Hermann Giesecke

Wozu ist das Gymnasium (heute) da?

In: Theo Kemper/Ludger Linneborn/Georg Möllers/Petra Peveling/Heribert Seifert/Axel Vering (Hrsg.): 175 Jahre Abitur am Gymnasium Petrinum Recklinghausen 1829-2004. Selbstverlag Gymnasium Petrinum Recklinghausen 2004, S. 27-33




"Keine Schulform war in den unruhigen Jahren der beginnenden Bildungsreform in vergleichbarem Maße der Kritik ausgesetzt wie das Gymnasium, und dennoch kann kaum eine andere Schulform auf eine ähnlich kontinuierliche Erfolgsgeschichte zurückblicken. In den vergangenen 50 Jahren entwickelte sich das Gymnasium in der Bundesrepublik von einer Elitebildungsanstalt zu einer Schule, die mittlerweile das attraktivste Programm einer intellektuell anspruchsvollen Grundbildung für einen breiten Anteil der Sekundarschüler anbietet. Während 1952 nur knapp 5 Prozent der 18-bis 19-Jährigen das Gymnasium erfolgreich mit der Hochschulreife verlassen hatten, erwirbt Ende der 1990er Jahre knapp ein Viertel des Altersjahrgangs das Abitur" (1).

Dieser Trend scheint unaufhaltsam zu sein, weil die nun zahlreicher gewordenen Eltern, die selbst das Abitur erworben haben, ihren Kindern wiederum eine entsprechende Schulbildung verschaffen möchten. Weder konservative Regierungen, die durch diese Expansion einen Niveauverlust befürchteten, noch die Befürworter der Gesamtschule konnten die Attraktivität des Gymnasiums bremsen.

Andererseits sind die bildungspolitischen Auseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte nicht spurlos an dieser Schulform vorbeigegangen. Die nachhaltigste Wirkung hinterließ wohl die Reform der gymnasialen Oberstufe von 1972, die ein System von Pflicht- und Wahlangeboten – unterschieden nach Grundkursen und Leistungskursen - einführte. Dabei blieb der altsprachliche Schwerpunkt mit Latein und Griechisch weitgehend auf der Strecke, Ende der neunziger Jahre entschieden sich selbst in Bayern, wo die alten Sprachen sich immer besonderer Beliebtheit erfreuten, nur noch 5,6 Prozent der Schüler für einen Leistungskurs in Latein, 0,6 Prozent für einen solchen in Griechisch. Dafür sind die modernen Fremdsprachen stärker in den Vordergrund getreten. Ob die quantitative Expansion das Leistungsniveau im ganzen gesenkt hat, ist umstritten und empirisch wohl auch nur schwer zu entscheiden. Jedenfalls hat sich das Gymnasium über das traditionelle bildungsbürgerliche Milieu hinaus für neue soziale Gruppen geöffnet, wovon insbesondere die Mädchen profitierten, die Anzahl der weiblichen Abiturienten übersteigt inzwischen die der männlichen. Auch der vom reformpädagogischen Zeitgeist ausgehende Druck, den Unterricht nach neuen Maßstäben zu gestalten, hat am Gymnasium Wirkung gezeigt, konnte aber offensichtlich die Dominanz des Fachunterrichts und den im Wesentlichen gesprächsorientierten und kognitiv bestimmten Unterrichtsstil als seine Kernstücke nicht beseitigen.
 
"Trotz aller Klagen von Pädagogen über die intellektuelle Einseitigkeit der Schule scheinen die Stabilität des fachlichen Anspruchs und der Vorrang des Kognitiven nicht zuletzt für die Anziehungskraft des Gymnasiums mit entscheidend zu sein. Unter den Gymnasien wiederum verzeichnen diejenigen Schulen die größte Nachfrage, denen diese Merkmale - oftmals in Verbindung mit strengen Leistungsmaßstäben - in besonderer Weise zugeschrieben werden, und nicht diejenigen, die im Ruf stehen, das Abitur eher freizügig zu vergeben" (2).

