. zu den Befangenheiten des aktuellen Lebens.
Die gesellschaftlich bedingte Notwendigkeit der Individualisierung hat die früheren elitären Zirkel verlassen und gilt längst für die gesamte Bevölkerung. Die Bs.idee versteht darunter jedoch nicht bloße Subjektivität oder eine genetische Vorgabe im Sinne einer herauszulockenden innerpsychischen Tatsache. Individualisierung wird vielmehr als Aufgabe verstanden, das Nichtsubjektive, nämlich die außersubjektive Welt, mit ihren Regeln, Strukturen und Gesetzen ernst zu nehmen; sie erwächst als Resultat aus einem spezifischen geistigen Prozess, nicht aus bloßer Wahrnehmung von Optionen. Das Projekt der Selbstaufklärung durch Weltaufklärung bindet den Prozess der Herausarbeitung der Individualität vielmehr an objektive Anforderungen und verschränkt ihn somit auch mit sozialen und gesellschaftlichen Pflichten. Es geht demnach um eine eigentümliche Beziehung von Sache und Person, nicht um die bloße Einverleibung einer bestimmten Wissensmenge. Wissen ist hier kein Selbstzweck, sondern ein notwendiges Mittel, um sich zutreffende Vorstellungen über die Welt aufzubauen. Auf die ständige Auseinandersetzung mit der Welt kommt es an, auf das immer wiederholte Abarbeiten der Differenz zwischen der bisherigen Erfahrung einerseits und den ihr widersprechenden Ansprüchen der Bs.stoffe bzw. der Lebensanforderungen andererseits. Diese Konfrontation ist nicht möglich, ohne immer wieder Sinn- und Moralfragen nicht nur an die Welt, sondern auch an sich selbst zu richten. Diese selbstreflexive Grundhaltung macht den eigentlichen Kern von Bs.prozessen aus. Sie kann in der Schule nur initiiert und methodisch eingeübt werden, erneuern und bewähren muss sie sich ein Leben lang. Deshalb sind lebensbegleitende Bs.angebote durch Jugendarbeit und Erwachsenenbildung, aber auch im Rahmen der Sozialarbeit von zunehmender Bedeutung; sie können möglicherweise sogar die selbstreflexive Grundhaltung eher ansprechen als die durch Leistungsdruck, Zeitmangel und Stofffülle bedrängte Schule. Deshalb wird im internationalen Diskurs zunehmend das Zusammenwirken von formeller Bildung (im Schul -, Ausbildungs - und Hochschulsystem), nichtformeller Bildung (freiwillig wahrzunehmende organisierte Angebote) und informeller Bildung (die sich im Alltag ergibt) betont.
Weiterhin aktuell ist gerade auch im Hinblick auf die Gestaltung der Berufsausbildung weiterhin der Gedanke, dass die allgemeinen Fähigkeiten des Menschen, die die Grundlage für die Erfüllung aller einzelnen Lebensanforderungen bilden, in Distanz zum aktuellen Lebenszusammenhang, also unter Verzicht auf bloß funktionale und unmittelbar verwertbare Instruktion, entwickelt werden sollen. Nicht das Leben bildet, sondern nur die B. bildet, nämlich als Versuch, sich die objektive Welt - erforscht durch die Wissenschaften und dargestellt in bedeutenden Texten und ästhetischen Produkten - in ihrem Zusammenhang in direktem Zugang, durch eine bestimmte Tätigkeit des Verstandes, vorzustellen und anzueignen. "Lebensnah" ist der bildende Unterricht nur insofern, als er an die vorhandenen Erfahrungen anknüpft und diese weiter zu entwickeln versucht, indem er auf sie zurückwirkt.
Das erwähnte demokratische Element der B. konkretisiert sich in der Forderung, dass alle Bürger die prinzipiell gleiche Chance der (politischen, kulturellen und beruflichen) Partizipation an den gesellschaftlichen Möglichkeiten erhalten sollen. Unter diesem Aspekt stellt sich das Problem des Kanons von Fächern und Stoffen neu. Die klassische Konzentration auf literarisch-ästhetische Gegenstände muss ergänzt werden durch eine naturwissenschaftliche und politisch-gesellschaftliche Grundbildung. Zudem sind wichtige formale Fähigkeiten erforderlich: zur sprachlichen Differenzierung, zur selbstständigen Bearbeitung von Problemen, zum Recherchieren von Informationen, zur Kooperation. Die Kernfrage könnte lauten:
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Was muss man lernen, wenn man nicht wissen kann, was man in Zukunft wissen muss?

Literatur:

D. Axmacher: Widerstand gegen Bildung. Zur Rekonstruktion einer verdrängten Welt des Wissens, Weinheim 1990; D. Benner: Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie, Weinheim 1995; Bildungskommission Nordrhein-Westfalen: Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft. Denkschrift der Kommission "Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft" beim Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Neuwied 1995; M. Fuhrmann: Bildung: Europas kulturelle Identität, Stuttgart 2002; H. Giesecke: Pädagogische Illusionen. Lehren aus 30 Jahren Bildungspolitik, Stuttgart 1998; H. v. Hentig: Bildung, München/Wien 1996; W. Klafki: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, Weinheim 5. Aufl. 1996; H.-E. Tenorth: "Bildung" - Thematisierung und Bedeutungsformen in der Erziehungswissenschaft. In: ZfPäd 6/1997, 969 ff.; E. Wicke u.a.: Menschheit und Individualität. Zur Bildungstheorie und Philosophie Wilhelm von Humboldts, Weinheim 1997
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