Der quantitative Erfolg des Gymnasiums wirft jedoch die Frage auf, ob dieser Schulform noch ein spezifischer pädagogischer Sinn anhaftet, der Lehrer, Schüler und Eltern an ein gemeinsames Aufgabenverständnis zu binden und in der öffentlichen Meinung Unterstützung zu finden vermag. Ist an die Stelle des alten, weitgehend zerfallenen Bildungskanon eine neue Idee getreten, die so etwas wie eine institutionelle Identität zu stiften vermag? Wozu also ist das Gymnasium heute da?
 
Darüber herrscht offensichtlich keineswegs Klarheit. In der veröffentlichten Meinung er-
27

scheint das Gymnasium immer noch als rückständig, weil es sich für modern gehaltenen reformpädagogischen Dogmen nach wie vor widersetzt. Nicht wenigen Schülern und ihren Eltern erscheint es als notwendiges Übel, das für die künftige Karriere in Kauf genommen werden muss. Karrierebewusstsein allein greift jedoch zu kurz, weil es keine Antwort dafür parat hat, worin der persönliche Sinn einer langjährigen Schulzeit eigentlich bestehen soll, wenn der Blick lediglich auf das erfolgreiche Ende - das Abitur - fixiert ist.
 
Um einer Antwort näher zu kommen ist es vielleicht nützlich, einen alten Begriff wieder ins Spiel zu bringen, der zwar nach wie vor in aller Munde ist, aber seine ursprüngliche Bedeutung weitgehend verloren hat: Bildung. Eine breite Allgemeinbildung, die zur generellen, nicht auf bestimmte Fächer begrenzten Studierfähigkeit führt - das ist traditionell die Aufgabe des Gymnasiums. Dieses Konzept hat es schwer in einer Gesellschaft, die geradezu besessen ist von der Vorstellung, Wissen müsse zumindest in überschaubarer Zeit seine ökonomische oder sonstige Verwertbarkeit nachweisen, woran gemessen der altmodische Begriff der Bildung eher Nutzloses zu repräsentieren scheint. "Wozu brauch' ich das"?, fragen sich nicht selten Schüler, die an bestimmten Fächern oder Themen kein Interesse, aber vielleicht eine ernsthafte Berufsperspektive bereits im Blick haben. Sie können sich unterstützt fühlen durch überproportionale Stellen- bzw. Finanzstreichungen bei den Geisteswissenschaften an den Universitäten, die vermeintlich keinen rechten Nutzen abwerfen. Es gibt also gute Gründe, angesichts der quantitativen Expansion des Gymnasiums über seinen Kern, den Sinn der allgemeinen, also nicht bereits auf einen bestimmten Beruf bezogenen Bildung erneut nachzudenken.

Dabei lässt sich anknüpfen an ein Ergebnis der Bildungsforschung, das in der öffentlichen Diskussion kaum zur Kenntnis genommen wird.
 
"Weitgehend unabhängig vom Leistungsniveau einer Klasse insgesamt erhalten die Besten die Note 'sehr gut', die Schwächsten dagegen die Note 'mangelhaft'. Dies führt dann in der Tat dazu, dass dieselbe Note für ganz unterschiedliche Leistungen stehen kann. Umso verblüffender ist der vielfach replizierte Befund, dass die durchschnittliche Abiturnote eines der besten Einzelmaße zur Prognose des Studienerfolgs ist: Je besser die mittlere Abiturnote, desto höher die Leistungen in Universitätsprüfungen. Dies gilt im Übrigen auch für andere Länder wie die USA ...
In Deutschland wie in den USA wurde verschiedentlich versucht, die Vorhersagekraft schulischer Beurteilungen durch eine gewichtete Kombination von Einzelnoten zu verbessern. Diese Versuche waren ebenso wenig erfolgreich wie die Berücksichtigung der Passung zwischen Fachnoten und Studienfächern" (3).

Offensichtlich fördert eine hinreichend breit angelegte Beschäftigung mit unterschiedlichen
28

 Fächern und deren verschiedenen Methoden zur Erkenntnisgewinnung eine flexible geistige Disposition, ein Repertoire, das später auch dann zur Verfügung steht, wenn es nur teilweise, nämlich im Hinblick auf einen bestimmten Beruf oder ein bestimmtes Fachstudium mobilisiert werden muss.
 
Nichts anderes hatte bereits Wilhelm von Humboldt im Jahre 1809 festgestellt:
"Jeder ist offenbar nur dann ein guter Handwerker, Kaufmann, Soldat und Geschäftsmann, wenn er an sich und ohne Hinsicht auf seinen besonderen Beruf ein guter, anständiger, seinem Stande nach aufgeklärter Mensch und Bürger ist. Gibt ihm der Schulunterricht, was hiezu erforderlich ist, so erwirbt er die besondere Fähigkeit seines Berufs nachher sehr leicht und behält immer die Freiheit, wie im Leben so oft geschiehet, von einem zum anderen überzugehen". Zu frühe Spezialisierung auf einen bestimmten Beruf jedoch komme diesem keineswegs zugute. "Fängt man aber von dem besondern Berufe an, so macht man ihn einseitig, und er erlangt nie die Geschicklichkeit und die Freiheit, die nothwendig ist, um auch in seinem Berufe allein nicht bloss mechanisch, was Andere vor ihm gethan, nachzuahmen, sondern selbst Erweiterungen und Verbesserungen vorzunehmen"(4).

Dahinter stand damals eine einfache Einsicht: Wenn man, wie bis dahin üblich, den Menschen lediglich für seine künftig erwarteten spezifischen Funktionen - etwa als Bauer, Handwerker, Geschäftsmann - ausbildet, dann läuft er Gefahr, Veränderungen in seinem Beruf nicht mehr gewachsen zu sein. Erteilt man ihm jedoch eine grundlegende Bildung im Sinne einer Allgemeinbildung, wird er in den Stand gesetzt, auf solche Veränderungen, die vorher niemand voraussehen kann, durch Weiterlernen flexibel zu reagieren. Er verfügt dann nämlich über das dafür erforderliche geistige Potential. Dieses Potential muss demnach größer sein, als jeweils in seinem Alltag von ihm verlangt und erwartet wird. Deshalb kann er es in seiner Lebensumwelt allein auch nicht erwerben. Allgemeinbildung ergibt sich nicht aus der Summe dessen, was jemand für seine alltäglichen Funktionen lernt - nicht aus den Erfahrungen der "Lebenswelt", wie man heute sagen würde. Im Gegenteil: Je allgemeiner jemand gebildet ist, um so mehr kommt dies auch seinen speziellen Tagesaufgaben, etwa im Beruf, zugute.
 
Die traditionelle Bildungsidee - von ihren zeitbedingten Einseitigkeiten und Übertreibungen befreit - antwortet also auf eine sehr moderne Frage, die sich in Zeiten rapider gesellschaftlicher Veränderungen besonders nachdrücklich stellt: Was muss man lernen, wenn man nicht wissen kann, was man in Zukunft wissen muss?
 
In der Gegenwart hat man auf diese Frage "moderne" Antworten zu geben versucht, indem man etwa nach "Schlüsselqualifikationen" oder "Schlüsselkompetenzen" gefahndet hat, aus denen die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten unter Verzicht auf die Bildungsidee abgeleitet werden könnten. Dieses Verfahren blieb aber rein formal, solange es
29

 sich nicht auf bestimmte inhaltliche Bezüge einließ; geschah das doch, dann war man wieder so schlau wie zuvor, weil die umstrittene Diskussion über Fächer und Stoffe erneut geführt werden musste, die man durch den formalen Ansatz gerade vermeiden wollte.
 
Die grundlegende didaktische Idee der Bildung präsentiert sich anders: Der Schüler soll sich durch einen allgemeinbildenden Unterricht einerseits die Grundlagen der natürlichen und kulturellen Welt zu eigen machen und andererseits dabei seine wesentlichen Fähigkeiten zur Entfaltung kommen lassen. Das ist nur möglich, wenn der Schüler in Distanz tritt zu seinen lebensaktuellen, alltäglichen Rollen und Erwartungen, also nicht darauf fixiert bleibt. Nicht das Leben bildet, sondern nur die Bildung bildet, nämlich als Versuch, sich die objektive Welt - erforscht durch die Wissenschaften - in ihrem Zusammenhang in direktem Zugang, durch eine bestimmte Tätigkeit des Verstandes, vorzustellen und anzueignen. Der bildende Umgang mit der Welt ist also ein besonderer, der an speziell dafür eingerichteten Orten wie der Schule oder Hochschule eingeübt werden muss. Erst wenn das geschehen ist, verfügt der Mensch auch über das geistige Rüstzeug, seine Alltagserfahrungen - etwa im Beruf - durch entsprechende Reflexionen in seinen Bildungsprozess einzubeziehen.

Deshalb erhält die subjektive Seite der Sache, nämlich die Art und Weise der je persönlichen Aneignung, hier eine herausragende Bedeutung. Im Bildungsprozess, in der geistigen Auseinandersetzung mit der objektiven Welt, soll sich die Innenwelt des Individuums herausbilden, soll der Schüler seine Individualisierung gleichsam selbst produzieren. Der Beitrag des Bildungskonzeptes dazu besteht in seiner eigentümlichen Beziehung von Sache und Person. Es geht dabei nicht um Stoffhuberei, nicht um die bloße Einverleibung einer bestimmten Wissensmenge. Wissen ist hier kein Selbstzweck, sondern ein notwendiges Mittel, um sich zutreffende Vorstellungen über die Welt aufzubauen, damit die Menschen die gesellschaftlichen Partizipationschancen, die sich ihnen bieten, optimal verstehen und nutzen können. Auf die ständige Auseinandersetzung mit der Welt kommt es an, auf eine Konfrontation mit ihr. Immer wieder soll die Differenz zwischen der bisherigen Erfahrung einerseits und den ihr widersprechenden Ansprüchen der Bildungsstoffe andererseits abgearbeitet werden, und diese Ansprüche steigern sich im biographischen Verlauf. In diesem Spannungsverhältnis spielt sich der je individuelle Bildungsprozess ab. Individualisierung meint hier nicht Subjektivität im Sinne des bloßen Meinens, vielmehr geht es um begründbare und argumentationsfähige Ansichten der Welt. Individualisierung in diesem Verständnis beruht auch nicht auf einer bloßen genetischen Vorgabe, als sei sie eine innerpsychische Tatsache, die nur herausgelockt werden müsste. Sie wird vielmehr als Aufgabe verstanden, das Nichtsubjektive, nämlich die außersubjektive Welt, mit ihren Regeln, Strukturen und Gesetzen ernst zu nehmen. Individualisierung erwächst als Resultat aus einem spezifischen geistigen
30

 Prozess, nicht aus bloßer Wahrnehmung von Wahlfreiheit, von Optionen. Die subjektive Seite des Bildungsprozesses bleibt so gebunden an objektive Anforderungen und kann sich auf diese Weise auch etwa mit sozialen und gesellschaftlichen Pflichten verschränken.
 
Bildend ist ein Unterricht also nur dann, wenn er sich nicht auf abfragbares Wissen beschränkt, das wäre Instruktion. Vielmehr geht es darum, den Schülern eine Aneignung zu ermöglichen, die ihrer inneren Vorstellungswelt zugute kommt. Das Verbindungsglied zwischen der subjektiven Innenwelt und der objektiven Außenwelt ist die Fragehaltung. Indem der Schüler Fragen stellt – vor allem auch an sich selbst! - , stellt er eine Verbindung zwischen seiner bisherigen Erfahrung und dem neuen Stoff her. Die Bedeutung dessen, was der Schüler im Unterricht lernt, kann nur er selbst herausfinden, deshalb wirkt ein und derselbe Unterricht unterschiedlich auf die einzelnen Schüler. Der Lehrer kann nur dazu anregen, den Schulstoff entsprechend aufzuarbeiten, indem er etwa zu Fragen und Diskussionen ermutigt. Bildungslernen ist also bereits von sich aus selbsttätiges Lernen, nur wo man sich von der Bildung als Leitmotiv des Schulunterrichts verabschiedet hat, kann man auf den Gedanken kommen, die Selbsttätigkeit des Schülers als eine besonders fortschrittliche Methode eigens inszenieren zu müssen. Der bildende Unterricht muss also Zeit, Nachdenklichkeit und Gelassenheit zugestehen.

Das ist heute keineswegs mehr selbstverständlich. Die subjektive Seite des Bildungsprozesses muss sehr um ihre öffentliche Anerkennung ringen. Sie ist nicht messbar, weshalb allein sie schon als bloße Spekulation gilt. Weil sie nicht messbar ist, ist sie auch nicht so recht verwaltungsfähig, etwa in eine bestimmte Anzahl von Schulstunden umsetzbar. Zudem ist zweifelhaft, ob alle oder auch nur die meisten Schüler sich auf eine innere Auseinandersetzung mit den Schulstoffen wirklich einlassen wollen, also in diesem Sinne bildungswillig sind. Für sich genommen ist jedoch alles, was man lernt, sinnlos, bloße Information; damit daraus Wissen werden kann, muss der Schüler ihm Sinn geben, indem er es in seine bisherigen Erfahrungen und Vorstellungen einbaut und ihm somit eine (seine) Bedeutung verleiht. Die eigentliche Bildungsleistung muss der Schüler selbst erbringen. Das scheint jedoch immer weniger zu geschehen. Vielfach ist zu beobachten, dass das, was man lernt, die Person nicht weiter berührt, im Sinne des "cool-bleiben" von ihr fern gehalten wird; dann bleibt der Schulstoff bloß äußerlich und kann deshalb auch nicht mit Sinn ausgestattet werden. Meinungen zu welchen Fragen auch immer gelten unter Schülern vielfach als gleichberechtigt, als etwas, das man nur zur Kenntnis nehmen kann. Argumentative Bearbeitung von Meinungen ist nicht vorgesehen, gilt fast schon als intolerant. Auf einem solchen Hintergrund bleibt Wissen, wenn es denn über eine aktuelle Prüfungssituation hinaus überhaupt behalten wird, wie eine Häufung bloß auswendig gelernter Informationen unverbunden und persönlich sinnlos nebeneinander stehen. Die schwierigste geistige Leistung eines Schülers, zumal eines Gymnasiasten, besteht also nicht darin, den Stoff zu lernen, sondern darin, die unterschiedlichen Stoffe verschiedener Fächer einschließlich der Methoden der Erkenntnisgewinnung in seiner Vorstellungswelt sinnvoll miteinander zu verknüpfen. Diese Fähigkeit ist unerlässlich für eine Orientierung in unserer komplexen Welt, die zudem noch ständigen Veränderungen unterworfen ist, sowie für eine souveräne und produktive Teilhabe an den beruflichen, kulturellen und politischen Handlungsmöglichkeiten in der Gesellschaft. Die schon erwähnte Schülerfrage: "Wozu brauch' ich das"?, ist in diesem Zusammenhang nicht von Bedeutung. Früher war der Schulunterricht auf die jeweils zu erwartende Lebensperspektive begrenzt - im Hinblick etwa auf das Arbeiter-, Bauern- oder Bildungsbürgermilieu. Solange zu erwarten war, dass das Kind eines
31

 Arbeiters auch wieder Arbeiter wurde, ließ sich das Bildungsangebot didaktisch entsprechend beschränken, das war sogar sinnvoll, weil sonst die Schulbildung lebensfremd geworden wäre. Wenn sich aber erst in der Zukunft entscheidet, in welchem beruflichen und kulturellen Rahmen das Kind sich als Jugendlicher oder Erwachsener bewegen wird, entsteht für seinen Bildungsprozess eine eigentümliche Unschärfe, weil das ja unter unseren gesellschaftlichen Bedingungen niemand im voraus wissen kann. Die Alternative wäre eine "Praxisorientierung" des schulischen Lernens, die morgen durch den Wandel der Verhältnisse schon wieder überholt sein kann. Deshalb ist auch die Frage nach den aktuellen Interessen der Schüler von nur begrenzter Bedeutung. Auch wenn das Gymnasium heute interessengeleitete Schwerpunktbildungen ermöglicht, kann kaum ein Schüler zu jeder Zeit ein gleichmäßig hohes Engagement für die ihm zugemuteten Fächer und Stoffe aufbringen. Dem Konzept der Bildung widerspricht das nicht, vielmehr entsteht gerade daraus eine besondere Herausforderung zur Auseinandersetzung: Auch für das, was einen gerade nicht - aber vielleicht demnächst doch - interessiert, sollen Leistungen erbracht werden - das hält der pädagogische Zeitgeist für bedenklich, obwohl es überall im Berufsleben selbstverständlich ist. Nicht selten zählt hier die Erfahrung, dass der Appetit auch beim Essen kommen kann.

Die Bildungsgeschichte und vor allem die Geschichte des Schulunterrichts zeigt, dass die Bildungsidee von Anfang an zwei Sprengsätze enthielt, die nicht nur pädagogisch, sondern auch politisch-ideologisch für Verunsicherung und deshalb gleichsam für Gegenmaßnahmen sorgten. Die Forderung der Bildung, in Distanz zur Unmittelbarkeit des Lebens zu treten, heißt ja auch, sich zumindest zeitweilig zu emanzipieren von den erzieherischen, sozialisatorischen und sogar politischen Faktoren, die das eigene Leben im Alltag bestimmen. Genau darin bestand und besteht der aufklärerische Sinn des Bildungsprozesses; indem aber die Aufklärung über die Welt dem tatsächlich gelebten Leben Alternativen, andere Möglichkeiten an die Seite stellt, relativiert sie auch Loyalitäten – zu Politikern, Priestern, aber auch Eltern und Lehrern. Das Bildungskonzept ist insofern tendenziell subversiv.
Das gilt auch für den anderen Aspekt, dass es nämlich entscheidend auf die Art der subjektiven Aneignung ankommt. Dadurch wird die Distanz noch verstärkt, weil die Schüler nun zumindest im Rahmen ihrer Innerlichkeit selbst entscheiden, was ihnen z.B. an Werten und Einsichten bedeutsam erscheint und was nicht. Sie können sich so erzieherischen Ansinnen entziehen bzw. diesen mit inneren Vorbehalten entgegentreten.

Kein Wunder also, dass es immer wieder erzieherische Kanalisierungsversuche gegeben hat. Die traditionelle Forderung, der Unterricht müsse stets auch ein "erziehender" sein, verweist auf die Furcht, Bildungsprozesse könnten sich den öffentlich vertretenen und geforderten Erziehungszielen entziehen.
Ist der gebildete Mensch per se auch ein guter?

Bis heute muss sich Bildung dadurch rechtfertigen, dass sie auf ihre erzieherischen Vorteile verweist. Viele politische und weltanschauliche Unsinnigkeiten, die man in der Vergangenheit der humanistischen Bildung insbesondere in Deutschland angelastet hat, gehen in Wahrheit auf das Konto ihrer erzieherischen Domestizierung. Der Gebildete in Deutschland sollte vor dem 1. Weltkrieg kaiser- und staatstreu sein, im Nationalsozialismus eine völkische Gesinnung offenbaren, in der Gegenwart wird von ihm etwa sozialintegrative und multikulturelle Gesinnung erwartet. Man könnte die Geschichte der modernen Bildung geradezu unter diesem Aspekt erzieherischer Fremdbestimmung schreiben und erzählen.

Bildung wird in diesem Verständnis gleichsetzt mit einer bestimmten Gesinnung und folglich mit einer bestimmten moralischen
32

 Qualität der Person. Der gebildete Mensch ist demnach per se auch ein guter Mensch, umgekehrt kann der böse Mensch nicht gebildet sein.

Aber Bildung ist keine Garantie für Gutmenschentum, sie kann moralisch in der einzelnen Person genauso scheitern wie die Erziehung. Bildung ist nicht mehr als eine Hoffnung auf Humanität, ob diese zum Zuge kommt, hängt nicht vom pädagogischen Konzept selbst ab, sondern weitgehend davon, ob Recht und Politik die entsprechenden Werte stützen und schützen.

Wer sich bildend mit der Welt beschäftigen will, muss sich gewiss bestimmten erzieherisch zu verstehenden Implikationen fügen: Er muss eine gewisse Disziplin aufbringen, kooperativ mit anderen umgehen, sich tolerant und gewaltfrei gegenüber anderen Meinungen verhalten, seine eigenen der Argumentation anderer Menschen öffnen, sonst wird daraus nichts. Aber darüber hinausgehende erzieherische Ansprüche müssen anders begründet werden, nämlich mit der Notwendigkeit sozialer und gesellschaftlicher Normen und Regeln. Solche Begründungen haben ihren eigenen Sinn und ihre eigene Dignität, aber sie gelten auch ohne die Ansprüche der Bildung. Erziehung ist immer nötig, Bildung dagegen, insbesondere Bildung für alle, ist eine Zutat, die sich eine Gesellschaft erst einmal leisten können und die sie auch wollen muss. Höchstmögliche Bildung für alle kostet viel Geld, und ihr wirtschaftlicher Nutzen ist durchaus umstritten.
Die demokratischen Tendenzen des Bildungsbegriffs, dass er nämlich prinzipiell für alle gilt, werden sich erst dann durchgesetzt haben, wenn die aufklärende Bildung sich von den ihr äußerlichen erzieherischen Attitüden emanzipiert hat, Bildung also als ein pädagogischer Selbstzweck verstanden wird, der keiner anderen Rechtfertigung mehr bedarf.

Die Bildungsidee ist die einzige wirklich moderne pädagogische Idee für eine Gesellschaft, deren Zukunft offen ist und die von solchen Menschen gestaltet werden muss, deren geistiger Horizont über den unmittelbaren ökonomischen Verwertungszusammenhang hinausreicht, ohne diesen zu verleugnen. Das Gymnasium ist dazu da, diese pädagogische Idee wieder zeitgemäß zu rekonstruieren, sie umzusetzen und durch sein Vorbild dazu beizutragen, dass sie auch das übrige Bildungswesen von der Grundschule an wieder befruchtet.

1  Jürgen Baumert/ Peter Martin Roeder/ Rainer Watermann: Das Gymnasium - Kontinuität im Wandel. In: Kai S. Cortina/Jürgen Baumert/Achim Leschinsky/Karl Ulrich Mayer/Luitgard Trommer (Hg.): Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland. Strukturen und Entwicklungen im Überblick. Reinbek 2003, S. 487-524, hier S. 487
2 ebenda S. 489
3 Olaf Koller/Jürgen Baumert: Das Abitur - immer noch ein gültiger Indikator für die Studierfähigkeit? In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 26 / 2002, S. 12-19, hier S. 15
4 Wilhelm von Humboldt: Bericht der Sektion des Kultus und Unterrichts. 1. Dezember 1809, in: Wilhelm von Humboldt: Studienausgabe in 3 Bänden, hrsg. von Kurt Müller-Vollmer, Bd. 2., Frankfurt 1971, S. 144 f.
33

URL dieser Seite: www.hermann-giesecke.de/gymnas.html